EuGH zum Vorsteuerabzug und der Beweislast bei mutmaßlichem USt-Betrug in Lieferketten

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 27.06.2018, C-459/17 und C-460/17, SGI und Valériane SNC

Praxisproblem

Bei den verbundenen französischen Vorabentscheidungsersuchen ging es um die Frage, ob Art. 17 der 6. EG-Richtlinie bzw. Art. 168 MwStSystRL dahin auszulegen sind, dass die Finanzverwaltung im Rahmen der Prüfung auf Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug nachweisen muss, dass der Abzugsberechtigte wusste oder hätte wissen müssen, dass sein Umsatz in eine Hinterziehung von Mehrwertsteuer einbezogen war und die Hinterziehung auf Initiative des Rechnungsausstellers, des Rechnungsempfängers oder eines Dritten erfolgte.

Sachverhalt

In der Sache C-459/17 erwarb die Klägerin Ausrüstungsgegenstände, die an andere Unternehmer vermietet werden sollten. Nach einer Prüfung der Buchhaltung stellte die französische Finanzbehörde das Vorsteuerabzugsrecht bzgl. der MwSt, die in verschiedenen Rechnungen über den Kauf von Gegenständen ausgewiesen war, die im Zeitraum des vierten Quartals des Jahres 2004 und des ersten und zweiten Quartals des Jahres 2005 ausgestellt worden waren, mit der Begründung in Frage, dass in diesen Rechnungen überhöhte Preise ausgewiesen seien oder sie keiner tatsächlichen Lieferung entsprächen. Die Klägerin machte geltend, das Berufungsgericht habe rechtsfehlerhaft entschieden, indem es die von der Verwaltung vorgenommene Nachversteuerung bestätigt habe, obwohl es, da es keine ernsthaften Indizien dafür gegeben habe, dass der streitige Umsatz in eine Hinterziehung einbezogen gewesen sei, nicht habe überprüfen dürfen, ob die Eingangsumsätze tatsächlich bewirkt worden seien.

Das Vorlagegericht wollte wissen, ob Art. 17 der 6. EG-Richtlinie bzw. Art. 168 MwStSystRL dahin auszulegen ist, dass dann, wenn einem Steuerpflichtigen das Recht auf Abzug der ausgewiesenen Steuer bzgl. Rechnungen über Lieferungen oder Dienstleistungen, bei denen die Steuerverwaltung feststellt, dass sie nicht tatsächlich an den Unternehmer erbracht wurden, versagt werden soll, in jedem Fall zu prüfen ist, ob nachgewiesen ist, dass der Unternehmer wusste oder hätte wissen müssen, dass sein Eingangsumsatz in eine Hinterziehung von MwSt einbezogen war und dass diese Hinterziehung auf Initiative des Rechnungsausstellers, des Rechnungsempfängers oder eines Dritten erfolgte.

Der Sachverhalt in der Rs. C-460/17 entsprach im Wesentlichen dem des Vorabentscheidungsersuchens. C-459/17 und die Vorlagefragen waren mit denen des Vorabentscheidungsersuchens C-459/17 identisch.

Entscheidung

Ausgehend von der auf der Vorlagefrage beruhenden Annahme, dass die in den Ausgangsverfahren genannten Gegenstände, für die der Vorsteuerabzug geltend gemacht wurde, tatsächlich nicht geliefert wurden, hat der EuGH mit Bezug auf frühere Rechtsprechung entschieden, dass im Mehrwertsteuersystem der Vorsteuerabzug daran geknüpft ist, dass die Lieferung eines Gegenstands oder die betreffende Dienstleistung tatsächlich bewirkt wird. Umgekehrt kann kein Recht auf Vorsteuerabzug entstehen, wenn die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung tatsächlich nicht bewirkt wurde. Das Recht auf Vorsteuerabzug erstreckt sich nicht auf eine Steuer, die ausschließlich deswegen geschuldet wird, weil sie in einer Rechnung ausgewiesen ist. Die Gut- oder Bösgläubigkeit des Steuerpflichtigen, der einen Vorsteuerabzug vornehmen will, ist ohne Bedeutung für die Frage, ob eine Lieferung bewirkt wurde. Die Steuerverwaltung ist nicht verpflichtet, Untersuchungen anzustellen, um die Absicht des Steuerpflichtigen zu ermitteln oder die Absicht eines anderen an derselben Lieferkette beteiligten Wirtschaftsteilnehmers, der nicht der Steuerpflichtige ist, zu berücksichtigen. Wer einen Vorsteuerabzug vornehmen möchte, muss nachweisen, dass er die Voraussetzungen hierfür erfüllt. Somit muss die Finanzbehörde, die einem Unternehmer als Rechnungsempfänger das Recht auf Abzug der in der Rechnung ausgewiesenen MwSt versagt, nur nachweisen, dass die der Rechnung entsprechenden Umsätze tatsächlich nicht bewirkt wurden.

Praxishinweis

Es war prinzipiell nicht zu erwarten, dass der EuGH über seine bisherige ständige Rechtsprechung hinaus neue Erkenntnisse zu den Vorlagefragen vermitteln würde. Der EuGH hatte bereits in zwei Urteilen vom 31.01.2013 in den Rechtssachen C-642/11, Stroy trans, und C-643/11, LVK-56, im Hinblick auf die Art. 167 und 168 MwStSystRL sowie die Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung entschieden, dass dann, wenn in Anbetracht von Steuerhinterziehungen oder Unregelmäßigkeiten, die der Aussteller der Rechnung begangen hat oder die dem Umsatz, auf den das Recht auf Vorsteuerabzug gestützt wird, vorausgegangen sind, davon ausgegangen wird, dass dieser Umsatz tatsächlich nicht bewirkt wurde, das Recht auf Vorsteuerabzug dem Rechnungsempfänger nur versagt werden darf, wenn anhand objektiver Gesichtspunkte und ohne dass vom Rechnungsempfänger Nachprüfungen verlangt werden, die ihm nicht obliegen, nachgewiesen ist, dass der Rechnungsempfänger wusste oder wissen musste, dass dieser Umsatz in eine Hinterziehung von MwSt einbezogen war, was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts ist. Andererseits ergingen diese Urteile jedoch zu Sachverhalten, die sich von den Ausgangsverfahren unterscheiden und in denen sich die Steuerverwaltung auf Unregelmäßigkeiten stützte, die der Rechnungsaussteller oder einer seiner Lieferanten begangen hatten. Mit diesen Urteilen wurden Vorabentscheidungsersuchen beantwortet, in denen insbesondere danach gefragt wurde, welche Konsequenzen aus dem Fehlen einer Berichtigung der vom Rechnungsaussteller erklärten MwSt durch einen von der Finanzverwaltung an ihn gerichteten Steuerprüfungsbescheid für die Ausübung des Rechts zum Vorsteuerabzug durch den Rechnungsempfänger zu ziehen sind.

Im Ausgangsverfahren ging es aber um das Recht auf Abzug der ausgewiesenen Steuer auf Rechnungen über Gegenstände oder Dienstleistungen, bei denen die Steuerverwaltung feststellt, dass sie tatsächlich nicht erbracht wurden. In diesem Fall kann die Finanzbehörde, wenn sie nachweisen kann, dass die in der Rechnung aufgeführten Umsätze nicht erbracht wurden, den Vorsteuerabzug ohne Weiteres versagen. Auch nach dem vorliegenden Urteil liegt die Beweislast somit letztlich auf Seiten der Finanzverwaltung. Zwar muss der Unternehmer nachweisen, dass der in der Rechnung ausgewiesene Umsatz an ihn ausgeführt wurde, wenn er den Vorsteuerabzug aus der Rechnung geltend machen will. Die Finanzbehörde muss aber den gegenteiligen Nachweis führen, wenn sie den Vorsteuerabzug versagen will.

In seinem Urteil vom 31.01.2013, C-643/11, LVK – 56 EOOD), hatte der EuGH (was er vorliegend bestätigt) bekräftigt, dass ein Vorsteuerabzug nur aus steuerpflichtigen Eingangsumsätzen möglich ist, nicht aber aus einer nach Art. 203 MwStSystRL geschuldeten Steuer. Schließlich verwies der EuGH auf seine frühere Rechtsprechung, wonach die Finanzverwaltung von dem Unternehmer, der einen Vorsteuerabzug geltend machen will, nicht generell verlangen kann, zu prüfen, ob der Rechnungsaussteller in der Lage war, den betreffenden Umsatz auszuführen und seinen umsatzsteuerlichen Erklärungs- und Zahlungspflichten nachgekommen ist. Geht die Finanzverwaltung davon aus, dass der betreffende Eingangsumsatz tatsächlich nicht bewirkt wurde, ist anhand objektiver Gesichtspunkte und ohne dass vom Rechnungsempfänger Nachprüfungen verlangt werden nachzuweisen, dass der Rechnungsempfänger wusste oder wissen musste, dass der Umsatz in einen Steuerbetrug einbezogen war.

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