EuGH zur Minderung der USt-Bemessungsgrundlage für Arzneimittellieferungen bei Rabattgewährung ggb. privaten Krankenversicherungen

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 20.12.2017, C-462/16, Boehringer Ingelheim Pharma GmbH & Co. KG

Sachverhalt

Beim Vorabentscheidungsersuchen des BFH v. 22.06.2016, V R 42/15, ging es um die Vorschriften der MwStSystRL zur Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage unter Berücksichtigung des unionsrechtlichen Grundsatzes der Gleichbehandlung.

Im Verfahren war die Höhe der Bemessungsgrundlage für Arzneimittellieferungen streitig, die die Klägerin im Streitjahr 2011 über Großhändler an Apotheken getätigt hatte. Der BFH wollte wissen, ob die Zahlungen, die die Klägerin aufgrund gesetzlicher Vorschriften an private Krankenkassen und Träger der Beihilfe und Heilfürsorge leistete, zu einer Minderung der Bemessungsgrundlage für die getätigten Arzneimittellieferungen führen. Die Frage stellte sich vor dem Hintergrund, dass ähnliche Zahlungen an gesetzliche Krankenkassen die Bemessungsgrundlage mindern.

Die Klägerin ist ein pharmazeutisches Unternehmen, das Arzneimittel herstellt und diese mehrwertsteuerpflichtig an Großhändler liefert, die ihrerseits Apotheken beliefern. Die Apotheken geben die Arzneimittel sowohl an gesetzlich Krankenversicherte als auch an privat Krankenversicherte ab.

Soweit die Apotheken Arzneimittel an gesetzlich Krankenversicherte abgeben, erfolgt dies aufgrund eines Rahmenvertrags mit dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen. Die Lieferungen erfolgen aufgrund des im SGB V verankerten sozialversicherungsrechtlichen Sachleistungsprinzips an die gesetzlichen Krankenkassen, die die Arzneimittel ihren Versicherten zur Verfügung stellen. Die Aushändigung der Arzneimittel erfolgt dabei direkt durch die Apotheken an die gesetzlich Versicherten.

Die Apotheken gewähren den gesetzlichen Krankenkassen einen Abschlag auf den Arzneimittelpreis, den die Klägerin als pharmazeutisches Unternehmen aufgrund der gesetzlichen Vorschriften des SGB V den Apotheken oder – bei Einschaltung von Großhändlern – den Großhändlern erstatten muss. Nach geltender Verwaltungsauffassung führt dieser Abschlag zu einer Minderung der Bemessungsgrundlage für die an die Apotheken bzw. Großhändler getätigten Lieferungen.

Soweit die Apotheken Arzneimittel an privat Krankenversicherte ausgeben, erfolgt dies aufgrund von Einzelverträgen mit diesen Personen. Die Unternehmen der privaten Krankenversicherung sind weder Vertragspartner der Apotheken noch Abnehmer der Arzneimittel, sondern erstatten den Versicherten lediglich die entstandenen Kosten entsprechend den Vorgaben des VVG bzw. BBG. Gleiches gilt im Hinblick auf Beihilfeberechtigte bzw. Träger der Beihilfe und Heilfürsorge nach den Vorgaben des BBG.

Für Arzneimittellieferungen an privat Krankenversicherte bzw. Beihilfeberechtigte muss die Klägerin den Unternehmen der privaten Krankenversicherung bzw. Trägern der Beihilfe und Heilfürsorge gem. den Vorgaben des AMRabG einen Abschlag auf die Arzneimittelpreise gewähren. Dieser Abschlag führt nach geltender Verwaltungsauffassung nicht zu einer Minderung der Steuerbemessungsgrundlage für die an die Apotheken bzw. Großhändler getätigten Lieferungen.

Die Klägerin begehrte dagegen auch eine Minderung der Bemessungsgrundlage für getätigte Arzneimittellieferungen an Großhändler um die Abschläge, die sie den Unternehmen der privaten Krankenversicherung bzw. Trägern der Beihilfe und Heilfürsorge gewährt hatte. Das FA hatte diese Minderung der Bemessungsgrundlage nicht anerkannt.

Entscheidung

Der Generalanwalt hatte sich in seinen Schlussanträgen v. 11.07.2017 für eine Entgeltminderung bei den Arzneimittellieferungen ausgesprochen, für die private Krankenversicherungen die Kosten erstatten und damit der Tatbestand des gesetzlichen Preisabschlags ausgelöst wird. Der EuGH ist im Ergebnis den Schlussanträgen gefolgt. Nach dem Urteil muss die Bemessungsgrundlage von dem Betrag gebildet werden, der dem Preis entspricht, zu dem die Klägerin die Arzneimittel an die Apotheken verkauft hat, abzgl. des Abschlags, der gegenüber den Unternehmen der privaten Krankenversicherung anfällt, wenn diese ihren Versicherten deren Kosten für den Bezug der Arzneimittel erstattet haben. Die Anwendbarkeit von Art. 90 Abs. 1 MwStSystRL setzt keine nachträgliche Änderung der Vertragsbeziehungen voraus. Die Regelung verpflichtet die Mitgliedstaaten grundsätzlich dazu, die Bemessungsgrundlage jedes Mal dann zu vermindern, wenn der Unternehmer nach Tätigen des Umsatzes die ihm zustehende Gegenleistung nicht vollständig vereinnahmen kann.

Praxishinweis

Die von pharmazeutischen Unternehmen nach § 1 AMRabG gezahlten Abschläge hätten aufgrund der bisherigen EuGH-Rechtsprechung (EuGH, Urt. v. 24.10.1996, Elida Gibbs, C-317/94 und EuGH, Urt. v. 16.01.2014, Ibero Tours, C-300/12) nicht zu einer Minderung der Bemessungsgrundlage für die von ihnen getätigten Arzneimittellieferungen führen können.

Nach Art. 73 MwStSystRL ist Besteuerungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen. Hinsichtlich der Auswirkungen von Rabatten auf die Bemessungsgrundlage enthält Art. 79 Buchst. b MwStSystRL die Regelung, dass Rabatte auf den Preis, die dem Erwerber oder Dienstleistungsempfänger eingeräumt werden und die er zu dem Zeitpunkt erhält, zu dem der Umsatz bewirkt wird, nicht in die Steuerbemessungsgrundlage einzubeziehen sind. Rabatte, die an Dritte gezahlt werden, sind hier – anders als Zahlungen von Dritten in Art. 73 MwStSystRL – nicht genannt.

Ergänzend zu den Regelungen über die Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage enthält Art. 90 MwStSystRL eine Regelung über die Berücksichtigung nachträglicher Änderungen. Danach wird im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.

Eine Gegenleistung i. S. v. Art. 73 MwStSystRL liegt nach ständiger EuGH-Rechtsprechung nur dann vor, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der erbrachten Leistung und der erhaltenen Gegenleistung besteht. Besteuerungsgrundlage ist die vom Steuerpflichtigen tatsächlich erhaltene Gegenleistung, die den subjektiven, nämlich tatsächlich erhaltenen Wert und nicht einen nach objektiven Kriterien geschätzten Wert darstellt. Artikel 73 MwStSystRL ist in Übereinstimmung mit dem Grundprinzip der Richtlinie anzuwenden, nach dem nur der Endverbraucher durch das Mehrwertsteuersystem belastet werden soll (vgl. EuGH, Urt. v. 07.11.2013, Tulică und Plavoşin).

Entscheidend ist das Bestehen einer Vereinbarung zwischen den Parteien über einen Austausch gegenseitiger Leistungen, wobei das Entgelt, das die eine Partei erhält, den tatsächlichen Gegenwert des dem anderen geleisteten Umsatzes darstellt (vgl. EuGH, Urt. v. 15.5.2001, Primback, C-34/99).

In diesem Zusammenhang hätte beachtlich sein können, dass die Gegenleistung, die die Klägerin von ihren unmittelbaren Abnehmern, den Großhändlern für die von ihr getätigten Arzneimittellieferungen erhält, der von den Großhändlern gezahlte Preis ist. Dieser von den Großhändlern gezahlte Preis bleibt durch die Abschläge nach § 1 AMRabG unberührt. Die Klägerin zahlt die Abschläge nämlich nicht an die Großhändler, sondern an die Unternehmen der privaten Krankenversicherung und Träger der Beihilfe und Heilfürsorge. Mit diesen besteht nach dem vom BFH geschilderten Sachverhalt aber kein Leistungsaustausch. Die Abschläge nach § 1 AMRabG könnten bei dieser Sichtweise also keine Rabatte an den Erwerber i. S. d. Art. 79 Satz 1 Buchst. b MwStSystRL sein, die – sofern sie bereits bei Bewirkung der Umsätze gezahlt würden – nicht in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen wären. Folgerichtig dürfte auch eine Zahlung der Abschläge nach der Bewirkung des Umsatzes nicht zu einer Minderung der Bemessungsgrundlage führen können.

Der EuGH sieht in seiner Entscheidung, anders als der BFH, ganz offensichtlich einen Leistungsaustausch zwischen dem Arzneimittelhersteller und dem privaten Krankenversicherungsunternehmen. Die beim Kauf der Arzneimittel geleisteten Zahlungen durch die Versicherten sind nach Auffassung des EuGH als Entgelt von dritter Seite i. S. v. Art. 73 MwStSystRL anzusehen, wenn die Versicherten die Erstattung von der privaten Krankenversicherung fordern und die Versicherung gem. dem nationalen Recht den Abschlag von dem Arzneimittelhersteller erhält. Somit sind nach dem Urteil nicht die Versicherten als Lieferungsempfänger, sondern die privaten Krankenversicherer als Endverbraucher der Arzneimittellieferungen anzusehen, sodass der an den Fiskus abzuführende MwSt-Betrag den von dem Versicherer gezahlten Betrag nicht übersteigen darf. Der EuGH hat also insoweit offensichtlich eine andere Sachverhaltsvorstellung als der BFH, was erstaunlich ist, weil der EuGH auf Basis der Sachverhaltsdarstellung des Vorlagegerichts zu entscheiden hat und selbst nicht Tatsacheninstanz sein kann.

Das vorliegende Urteil liegt des Weiteren auf der Linie der bisherigen EuGH-Rechtsprechung. Art. 90 Abs. 1 MwStSystRL ist Ausdruck eines fundamentalen Grundsatzes des MwSt-Systems, nach dem Bemessungsgrundlage die tatsächlich erhaltene Gegenleistung ist. Die Finanzverwaltung darf folglich nicht mehr MwSt erheben, als sie dem an den leistenden Unternehmer gezahlten Betrag entspricht.

Im Ergebnis ist der EuGH auch, ohne sich ausdrücklich mit dieser Frage zu befassen, den Ausführungen des BFH zum Gleichbehandlungsgrundsatz gefolgt. Der BFH sah eine Ungleichbehandlung darin, dass die Abschläge nach § 1 AMRabG den pharmazeutischen Unternehmer in gleicher Weise belasten würden wie die den Großhändlern nach § 130a SGB V gezahlten Abschläge für Arzneimittelabgaben an gesetzlich Krankenversicherte, die zu einer Minderung der Bemessungsgrundlage führen. Bei den beiden Arten von Abschlägen würde es sich um vergleichbare Sachverhalte handeln, eine objektive Rechtfertigung der unterschiedlichen umsatzsteuerlichen Behandlung sei aber nicht erkennbar. Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung verlangt der Grundsatz der Gleichbehandlung, der mittlerweile in Art. 20 der EU-Grundrechte-Charta verankert ist (vgl. Schlussanträge v. 08.09.2016 in der Rs. RPO, C-390/15), vom Unionsgesetzgeber, vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich zu behandeln, es sei denn dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. z.B. EuGH, Urt. v. 13.03.2014, Jetair und EuGH, Urt. v. 13.03.2014, C-599/12, BTWE Travel4you).

 

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