Reverse-Charge-Verfahren, Personalgestellung, rückwirkende Anwendung einer Sonderermächtigung des Rates gem. Art. 395 MwStSystRL

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 13.02.2019, C-434/17, Human Operator Zrt.

Praxisproblem

Bei dem ungarischen Vorabentscheidungsersuchen ging es um die Auslegung des Durchführungsbeschlusses (EU) 2015/2349 des Rates v. 10.12.2015, mit dem Ungarn auf der Grundlage von Art. 395 MwStSystRL ermächtigt wurde, abweichend von Art. 193 MwStSystRL (Steuerschuldnerschaft) das Reverse-Charge-Verfahren auf die Gestellung von Personal anzuwenden. Das Vorlagegericht fragte den EuGH, ob die Ermächtigung entsprechend dem ungarischen Antrag rückwirkend ab 1.1.2015 gilt, wenn der Durchführungsbeschluss selbst keine Angaben hierzu macht, Ungarn aber vor seinem Erlass entsprechende Anträge gestellt hat. Fraglich war damit generell, ab wann ein Ratsbeschluss auf Ermächtigung eines Mitgliedstaats zur Einführung einer Sondermaßnahme diesen dazu berechtigt, wenn der Unionsrechtsakt dazu keine Regelungen enthält.

Sachverhalt

Haupttätigkeit der Klägerin ist die Vermittlung, der Verleih und die sonstige Überlassung von Arbeitskräften. Bei ihren Leistungen nahm die Klägerin auf der Grundlage von Auftragsverträgen die Mitarbeit anderer Wirtschaftsgesellschaften in Anspruch, deren Arbeitnehmer sie den Bestellern zur Verfügung stellte. Von diesen kooperierenden Wirtschaftsgesellschaften erhielt die Klägerin Rechnungen, deren Gegenstand die „sonstige Vermittlung von Arbeitskräften“ war und in denen MwSt ausgewiesen wurde, die die Klägerin als Vorsteuer abzog. Aufgrund einer Prüfung der USt-Voranmeldung für Januar 2015 setzte die ungarische Finanzbehörde gegenüber der Klägerin MwSt als Steuerschuldner der von den Auftragnehmern geleisteten Personalüberlassungen fest (Reverse-Charge). Die Rechtsgrundlage hierfür ergebe sich aus dem Durchführungsbeschluss (EU) 2015/2349 des Rates v. 10.12.2015 und die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft sei ab dem 1.1.2015 auf den Fall der Klägerin anwendbar, weil der Antrag Ungarns auf Zulassung einer Ausnahme darauf gerichtet gewesen sei und auch § 242 Abs. 1 HU-MwStG eine Bestimmung in diesem Sinne enthalte.

Die Klägerin ist der Auffassung, dass der Durchführungsbeschluss (EU) 2015/2349 durch Ungarn vor dem Zeitpunkt der Mitteilung über seinen Erlass an den Mitgliedstaat und somit während des gesamten streitgegenständlichen Zeitraums nicht angewendet werden dürfe. Der Durchführungsbeschluss selbst ordne keine Rückwirkung an und die allgemeinen Vorschriften über das Inkrafttreten hingegen ermöglichten sie nicht.

Das Vorlagegericht wollte wissen, ob eine nationale Regelung, mit der von Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie abgewichen wird, anwendbar ist, bevor der Durchführungsbeschluss des Rates, mit dem die Ermächtigung zu der abweichenden Maßnahme erteilt wird, dem Mitgliedstaat bekannt gegeben wurde, wenn der Ratsbeschluss zu seinem Inkrafttreten oder dem Beginn seiner Anwendung schweigt, der betreffende Mitgliedstaat aber beantragt hatte, dass die nationale Maßnahme rückwirkend gelten solle.

Entscheidung

Der EuGH hat entschieden, dass nach Art. 297 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV – der eine allgemeine Regel für das Inkrafttreten von Beschlüssen aufstellt, die an einen bestimmten Adressaten gerichtet sind –Beschlüsse mit ihrer Bekanntgabe an diejenigen wirksam werden, für die sie bestimmt sind. Im Streitfall ist, so der EuGH, davon auszugehen, dass der Durchführungsbeschluss am 11.12.2015 in Kraft getreten ist, da er der ungarischen Regierung an diesem Tag bekannt gegeben worden ist. Entgegen der Auffassung Ungarns ist es für die Bestimmung des Zeitpunkts, ab dem der Durchführungsbeschluss wirksam geworden ist, unerheblich, dass die EU-Kommission in ihrem Vorschlag für den Durchführungsbeschluss ausdrücklich ausgeführt hat, darüber unterrichtet worden zu sein, dass Ungarn die beantragte Ausnahmeregelung bereits anwende, ohne auf die Annahme des Durchführungsbeschlusses gewartet zu haben. Der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet nach dem EuGH-Urteil, dass Rechtsvorschriften klar, bestimmt und in ihren Auswirkungen voraussehbar sein müssen. Deshalb durfte Ungarn für nicht von Art. 199 Abs. 1 Buchst. a MwStSystRL erfasste Dienstleistungen kein Reverse-Charge-Verfahren einführen, bevor Ungarn der Durchführungsbeschluss mit der entsprechenden Ermächtigung bekannt gegeben worden war.

Praxishinweis

Das Urteil hat für das deutsche Umsatzsteuerrecht insoweit Bedeutung, als Durchführungsbeschlüsse des Rates betreffend Sonderermächtigungen für Deutschland (z.B. für die 10%-Regelung in § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG) nicht vor Bekanntgabe (im Amtsblatt EU) angewendet werden dürfen, soweit eine vorangegangene Ratsermächtigung nicht bereits die nationale Maßnahme abdeckt. So ist der Durchführungsbeschluss (EU) 2018/2060 des Rates v. 20.12.2018 zur Änderung der Entscheidung 2009/791/EG zur Ermächtigung Deutschlands, weiterhin eine von den Art. 168 und 168a MwStSystRL anzuwenden (ABl. EU 2018 Nr. L 329/20) gerade noch rechtzeitig ergangen bzw. veröffentlicht worden, um die fortgeltende Regelung in § 15 Abs. 1 Satz2 UStG abdecken zu können. Diese beruhte zuletzt auf dem Durchführungsbeschluss (EU) 2015/2428 des Rates (ABl. EU 2015 Nr. L 334/12) der zum 31.12.2018 ausgelaufen war.

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