Differenzbesteuerung auch anwendbar nach vorherigem innergemeinschaftlichem Erwerb eines Kunstwerks vom Urheber

Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 29.11.2018, C-264/17, Harry Mensing

Praxisproblem

Bei dem Vorabentscheidungsersuchen des FG Münster ging es um die Auslegung von Art. 316 und 322 MwStSystRL bei der Differenzbesteuerung von Umsätzen mit Kunstgegenständen. Das Vorlagegericht wollte wissen, ob ein Wiederverkäufer die Differenzbesteuerung auch auf die Lieferung von Kunstgegenständen anwenden kann, die ihm vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolger, bei denen es sich nicht um Personen i. S. v. Art 314 MwStSystRL handelt, innergemeinschaftlich geliefert wurden. Falls dies zu bejahen sei, wollte das FG Münster weiter wissen, ob nach Art. 322 Buchst. b MwStSystRL dem Wiederkäufer das Recht auf Vorsteuerabzug aus dem innergemeinschaftlichen Erwerb der Kunstgegenstände zu versagen ist, auch wenn es keine nationale Vorschrift gibt, die eine entsprechende Regelung enthält.

Sachverhalt

Der Kläger ist Kunsthändler. Er erklärte zu Beginn des Streitjahres 2014 gegenüber dem FA, dass er die Differenzbesteuerung auf Kunstgegenstände anwende. Im Laufe des Jahres bezog er u. a. Lieferungen von Künstlern, die im übrigen Unionsgebiet ansässig waren. Diese Lieferungen wurden von den Künstlern in ihren Ansässigkeitsstaaten jeweils als innergemeinschaftliche Lieferungen steuerfrei behandelt. Der Kläger versteuerte die innergemeinschaftlichen Erwerbe gem. § 12 Abs. 2 Nr. 13 a UStG mit dem ermäßigten Steuersatz. Er begehrt die Anwendung der Differenzbesteuerung auf die Lieferungen von Gegenständen, die er selbst von den Künstlern aus dem übrigen Unionsgebiet erworben hatte. Den Vorsteuerabzug machte er dabei - vorerst - nicht geltend.

Das FA verweigerte die Anwendung der Differenzbesteuerung. Der Kläger macht geltend. dass die nationale Regelung in § 25 a Abs.7 Nr. 1 a UStG nicht unionsrechtskonform sei und berief sich auf die unmittelbare Anwendung von Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL.

Nach nationalem Recht findet die Differenzbesteuerung keine Anwendung auf die Lieferungen eines Gegenstands, den der Wiederverkäufer innergemeinschaftlich erworben hat, wenn auf die Lieferung des Gegenstands an den Wiederverkäufer die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen im übrigen Gemeinschaftsgebiet angewendet worden ist (§ 25 a Abs. 7 Nr. 1 a UStG). Eine solche Einschränkung enthält Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL nicht. Nach dieser Vorschrift räumen die Mitgliedstaaten den steuerpflichtigen Wiederverkäufern das Recht ein, die Differenzbesteuerung bei der Lieferung von Kunstgegenständen anzuwenden, die ihnen vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolgern geliefert wurden. In der Literatur wird die nationale Regelung teilweise als mit dem Unionsrecht unvereinbar angesehen. Die Regelung verursache eine Wettbewerbsverzerrung, die mit dem Neutralitätsprinzip unvereinbar sei (vgl. z. B. Lippross, UR 2015, 618).

Das FG Münster war der Auffassung, dass die Vorschrift des Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL im systematischen Zusammenhang mit Art. 314 MwStSystRL zu sehen ist. Die letztgenannte Vorschrift regelt den (grundsätzlichen) Anwendungsbereich für die Anwendbarkeit der Differenzbesteuerung, u. a. auch für die Lieferung von Kunstgegenständen. Hiernach kommt die Differenzbesteuerung zur Anwendung, wenn dem Wiederverkäufer die Kunstgegenstände zuvor von bestimmten, im Einzelnen aufgeführten Personen geliefert worden sind. Sollte der Urheber bzw. dessen Rechtsnachfolger, der die Kunstgegenstände an den Wiederverkäufer innergemeinschaftlich geliefert hat, nicht von den in Art. 314 MwStSystRL genannten Personengruppen erfasst sein, dann kommt die Vorschrift des Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL nicht zur Anwendung mit der Folge, dass in Fällen wie dem Streitfall die Anwendung der Differenzbesteuerung ausscheidet. Für den Fall, dass der EuGH die erste Vorlagefrage bejahen würde, stellte sich die weitere Frage, ob dem Kläger das Recht auf Vorsteuerabzug aus dem innergemeinschaftlichen Erwerb der Kunstgegenstände zu versagen ist, auch wenn es keine nationale Vorschrift gibt, die eine entsprechende Regelung enthält.

Das FG Münster meinte, dass es erforderlich ist, den Vorsteuerabzug zu versagen, weil es sonst zu einer - systemwidrigen - doppelten Begünstigung käme (vgl. auch: Lippross, UR 2015, 618). Der Kläger hätte auf der einen Seite den Vorteil der Anwendbarkeit der Differenzbesteuerung zu seinen Gunsten und auf der anderen Seite das Recht auf Vorsteuerabzug. Das FG Münster ging davon aus, dass sich der Kläger nur unmittelbar auf das System der Differenzbesteuerung in seiner Gesamtheit und damit auf Art. 312 bis 325 MwStSystRL zu seinem Vorteil berufen könnte. Darin eingeschlossen wäre auch die Versagung des Vorsteuerabzugs gem. Art. 322 Buchst. b MwStSystRL. Dies wäre erforderlich, um dem Unionsrecht zur praktischen Wirksamkeit zu verhelfen.

Entscheidung

Der EuGH hat entschieden, dass Art. 316 MwStSystRL nach seinem Wortlaut vorsieht, dass die Mitgliedstaaten den Wiederverkäufern das Recht einräumen, bei Lieferungen der in dieser Vorschrift abschließend aufgezählten Gegenstände die Differenzbesteuerung anzuwenden. Aus dem Wortlaut von Art. 316 ergebe sich jedoch nicht, dass dieses Recht von der Erfüllung der in Art. 314 Buchst. a bis d MwStSystRL vorgesehenen Voraussetzungen abhängt oder dass die Mitgliedstaaten über ein Ermessen in Bezug auf die Voraussetzungen verfügen, denen sie das Recht eines Wiederverkäufers auf Anwendung der Differenzbesteuerung unterwerfen können. Nach der EuGH-Entscheidung verstößt es somit schon gegen den Wortlaut von Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL, wenn ein Mitgliedstaat das Recht eines Wiederverkäufers, auf eine Lieferung, die sich an eine innergemeinschaftliche Lieferung eines Kunstgegenstands im Sinne dieser Bestimmung anschließt, die Differenzbesteuerung anzuwenden, davon abhängig macht, dass der Kunstgegenstand von einer der in Art. 314 Buchst. a bis d der Richtlinie genannten Personen geliefert wird.

Art. 316 Abs. 1 MwStSystRL hat nach der EuGH-Entscheidung einen eigenständigen und gegenüber Art. 314 MwStSystRL ergänzenden Anwendungsbereich. Während nach Art. 314 MwStSystRL bei bestimmten Lieferungen durch einen Wiederverkäufer eine Verpflichtung zur Anwendung der Differenzbesteuerung besteht, sieht Art. 316 Abs. 1 MwStSystRL lediglich ein Recht vor, unter bestimmten Voraussetzungen für die Anwendung der Differenzbesteuerung zu optieren. Diese Option hätte nach den Feststellungen des EuGH aber keinen Sinn, wenn ihre Ausübung den gleichen Voraussetzungen unterläge, wie sie Art. 314 MwStSystRL für die zwingende Anwendung der Differenzbesteuerung vorsieht. Somit ist zwar der Anwendungsbereich von Art. 314 MwStSystRL auf Lieferungen von Gegenständen innerhalb der EU beschränkt, doch gilt diese Beschränkung nicht für Art. 316 Abs. 1 MwStSystRL.

Des Weiteren beweist nach dem EuGH-Urteil die Regelung in Art. 322 Buchst. b MwStSystRL in Verbindung mit ihrem Art. 316 Abs. 1 MwStSystRL, dass Art. 316 MwStSystRL gegenüber Art. 314 MwStSystRL eigenständigen und ergänzenden Charakter hat. Art. 322 Buchst. b MwStSystRL schließt im Wesentlichen das Recht eines Wiederverkäufers aus, die geschuldete oder entrichtete MwSt auf Kunstgegenstände, die ihm gem. Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL geliefert werden, als Vorsteuer abzuziehen. Dieser Vorsteuerausschluss der das Bestehen eines Abzugsrechts und damit eines vorherigen besteuerten Umsatzes voraussetzt, kann in den von Art. 314 MwStSystRL erfassten Fällen keine Anwendung finden, denn ihnen ist gemeinsam, dass die Lieferung des Kunstgegenstands an den steuerpflichtigen Wiederverkäufer nicht der MwSt unterlag oder steuerfrei war.

Weiter führt der EuGH aus, dass die in dem Verfahren von der Bundesregierung vorgenommene Auslegung, wonach Art. 316 MwStSystRL auf Lieferungen im Anschluss an einen innergemeinschaftlichen Umsatz nicht anwendbar sei, gegen die Grundsätze des Mehrwertsteuersystems verstößt. Diese Auslegung würde nämlich zu einer steuerlichen Ungleichbehandlung der Lieferungen von Kunstgegenständen, die Gegenstand einer Eingangslieferung aus dem Inland waren, und der Lieferungen von Kunstgegenständen führen, die Gegenstand einer steuerbefreiten innergemeinschaftlichen Lieferung waren. Wie die Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt habe, führe ein Verbot wie das in § 25a Abs. 7 Nr. 1 Buchst. a UStG zu einer Ungleichbehandlung, je nachdem, ob die dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer gelieferten Kunstgegenstände inländischen oder innergemeinschaftlichen Ursprungs sind, da nach deutschem Recht ein Wiederverkäufer bei der Lieferung eines Kunstgegenstands, der Gegenstand einer innergemeinschaftlichen Eingangslieferung war, nicht die Differenzbesteuerung wählen kann, wohl aber bei der Lieferung eines Kunstgegenstands, der ihm aus Deutschland geliefert wurde.

Zu der zweiten Vorlage betreffend den Vorsteuerabzug hat der EuGH entschieden, dass es gegen die Grundsätze des Vorsteuerabzugs verstoßen würde, wenn einem Wiederverkäufer, der für die Anwendung der Differenzbesteuerung nach Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL optiert hat, gestattet würde, in dem in Art. 322 Buchst. b MwStSystRL genannten Fall (Lieferungen von Urhebern) die Vorsteuer abzuziehen. Wird die Differenzbesteuerung angewandt, ist die Bemessungsgrundlage nach den Art. 315 und 317 MwStSystRL die von dem Wiederverkäufer erzielte Differenz (Handelsspanne), abzüglich des Betrags der auf diese Spanne erhobenen MwSt. Unter diesen Umständen ist die bei der Kaufpreiszahlung entrichtete MwSt nicht in der Steuer auf den Verkauf enthalten und eröffnet somit kein Vorsteuerabzugsrecht. Der Differenzbesteuerer kann also bei Erwerben von Urhebern nicht sowohl für die Anwendung der Differenzbesteuerung nach Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL optieren als auch Anspruch auf Vorsteuerabzug erheben. Dies gilt nach der Entscheidung auch, wenn das nationale Recht einen solchen Vorsteuerausschluss nicht regelt.

Praxishinweis

Zu der Frage des Anwendungsvorrangs einer Richtliniennorm, wenn sie sich für den Steuerpflichtigen sowohl begünstigend als auch belastend auswirken könnte (Doppelwirkung), gab es bisher noch keine klärende Entscheidung. Der EuGH hatte in einem solchen Fall allerdings keine Bedenken gegen ein Berufungsrecht, wenn der Steuerpflichtige seinen Willen bekundet hat, eine Begünstigung anzustreben und im Übrigen die Konsequenzen seiner Entscheidung hinzunehmen (vgl. BFH, Urt. v. 21.03.1995, XI R 33/94, DStR 1995, 1266 unter Hinweis auf EuGH, Urt. v. 19.01.1982, Rs. 8/81, Becker). Dies hat der EuGH vorliegend nunmehr am Beispiel der Differenzbesteuerung und des Vorsteuerabzugs bestätigt.
Der Gesetzgeber wird nach der Entscheidung § 25a UStG anpassen und einem Wiederverkäufer die Optionsmöglichkeit eröffnen müssen, sich auch bei innergemeinschaftlichen Erwerben, die aus Lieferungen von Urhebern von Kunstwerken resultieren, die Differenzbesteuerung anzuwenden. Diese Optionsmöglichkeit gilt nicht auch für Sammlungsstücke, weil diese in Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL nicht aufgeführt sind.

Fraglich ist, ob die Entscheidung nicht generell auf Fälle des § 25a UStG übertragen werden müsste. Das USt Team der AWB steht Ihnen gern für entsprechende Fälle mit Rat und Tat zur Seite.

Ihre Ansprechpartner