Urteil des EuGH zur Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen

Der EuGH hat auf Vorlage des BFH (XI R 11/09 vom 10.11.2010) zu Art. 28c Teil A Buchst. a Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 entschieden, dass er es der Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats nicht verwehrt ist, die Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung davon abhängig zu machen, dass der Lieferer die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Erwerbers mitteilt. Dies gilt allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Steuerbefreiung durch den Mitgliedstaat nicht allein aus dem Grund verweigert wird, dass die Verpflichtung zur Angabe einer Umsatzsteuer-Identifikationsnummer nicht erfüllt worden ist. Sofern der Lieferer nicht in betrügerischer Absicht gehandelt hat, er trotz der Tatsache, dass er alle ihm zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, die Identifikationsnummer seines Abnehmers nicht mitteilen kann und er außerdem Angaben macht, die hinreichend belegen können, dass der Erwerber ein Steuerpflichtiger ist, der bei dem betreffenden Vorgang als solcher gehandelt hat, steht die fehlende Umsatzsteuer-ID der Annahme einer innergemeinschaftlichen Lieferung nicht entgegen.

Sachverhalt

Das Vorabentscheidungsverfahren ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der VSTR Vogtländische Straßen-, Tief- und Rohrleitungsbau GmbH Rodewisch (VSTR) und dem Finanzamt Plauen wegen dessen Weigerung, eine von einer Tochtergesellschaft von VSTR (VSTR-Tochter) durchgeführte Lieferung von Gegenständen von der Mehrwertsteuer zu befreien.

Im November 1998 verkaufte eine in Deutschland ansässige VSTR-Tochter zwei Steinzerkleinerungsmaschinen an die Atlantic International Trading Co. (Atlantic) mit Sitz in den Vereinigten Staaten. Atlantic hatte eine Niederlassung in Portugal, war aber in keinem Mitgliedstaat für Mehrwertsteuerzwecke registriert. Die VSTR-Tochter forderte Atlantic auf, ihr ihre Umsatzsteuer-Identifikationsnummer mitzuteilen. Atlantic gab daraufhin an, die Maschinen an ein in Finnland ansässiges Unternehmen veräußert zu haben, und teilte der VSTR-Tochter die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer dieses Unternehmens mit, die die VSTR-Tochter auf ihre Richtigkeit überprüfte. Die Gegenstände wurden sodann von einer von Atlantic beauftragten Spedition bei der VSTR-Tochter abgeholt, um auf dem Landweg nach Lübeck (Deutschland) verbracht und nach Finnland verschifft zu werden.

Über die Lieferung der Steinzerkleinerungsmaschinen stellte die VSTR-Tochter auf den Namen von Atlantic und unter Angabe der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des finnischen Endkunden eine Rechnung ohne Mehrwertsteuer aus.

Das Finanzamt Plauen war jedoch der Auffassung, dass die Lieferung zwischen der VSTR-Tochter und Atlantic nicht von der Mehrwertsteuer befreit werden könne, da die VSTR-Tochter nicht die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer von Atlantic angegeben habe.

Das Sächsische Finanzgericht wies in erster Instanz die gegen diese Entscheidung des Finanzamts Plauen gerichtete Klage von VSTR ab. VSTR legte daraufhin Revision beim Bundesfinanzhof ein. Das Finanzamt vertritt die Auffassung, die Mitgliedstaaten könnten, ohne gegen Unionsrecht zu verstoßen, die Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung von der Bedingung abhängig machen, dass der Erwerber in einem Mitgliedstaat über eine Umsatzsteuer-Identifikationsnummer verfüge.

Der Bundesfinanzhof stellt fest, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Geschäft zu zwei aufeinanderfolgenden Lieferungen geführt habe: die erste von der VSTR-Tochter an Atlantic, die zweite von Atlantic an das finnische Unternehmen (sog. Reihengeschäft). Nach Auffassung des BFH war hier fraglich, ob es die Sechste Richtlinie den Mitgliedstaaten erlaube, eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung nur dann anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Erwerbers buchmäßig nachweist. Dabei stellt sich weiterhin die Frage, ob es für die Antwort auf diese Frage von Bedeutung ist, ob es sich bei dem Erwerber um einen in einem Drittland ansässigen Unternehmer handelt, der zwar den Gegenstand der Lieferung im Rahmen eines Reihengeschäfts von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat versendet hat, aber in keinem Mitgliedstaat umsatzsteuerrechtlich registriert ist, und ob der Steuerpflichtige die Abgabe einer Steuererklärung über den innergemeinschaftlichen Erwerb durch den Erwerber nachgewiesen hat?

Entscheidung des EuGH

Nach Auffassung des EuGH versteht man unter einer innergemeinschaftlichen Lieferung im Sinne der mehrwertsteuerlichen Regelungen die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer oder durch den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb eines Mitgliedstaats, aber innerhalb der Union versandt oder befördert werden, wenn diese Lieferungen an einen anderen Steuerpflichtigen bewirkt wird, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns des Versands oder der Beförderung der Gegenstände handelt.

Eine der Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferungen ist damit die Eigenschaft als Steuerpflichtiger. Allerdings verlangen es die Vorschriften der Sechsten Richtlinie nicht, dass der Erwerber unter einer Umsatzsteuer-Identifikationsnummer tätig wird. Es würde nach Ansicht des EuGH auch unter Berücksichtigung der bisher ergangenen Rechtsprechung über das hinausgehen, was erforderlich ist, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen, wenn das Recht auf Mehrwertsteuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung im Wesentlichen von der Einhaltung formeller Pflichten abhängig gemacht würde, ohne die materiellen Anforderungen zu berücksichtigen und insbesondere ohne in Betracht zu ziehen, ob diese erfüllt sind.

Vielmehr erfordere der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass die Mehrwertsteuerbefreiung gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat. Anders verhält es sich nur, wenn der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden. Dies gilt allerdings unter dem Vorbehalt, dass sich der Lieferer nicht vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt hat.

Daher kann zwar ein Mitgliedstaat einem Lieferer von Gegenständen vorschreiben, dass er den Beweis erbringt, dass der Erwerber ein Steuerpflichtiger ist, der als solcher in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns des Versands oder der Beförderung der betreffenden Gegenstände handelt. Der EuGH stellt klar, dass das Vorliegen einer Umsatzsteuer-Identifikationsnummer eng mit der Steuerpflichteigenschaft verknüpft ist.

Allerdings kann nach Auffassung des EUGH der Beweis, dass der Erwerber Steuerpflichtiger ist, nicht in allen Fällen ausschließlich von der Mitteilung der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer abhängig gemacht werden. Nach der Definition in Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie gilt als Steuerpflichtiger bereits, wer eine der in Abs. 2 dieses Artikels genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis. Auch wenn die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer folglich dem Nachweis des steuerlichen Status des Steuerpflichtigen dient und die Kontrolle innergemeinschaftlicher Umsätze erleichtert, handelt es sich doch nur um ein formelles Erfordernis, das den Anspruch auf Mehrwertsteuerbefreiung nicht in Frage stellen kann, sofern die materiellen Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung erfüllt sind.

Insofern kann von einem Lieferer zwar verlangt werden, dass er redlich ist und alle ihm zumutbaren Maßnahmen ergreift, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt. Die Mitgliedstaaten würden nach Ansicht des EUGH aber über die Maßnahmen hinausgehen, die für eine ordnungsgemäße Steuererhebung unbedingt erforderlich sind, wenn sie bei einer innergemeinschaftlichen Lieferung die Mehrwertsteuerbefreiung allein deshalb verweigern würden, weil der Lieferer die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer nicht mitgeteilt hat, wenn dieser aber andere Angaben macht, die hinreichend belegen können, dass der Erwerber ein Steuerpflichtiger ist, der bei dem betreffenden Vorgang als solcher gehandelt hat.

Im Ausgangsverfahren Fall hatte der Lieferer, die VSTR Tochter, den Abnehmer Atlantic um deren Identifikationsnummer ersucht hat und Atlantic, die keine besaß, ihm die Identifikationsnummer des finnischen Endkunden mitgeteilt hat. Zum einen kann der EuGH hier kein offensichtliches betrügerisches Handeln der Beteiligten feststellen und er geht davon aus, dass die in Rede stehende Lieferung Gegenstände betrifft, die ihrer Art nach dafür bestimmt zu sein scheinen, im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit genutzt zu werden. Die Tatsache, dass es sich bei dem Ersterwerber der Gegenstände um ein nicht in der Europäischen Union ansässiges Unternehmen handelt, vermag nach Ansicht des EuGH keine andere Antwort rechtfertigen.

Quelle: Curia - Gerichtshof der Europäischen Union