Zur Steuerbefreiung für Vorumsätze in der Seeschifffahrt (§ 4 Nr. 2, § 8 UStG, Abschnitt 8.1 UStAE) - Zeitpunkt, ab dem ein begünstigtes Wasserfahrzeug existiert

Anmerkung zu: BMF-Schreiben v. 18.06.2019

Praxisproblem

Nach § 4 Nr. 2 i. V. m. § 8 UStG sind sog. Vorstufenumsätze für die Seeschifffahrt und für die Luftfahrt steuerfrei. Hierbei handelt es sich um Umsätze, die auf Wirtschafts- und Umsatzstufen getätigt werden, die der eigentlichen Seeschifffahrt und Luftfahrt vorausgehen. Es handelt sich um Umsätze, die regelmäßig an die Unternehmer der Seeschifffahrt und der Luftfahrt bewirkt werden. Von den Unternehmern der Seeschifffahrt und der Luftfahrt werden diese Vorumsätze entweder generell für den Betrieb ihrer Unternehmen oder speziell für die nicht steuerbaren oder steuerfreien Umsätze dieser Unternehmen verwendet. Nach der früheren EuGH-Rechtsprechung war diese Steuerbefreiung eng auszulegen. Ausgehend von dem Grundsatz, dass die Steuerbefreiung für die Versorgungsleistungen in der Seeschifffahrt der Steuerbefreiung für Ausfuhrlieferungen gleichgestellt ist, hatte der EuGH z. B. entschieden, dass die Steuerbefreiung nur für Lieferungen von Gegenständen an einen Betreiber von Schiffen anwendbar ist, der diese Gegenstände zur Versorgung der Schiffe verwendet. Die Steuerbefreiung sollte sich deshalb nicht auf Lieferungen dieser Gegenstände erstrecken können, die auf einer vorhergehenden Handelsstufe bewirkt werden.

Demgegenüber hatte der EuGH mit Urteil vom 04.05.2017, Rs. C-33/16 (A), entschieden, dass zum einen nicht nur Dienstleistungen im Bereich des Beladens und Entladens eines Schiffes i. S. v. Art. 148 Buchst. a MwStSystRL steuerfrei sein können, die auf der letzten Handelsstufe einer solchen Dienstleistung erbracht werden, sondern auch auf einer vorausgehenden Handelsstufe erbrachte Dienstleistungen, wie etwa eine von einem Unterauftragnehmer an einen Auftraggeber, die dieser dann einem Speditions- oder Transportunternehmen weiterberechnet. Auch können Be- und Entladedienstleistungen steuerfrei sein, die an den Verfügungsberechtigten dieser Ladung, etwa deren Ausführer oder Einführer, erbracht werden.

Mit BMF-Schreiben v. 06.10.2017 hatte die Verwaltung sich dieser Rechtsprechung, die der Steuerbefreiung für Vorumsätze in der Seeschifffahrt und der Luftfahrt wesentlich mehr Anwendungsbreite gibt, unter Änderung von Abschnitt 8.1 UStAE angeschlossen.

Fraglich war jedoch auch nach Ergehen des BMF-Schreibens für die der Auslieferung eines neu gebauten Schiffes vorgelagerten Umsätze, ob die Steuerbefreiung nur für Leistungen greift, die unmittelbar an den Betreiber von Schiffen erbracht werden und wie die Lieferung der Teile, die für den Bau eines neuen Schiffes notwendig sind, zu behandeln ist. Deshalb war mit BMF-Schreiben v. 05.09.2018 (BStBl I 2018 S. 1012) in diesem Zusammenhang eine weitere Konkretisierung vorgenommen worden. Nach dem seinerzeit neugefassten Satz 3 in Abschnitt 8.1 Abs. 1 UStAE kann sich die Steuerbefreiung nicht auf Umsätze auf den vorhergehenden Stufen erstrecken, wenn im Zeitpunkt dieser Leistungen deren endgültige Verwendung für den Bedarf eines konkreten, eindeutig identifizierbaren Seeschiffes ihrem Wesen nach nicht feststeht. Steht aber im Zeitpunkt der Leistung deren endgültige Verwendung für den Bedarf eines solchen Seeschiffes fest und ist die endgültige Zweckbestimmung der Leistung bereits aufgrund der Befolgung der steuerlichen Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten (Beleg- und Buchnachweis) sowie der Befolgung der Aufbewahrungspflichten und nicht erst durch besondere Kontroll- und Überwachungsmechanismen nachvollziehbar, kann sich die Steuerbefreiung auch auf vorhergehende Stufen erstrecken. Nach seinerzeit den neugefassten Sätzen 1 und 2 von Abschnitt 8.1 Abs. 2 UStAE muss es sich bei den begünstigten Schiffen (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 UStG) bereits vorhandene Wasserfahrzeuge handeln, die nach ihrer Bauart dem Erwerb durch die Seeschifffahrt oder der Rettung Schiffbrüchiger zu dienen bestimmt sind. Als neue Bestimmung regelte das BMF-Schreiben v. 05.09.2018 zusätzlich, dass ein Wasserfahrzeug frühestens ab dem Zeitpunkt seines (klassischen) Stapellaufs oder seines Aufschwimmens im Trockendock als „vorhanden“ anzusehen ist

Im Bereich der Steuerbefreiung der Vorumsätze für die Seeschifffahrt kommt es dennoch häufig zu Praxisproblemen, wenn Schiffe neugebaut und an die Seeschifffahrt verkauft werden sollen. Die Regelung im BMF-Schreiben v. 05.09.2018 („Ein Wasserfahrzeug ist frühestens ab dem Zeitpunkt seines (klassischen) Stapellaufs oder seines Aufschwimmens im Trockendock als „vorhanden“ anzusehen“) konnte zu Abgrenzungsproblemen in der Praxis führen, da diese Regelung möglicherweise nicht ausreichend die Produktionsprozesse des Seeschiffneubaus berücksichtigte. Im modernen industriellen Schiffbau ist ein hochkomplexes Seeschiff zum Zeitpunkt des Stapellaufs oder des Aufschwimmens im Trockendock je nach Produktionsprozess und Werft nur zu einem Teil fertiggestellt und wird vielmehr nach dem vorgenannten Zeitpunkt ausgerüstet und weitergebaut. Leistungen zum Neubau eines Seeschiffes (z. B. Leistungen auf Vorstufen zur Werklieferung eines Schiffes, etwa Leistungen an eine Werft, wie z. B. Lieferung einer Schiffsschraube, die zum Einbau in ein neu herzustellendes Seeschiff benötigt wird) fallen regelmäßig nicht unter die Steuerbefreiung nach § 8 Abs. 1 UStG, wenn zum Zeitpunkt der Leistung noch kein begünstigtes Wasserfahrzeug vorhanden ist. Bei der Lieferung einer Schiffsschraube oder eines Schiffsmotors zur Herstellung eines Seeschiffs handelt es regelmäßig nicht um eine vorangehende Handelsstufe bei der Lieferung eines Wasserfahrzeugs i. S. d. § 8 Abs. 1 Nr. 1 UStG. Würden diese Leistungen nämlich unmittelbar an den Betreiber des Seeschiffes oder an die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger bewirkt, wären sie ebenfalls nicht nach dieser Regelung steuerbefreit, da kein Wasserfahrzeug geliefert würde.

Beim Schiffsneubau werden z. B. regelmäßig schwimmfähige Teilsektoren (ohne Motor) nach Aufschwimmen im Trockendeck zwischen verschiedenen Standorten verschleppt oder schwimmfähige Seeschiffe erst nach Stapellauf weitergebaut. Hier ist es schwierig, den eindeutigen Zeitpunkt, ab wann das Schiff i. S. d. BMF-Schreibens v. 05.09.2018 vorhanden ist, festzulegen, da das Aufschwimmen schon erfolgt ist, die Schiffsteile jedoch noch keine wesentlichen Beschaffungsmerkmale enthalten. Das Aufschwimmen wird hierbei regelmäßig durchgeführt, wenn die wesentlichen Beschaffungsmerkmale noch nicht vorhanden sind und somit die gesetzliche Voraussetzung nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 UStG noch nicht vorliegt. Insbesondere aufgrund der Vorstufenbefreiung ist es wichtig, den Zeitpunkt des Vorhandenseins eines Wasserfahrzeugs eindeutig zu definieren.

Entscheidung

Die Verwaltung hat mit BMF-Schreiben v. 18.06.2019 auf derartige Praxisprobleme nochmals reagiert. Mit der Neufassung von Abschnitt 8.1 Abs. 2 Satz 2 UStAE ist nunmehr geregelt worden, dass ein Wasserfahrzeug ab dem Zeitpunkt seiner Abnahme durch den Besteller als „vorhanden“ anzusehen ist.

Praxishinweis

Für vor dem 01.07. 2019 ausgeführte Umsätze (§ 4 Nr. 2, § 8 Abs. 1 Nr. 1 UStG) wird es von der Verwaltung nicht beanstandet, wenn die bisher geltende Rechtslage zu Abschnitt 8.1 Abs. 1 und Abs. 2 UStAE angewendet wird. Auch sind aufgrund des BMF-Schreibens vom 05.09.2018 keine Rechnungsberichtigungen für das Jahr 2018 und das erste Halbjahr 2019 erforderlich.

Mit dem in dem BMF-Schreiben geregelten Zeitpunkt der Abnahme durch den Besteller, d. h. durch den späteren Eigentümer/Reeder, dürfte die baurechtliche Abnahme der Werklieferung gem. § 640 BGB gemeint sein. Die eigentliche Abnahme findet regelmäßig erst statt, nachdem die Probefahrten unter Mitwirkung der „Abnahmebehörde“, z. B. des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) bzw. einer anderen Klassifizierungsgesellschaft erfolgreich absolviert wurden und ggf. eine Restmängelliste abgearbeitet wurde. Erst dann werden zeitnah die erforderlichen Übergabeprotokolle, unter anderem das „protocol of delivery and acceptance“ (Protokoll der Ablieferung und Entgegennahme) unterzeichnet.

Somit sind alle nach § 8 Abs. 1 begünstigten Leistungen, die für den Bedarf eines Seeschiffes zeitlich nach der Abnahme durch den Besteller erbracht werden, umsatzsteuerfrei. Keinesfalls maßgeblicher Zeitpunkt, wann ein begünstigtes Wasserfahrzeug als existent anzusehen, ist der Zeitpunkt der Auftragsunterzeichnung für den Bau eines eindeutig bestimmbaren seegehenden Schiffes.

Steht im Zeitpunkt der Leistung deren endgültige Verwendung für den Bedarf eines (bereits existenten, ggf. reparaturbedürftigen) Seeschiffes fest und ist die endgültige Zweckbestimmung der Leistung nicht erst durch besondere Kontroll- und Überwachungsmechanismen nachvollziehbar, kann sich die Steuerbefreiung für Vorumsätze in der Seeschifffahrt auch auf vorhergehende Stufen erstrecken. Die Steuerbefreiung ist somit auf Basis des bisher bereits geltenden Regelungsgefüges betreffend die Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten nachzuweisen und es bedarf für die Steuerbefreiung der Umsätze auf den Vorstufen keines gesonderten Kontroll- und Überwachungsmechanismus. Die Nachweispflichten richten sich grds. nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls. Grundsätzlich gilt aber, dass sich aus dem Nachweis der Zweckbestimmung ergeben muss, für welches konkrete, eindeutig identifizierbare (bereits vorhandene) Seeschiff die Leistung erbracht wird. Soll der auf einer Vorstufe leistende Unternehmer nicht erfahren, für welches konkrete Projekt er seine Leistung erbringt, kommt die Steuerbefreiung seines Umsatzes regelmäßig nicht in Betracht, wenn ihm nicht bekannt wird, ob er einen Umsatz für ein bereits vorhandenes begünstigtes Seeschiff erbringt.

An der Auffassung der Finanzverwaltung hat sich nichts geändert, was die Eigenschaft eines von der Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 2 i. V. m. § 8 Abs. 1 UStG begünstigten Seeschiffes betrifft. Die Steuerbefreiung bezieht sich unverändert auf die in § 8 Abs. 1 UStG bezeichneten Leistungen. Dies bedeutet, dass insbesondere Leistungen der Wartung eines Seeschiffes bzw. Lieferungen, die zur Ausrüstung eines Seeschiffes bestimmt sind, voraussetzen, dass das Seeschiff als solches bereits vorhanden ist. Somit sind insbesondere Leistungen, die der Herstellung eines Seeschiffes dienen bzw. Leistungen während des Baus eines Seeschiffes nicht von der Steuerbefreiung für Vorumsätze in der Seeschifffahrt umfasst.

Die Bestimmung von Leistungen für den Schiffsbedarf kann als gewiss gelten, wenn diese für den unmittelbaren Bedarf von begünstigten Schiffen unerlässlich sind und eine übliche (typische) Art des Betriebs von begünstigten Schiffen darstellen. Diese Zweckbestimmung muss bereits im Zeitpunkt der Ausführung der Leistung, für die die Steuerbefreiung beansprucht wird, vorliegen. Können Leistungen sowohl als Schiffsbedarf als auch in anderen Bereichen verwendet werden, schließt das die grundsätzliche Anwendbarkeit der Steuerbefreiung nicht aus, soweit die endgültige Verwendung der Leistungen für den Bedarf eines begünstigten Schiffes (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 UStG) feststeht.

Die Leistungen nach § 4 UStG sind von Gesetzes wegen umsatzsteuerbefreit. Ein Verzicht auf eine Umsatzsteuerbefreiung ist nur für die Leistungen und unter den Voraussetzungen nach § 9 UStG möglich. Es ist folglich richtig, dass sich die Formulierung „kann“ in Abschnitt 8.1 Satz 3 UStAE nicht auf die grundsätzliche Anwendbarkeit der Steuerbefreiung bezieht.

 

 

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