Vorsteuern aus Anzahlungsrechnungen ohne spätere Leistungserbringung

Praxisproblem

Mit Urteil vom 05.12.2018, XI R 44/14, hatte der BFH seine Nachfolgeentscheidung zum Urteil des EuGH vom 31.05.2018 zu den verbundenen Rechtssachen C-660/16 und C-661/16, Kollroß und Wirtl, getroffen. Der BFH gewährte dem Kläger den Vorsteuerabzug aus der Anzahlung eines im Rahmen eines betrügerischen „Schneeballsystems“ nicht gelieferten Blockheizkraftwerks. Der BFH hatte entschieden, dass der Vorsteuerabzug aus einer geleisteten Vorauszahlung dem Erwerber eines Blockheizkraftwerks nicht zu versagen sei, wenn zum Zeitpunkt seiner Zahlung die Lieferung sicher erschienen sei, weil alle maßgeblichen Elemente der zukünftigen Lieferung als ihm bekannt angesehen werden konnten und anhand objektiver Umstände nicht erwiesen sei, dass er zu diesem Zeitpunkt gewusst habe oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass die Bewirkung dieser Lieferung unsicher gewesen sei. Zur Frage der Sicherheit der Bewirkung der Lieferung in Fällen der Voraus- bzw. Anzahlung sei nach der EuGH-Rechtsprechung auf den Zeitpunkt der Leistung dieser Anzahlung abzustellen. Es reiche aus, wenn anhand objektiver Umstände nicht erwiesen sei, dass der Anzahlende zum Zeitpunkt der Leistung der Anzahlung gewusst habe oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass die Bewirkung der Lieferung oder Erbringung der Dienstleistung ungewiss sei.

Da eine Unsicherheit über die ausstehende Leistungserbringung zu verneinen sei, liege ein erfüllter Steuerentstehungstatbestand nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 4 UStG (Art. 65 MwStSystRL) vor, der gem. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 3 UStG (Art. 167 MwStSystRL) zum Vorsteuerabzug berechtige. In diesem Fall sei die zum Vorsteuerabzug berechtigende Steuer beim vermeintlich Leistenden, der die Vorauszahlung vereinnahmt habe, entstanden. Auf die Frage einer Steuerschuld nach § 14c Abs. 2 Satz 2 UStG (Art. 203 MwStSystRL) komme es danach nicht an.

Sachverhalt

Der BFH hatte in der Sache V R 11/19 über einen weiteren vergleichbaren Sachverhalt der Nichtlieferung eines angezahlten Blockheizkraftwerks zu entscheiden.

Entscheidung

Der BFH hat bekräftigt, dass der Vorsteuerabzug aus einer (Voraus- oder) Anzahlungsrechnung nicht davon abhängt, ob der Zahlungsempfänger im Zahlungszeitpunkt die Leistung objektiv erbringen kann und ob er das will. Es reicht vielmehr aus, wenn anhand objektiver Umstände nicht erwiesen ist, dass der (Voraus- oder) Anzahlende zum Zeitpunkt der Zahlung wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass die Bewirkung der Lieferung oder Erbringung der Dienstleistung ungewiss ist. Entgegen der Auffassung des FA handelt es sich nicht um einen unberechtigten Steuerausweis i. S. v. § 14c Abs. 2 Satz 2 UStG, für den der Vorsteuerabzug mangels gesetzlicher Steuerschuld für eine Leistung nicht in Anspruch genommen werden kann. Denn ist eine Unsicherheit über die ausstehende Leistungserbringung zu verneinen, entsteht die Steuer aufgrund der Zahlung nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 4 UStG (Art. 65 MwStSystRL) und berechtigt gem.§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 3 UStG (Art. 167 MwStSystRL) zum Vorsteuerabzug.

 

Praxishinweis

Die Finanzverwaltung ist in diesen Verfahren letztlich mit der Argumentation gescheitert, die Anzahlungsrechnung über das (später nicht gelieferte Blockheizkraftwerk) als Rechnung nach § 14c Abs. 2 UStG anzusehen, weil von vornherein die Absicht bestand, das Blockheizkraftwerk nicht zu liefern.

Insgesamt ist das EuGH-Urteil v. 31.05.2018, C-660/16 und C-661/16, Kolroß und Wirtl, in einer Reihe gleichgerichteter Urteile zu sehen, mit denen der EuGH gutgläubige Unternehmer schützt und nur bei einem „wusste oder hätte wissen müssen“ (bzw. in der Formulierung in dem Urteil Kolroß und Wirtl: „gewusst hat oder vernünftigerweise hätte wissen müssen“) von einer Unregelmäßigkeit nachteilige Konsequenzen gegen ihn zulässt. Es dürfte auch kein Widerspruch zwischen den Urteilen Kolroß und Wirtl und SGI und Valérian (EuGH-Urt. v. 27.06.2018, C-459/17 und C-460/17) bzw. Kreuzmayr (EuGH-Urt. v. 21.02.2018, C-628/16) bestehen. Denn während bei Kolroß und Wirtl zum für den Vorsteuerabzug maßgeblichen Zeitpunkt (Zahlung nach Ausstellung der Anzahlungsrechnung) der Rechnungsempfänger keinen Hinweis auf Unregelmäßigkeiten hatte und haben konnte, lag der Sachverhalt in den Entscheidungen SGI und Valérian sowie Kreuzmayr anders. Zu den dort maßgeblichen Zeitpunkten (Ausstellung der Rechnung bei oder nach der - angeblichen - Leistungserbringung) lagen auch für den Rechnungsempfänger (SGI, Valérian bzw. Kreuzmayr) ersichtliche Hinweise auf Unregelmäßigkeiten vor (bei SGI und Valérian vorwerfbare Sorgfaltspflichtverletzungen - Rz. 16 und 17 des Urteils -, bei Kreuzmayr eigene Abholung der Ware durch den letzten Unternehmer im Reihengeschäft). Die Rechtsprechung Kolroß und Wirtl ist also als Ergänzung für den Sonderfall einer Anzahlungsrechnung zu sehen.

Aus der BFH-Rechtsprechung entsteht eine Diskrepanz zwischen den Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs aus einer Rechnung für eine bereits erfolgte Leistung (Regelfall) und aus einer Anzahlungsrechnung (Sonderfall). Im Regelfall hat der Unternehmer, der den Vorsteuerabzug geltend macht, die Leistungserbringung nachzuweisen. Ggf. kann ihm von der Finanzverwaltung eine Sorgfaltspflichtverletzung („hätte wissen müssen“) vorgeworfen werden, die zur Versagung des Vorsteuerabzuges führt. Dabei kann der objektive Umstand „Leistungserbringung“ kontrolliert und ggf. - mit den in der Praxis üblichen Schwierigkeiten - widerlegt werden. Dies zeigt auch die Rechtsprechung in den Entscheidungen SGI und Valérian sowie Kreuzmayr.

Im Sonderfall der Anzahlungsrechnung fehlt es nach dem EuGH-Urteil Kolroß und Wirtl an objektiv nachprüfbaren äußeren Tatsachen. Zwar ist auch hier grds. durch den Nachweis eines „wusste oder hätte wissen müssen“ eine Vorsteuerversagung möglich. Jedoch liegt wegen der erst in der Zukunft liegenden Leistungserbringung zum maßgeblichen Zeitpunkt ausschließlich ein innerer Umstand vor, der einer objektiven Überprüfung weitgehend entzogen sein dürfte. In der Praxis dürfte es für die Finanzverwaltung äußerst schwer sein, bei solch einem inneren Umstand zum maßgeblichen Zeitpunkt (Anzahlungsrechnung und Zahlung) zumindest ein „hätte wissen müssen“ von einem zukünftigen Betrug gerichtsfest nachzuweisen. Dies belegt auch die Entscheidung des BFH im Urteil vom 05.12.2018, XI R 44/14, wonach bloße Anzeichen für einen Anlagebetrug kein „hätte wissen müssen“ begründen können.

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