EuGH zur Entstehung der Zollschuld bei Beförderung von Waren über einen Freihafen und Nichtgestellung der Waren

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 18.05.2017, C-154/16

[Vorbemerkung: Zollkodex in der durch die Verordnung (EG) Nr. 648/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 geänderten Fassung]

Praxisproblem

Bei dem Vorabentscheidungsersuchen des lettischen Obersten Gerichtshofs vom 09.03.2016 ging es um die Frage der Entstehung von Einfuhrzoll und EUSt für den Fall, dass ein Teil der Warenmenge im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren verlustig geht. Das Vorlagegericht wollte wissen, ob der Anwendungsbereich des Art. 203 Abs. 1 ZK einerseits oder derjenige der Art. 204 Abs. 1  a), 206 ZK andererseits eröffnet ist. Für den Fall, dass die Anwendbarkeit der Art. 204 Abs. 1 a), 206 ZK bejaht würde, fragt das Gericht den EuGH ferner, ob dann auch die MwSt nach Art. 2 Abs. 1 d), Art. 70 und 71 MwStSysRL entsteht. Im Übrigen ging es um die gesamtschuldnerische Haftung für die Zollschuld.

Sachverhalt

Im Rechtsstreit standen sich die lettische LDz – eine staatliche Aktiengesellschaft – und die lettische Steuerverwaltung VID gegenüber. Am 25.02.2011 überführte die LDz mehrere Kesselwagen mit Lösungsmitteln unter Vorlage eines Eisenbahnfrachtbriefs in das externe gemeinschaftliche Versandverfahren i. S. v. Art. 91 ZK. Der Transport erfolgte durch den Warenführer, die Firma BTS. Bestimmungsort war die Zollkontrollstelle im lettischen Hafenort Ventspils. Im Laufe des Transports durch das lettische Hoheitsgebiet wurde ein Leck an der unteren Entladevorrichtung eines Kesselwagens festgestellt. Infolgedessen wurden am 28.02.2011 und 01.03.2011 Protokolle über Schäden am nämlichen Kesselwagen, Schadensbeseitigungsmaßnahmen, den technischen Zustand des Kesselwagens und die Fehlmenge der Ware erstellt. Die Fehlmenge wurde im Protokoll vom 01.03.2011 mit 2.448 kg beziffert. Diese Fehlmenge stellte auch die Zollstelle am Bestimmungsort mit Datum 10.03.2011 fest. Als Ursache für das Entweichen des Lösungsmittels wurde vermerkt, dass der nämliche Kesselwagen nicht richtig verschlossen oder aber beschädigt gewesen sei. Zu einer entlastenden Beweisführung oder der Beibringung entsprechender Dokumente durch die LDz kam es nicht.

Infolgedessen erließ die VID einen Bescheid über Zollschuld und Mehrwertsteuerschuld. Die LDz focht diesen Bescheid zwar an, sah sich aber nach Bestätigung des Bescheids durch die VID vom 16.09.2011 zur Klageerhebung gerichtet auf Nichtigerklärung des Bescheids vor dem Bezirksverwaltungsgericht Lettland gezwungen. Zur Begründung ihrer Klage brachte die LDz vor, es gebe mehrere Personen als Gesamtschuldner für die Zollschuld: Namentlich der Warenführer und die Protokollanten könnten haftbar gemacht werden. Zudem handele es sich bei dem Verlust der Ware um Zufall oder höhere Gewalt, was berücksichtigt werden müsse. Das Bezirksverwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 06.08.2013 jedoch ab. Die dagegen eingelegte Berufung seitens der LDz wies sodann das Regionale Verwaltungsgericht Lettland mit Urteil vom 08.12.2014 zurück. Die hierauf gerichtete Kassationsbeschwerde erreichte schließlich den Obersten Gerichtshof Lettlands (Senat für Verwaltungsstreitsachen).

Entscheidung

Der Oberste Gerichthof Lettlands wollte vom EuGH zunächst wissen, ob Art. 203 Abs. 1 ZK auch anwendbar ist, wenn im Rahmen eines externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens nicht die gesamte Ware gestellt wird, obgleich der Verlust der Ware nachgewiesen werden kann. Art. 203 Abs. 1 ZK regelt die Entstehung der Einfuhrzollschuld für den Fall, dass eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.

Der EuGH antwortete, dass Art. 203 Abs. 1 ZK bereits deshalb nicht zur Anwendung gelangen könne, weil es die Ratio der Norm sei, den Wirtschaftskreislauf der Union vor unverzollten Waren zu schützen. Bei endgültigem Verlust der Ware sei das spätere Gelangen in den Wirtschaftskreislauf der Union aber nicht zu besorgen.

Sodann wollte das Vorlagegericht wissen, ob nunmehr Art. 204 Abs. 1 a) und Art. 206 ZK anzuwenden seien. Dies hätte zur Folge, dass der verlustig gegangene Teil der Ware nicht in die Berechnung der Zollschuld einbezogen würde. Der EuGH bejahte die Anwendbarkeit von Art. 204 ZK, weil kein Fall des Art. 203 ZK vorläge und der Ausschlussgrund in Art. 204 Abs. 1 ZK somit nicht greife. Ferner sei auch nicht von einer ordnungsgemäßen Gestellung i. S. v. Art. 204 Abs. 1 a) i. V. m. Art. 96 Abs. 1 a) ZK auszugehen, da die Ware aufgrund der Fehlmenge nicht unverändert sei. Grundsätzlich sei die Einfuhrzollschuld daher entstanden. Anschließend zog der EuGH den in Art. 206 Abs. 1 ZK enthaltenen Ausschlusstatbestand des Verlusts infolge Zufall oder höherer Gewalt in Betracht, welcher die Einfuhrzollschuld aus § 204 Abs. 1 a) ZK zu Fall bringen kann. Dabei mahnt der EuGH zu einer restriktiven Handhabe und führt aus, dass jedenfalls ein unsachgemäßes Verschließen der Entladevorrichtung kein ungewöhnliches und von außen kommendes Ereignis, sondern ein Sorgfaltspflichtverstoß des Wirtschaftsteilnehmers sei. Auf ein solches ungewöhnliches äußeres Ereignis komme es aber neben einem subjektiven Moment an. Im Ergebnis sei es jedoch Aufgabe des nationalen Gerichts zu ermitteln, ob im Einzelfall atypische Umstände vorgelegen hätten.

Die dritte Vorlagefrage betrifft die MwSt: Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 2 Abs. 1 d) sowie Art. 70 und 71 MwStSysRL die Entstehung der MwSt auf den verlustig gegangenen Teil der Ware im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren gebieten. Art. 2 Abs. 1 d) MwStSysRL unterwirft die Einfuhr von Gegenständen der MwSt. Art. 70 MwStSysRL regelt die Entstehung des Steueranspruchs zum Zeitpunkt der Einfuhr. Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSysRL trifft eine Aussage für den Sonderfall des externen Versandverfahrens: Die Steuer entsteht danach erst zu dem Zeitpunkt, zu dem die Ware nicht mehr dem Versandverfahren unterliegt. Der EuGH leitet aus dem Charakter der MwSt als Verbrauchsteuer dann die Notwendigkeit einer Verbrauchsmöglichkeit ab. Im Falle des endgültigen Verlusts sei diese jedoch ausgeschlossen. Insofern sieht der EuGH bereits Art. 2 Abs. 1  d) MwStSysRL nicht als erfüllt an. Es handele sich um keine Einfuhr im dortigen Sinne. Zu einer Entstehung der MwSt komme es hier folglich nicht.

Im Anschluss nimmt der EuGH noch Stellung zur vierten und fünften Vorlagefrage, die sich auf die Haftung des Hauptverpflichteten (hier die LDz) und die Frage der Gesamtschuldnerschaft beziehen. Hierzu führt das Gericht aus, dass die Haftung des Hauptverpflichteten für die entstandene Zollschuld unabhängig von der Pflichtverletzung des Warenführers bestehe. Ferner bestehe auch kein Anspruch des Hauptverpflichteten dergestalt, dass die Zollverwaltung den Warenführer als anderen Gesamtschuldner vorrangig in Anspruch nehmen müsse.

Auf die Frage, ob noch andere Personen in die Gesamtschuldnerschaft einbezogen sein könnten und wie sich ein Irrtum der Zollverwaltung über die Stellung als Gesamtschuldner auswirke, brauchte der EuGH nicht mehr eingehen.

Praxishinweis

Der EuGH hat die Unanwendbarkeit des Art. 203 Abs. 1 ZK für den endgültigen Verlust eines Teils der Ware festgestellt.

Stattdessen ist Art. 204 Abs. 1 a) ZK in diesen Fällen zur Anwendung zu bringen. Zu prüfen ist jedoch stets, ob nicht ein Ausnahmetatbestand vorliegt. Im konkreten Fall ging es um den Zufall und die höhere Gewalt in Art. 206 Abs. 1 ZK. Beide Elemente seien restriktiv zu handhaben, so der EuGH. Jedenfalls komme es auf ein ungewöhnliches, außerhalb der Sphäre des Betroffenen liegendes Ereignis an (objektives Moment). Zudem ist der Betroffene aus Sicht des EuGH verpflichtet, geeignete Abwendungsmaßnahmen zu treffen (subjektives Moment).

Bezüglich der MwSt hat der EuGH deutlich gemacht, dass endgültig verloren gegangene Waren nicht mehr verbraucht werden können und somit auch nicht geeignet sind, die Mehrwertsteuerentstehung zu legitimieren.

Insoweit knüpft der EuGH an sein Urteil vom 02.06.2016, C-226/15, Eurogate/DHL, an. Auch dort wurde eine Mehrwertsteuerentstehung trotz Zollschuldentstehung nach Art. 204 Abs. 1 a) ZKabgelehnt. Hinsichtlich der Gesamtschuldnerschaft verweist der EuGH in Rz. 85 und 90 zu Recht auf die Grundzüge dieses Rechtsinstituts: Bei der Gesamtschuldnerschaft haftet jeder Schuldner dem Gläubiger in voller Höhe. Der Gläubiger ist frei in der Wahl seines Schuldners. Der Inanspruchgenommene kann Regress bei den anderen Gesamtschuldnern nehmen.

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