EuGH zum Mehrwertsteuersatz medizinischer Sauerstoffbehandlung

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 09.03.2017, C-573/15, Oxycure Belgium

Praxisproblem

Der EuGH hatte bei dem belgischen Vorabentscheidungsersuchen zu entscheiden, ob für den Verkauf oder die Vermietung von Konzentratoren und von Zubehörteilen für die Sauerstofftherapie der ermäßigte Steuersatz von 6 % nach belgischem Recht oder der Normalsatz von 21 % anwendbar ist. Art. 98 MwStSystRL bestimmt, dass die Mitgliedstaaten einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden können und dass diese ermäßigten Steuersätze nur auf die in Anhang III MwStSystRL genannten Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen anwendbar sind. In Nr. 4 von Anhang III werden genannt: „medizinische Geräte, Hilfsmittel und sonstige Vorrichtungen, die üblicherweise für die Linderung und die Behandlung von Behinderungen verwendet werden und die ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt sind, einschließlich der Instandsetzung solcher Gegenstände, sowie Kindersitze für Kraftfahrzeuge“

Sachverhalt

Nach belgischem Recht ist der Satz von 6 % u.a. anwendbar auf orthopädische Apparate (einschließlich medizinisch-chirurgischer Gürtel); Vorrichtungen zum Behandeln von Knochenbrüchen (Schienen u.Ä.); Prothesen und andere Waren der Prothetik für Zähne, Augen u.Ä.; Schwerhörigengeräte und andere Vorrichtungen zum Tragen in der Hand oder zum Implantieren in den oder zum Tragen am Körper, zum Beheben von Funktionsschäden oder Gebrechen; individuelles Material, das speziell dafür bestimmt ist, von Stomapatienten und von an Inkontinenz leidenden Personen getragen zu werden, ausgenommen bestimmte spezifische Gegenstände, sowie individuelle Zubehörteile einer künstlichen Niere einschließlich des verwendeten Verbandsmaterials; Aerosolgeräte und deren Zubehör sowie individuelles Material für die Verabreichung von Mukomyst.

Die Klägerin legte dar, dass ihre Hauptaktivität die Vermietung und der Verkauf von Sauerstoffkonzentratoren sei, die die häusliche Sauerstofftherapie ermöglichten. Sie liefere eine Sauerstoffquelle für medizinische Zwecke für Patienten, die an einer Atmungsinsuffizienz oder an einer anderen schweren Beeinträchtigung litten, die eine Sauerstoffbehandlung nötig mache und deren Zustand sich durch Standardmedikamente wie Aerosole oder Broncholytika nicht mehr verbessern lasse.

Das Vorlagegericht fragte den EuGH, ob Art. 98 Abs. 1 und 2 und Anhang III Nrn. 3 und 4 MwStSystRL mit Blick auf den Neutralitätsgrundsatz einer nationalen Bestimmung entgegenstehen, die einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz für die Sauerstoffbehandlung mittels Sauerstoffgasflaschen vorsieht, während die Sauerstoffbehandlung mittels eines Sauerstoffkonzentrators dem Normalsatz unterliegt.

Entscheidung

Der EuGH hat entschieden, dass Art. 98 Abs. 1 und 2 MwStSystRL und Anhang III Nrn. 3 und 4 mit Blick auf den Neutralitätsgrundsatz einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, dass auf die Lieferung oder die Vermietung von Sauerstoffkonzentratoren der Normalsteuersatz anzuwenden ist, während für die Lieferung von Sauerstoffgasflaschen ein ermäßigter Steuersatz gilt. Die Mitgliedstaaten können sich grundsätzlich dafür entscheiden, auf die in Anhang III Nr. 3 MwStSystRL aufgeführten Arzneimittel einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, während sie auf die in Nr. 4 von Anhang III aufgeführten medizinischen Geräte den Normmalsteuersatz anwenden. Sie können sich auch dafür entscheiden, auf einige der in den Nrn. 3 und 4 aufgeführten Arzneimittel oder medizinischen Geräte einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden und auf andere dieser Arzneimittel oder Geräte den normalen Steuersatz. Sie sind jedenfalls verpflichtet, auf Produkte, die nicht in Anhang III aufgeführt sind, den Normalsteuersatz anzuwenden. Daraus folgt, dass nationale Rechtsvorschriften, die keinen ermäßigten Steuersatz für Sauerstoffkonzentratoren vorsehen, grundsätzlich mit Art. 98 MwStSystRL vereinbar sind.

Im Ausgangsverfahren war unstreitig, dass die Sauerstoffkonzentratoren im Unterschied zu Sauerstoffgasflaschen nicht unter Nr. 3 von Anhang III MwStSystRL fallen, der bestimmte Arzneimittel betrifft. Nach der Rechtsprechung des EuGH umfasst der Begriff „Arzneimittel“, auch wenn er nicht auf Medikamente beschränkt ist, nicht alle Produkte, Geräte, Vorrichtungen oder Stoffe für die medizinische Verwendung (vgl. EuGH, Urt. v. 17.01.2013, C 360/11, Kommission/Spanien). Nr. 4 von Anhang III bezieht sich nach dem Urteil auf medizinische Produkte für eine spezifische Verwendung. Die Kategorie erfasst nur medizinische Geräte, Hilfsmittel und sonstige Vorrichtungen, die üblicherweise für die Linderung und die Behandlung von Behinderungen verwendet werden, sofern sie ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt sind. Da nicht feststeht, dass die Sauerstoffkonzentratoren „ausschließlich dem persönlichen Gebrauch von Behinderten“ vorbehalten sind, können sie nach dem Urteil auch nicht in den Anwendungsbereich von Anhang III Nr. 4 MwStSystRL fallen. Unter diesen Umständen konnte nach dem Urteil der Neutralitätsgrundsatz Belgien, das von der Möglichkeit, auf bestimmte in Anhang III Nr. 3 MwStSystRL aufgeführte Produkte einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, Gebrauch gemacht hat, nicht verpflichten, den ermäßigten Satz auf Sauerstoffkonzentratoren anzuwenden, auch wenn diese nach der Wahrnehmung des Verbrauchers den unter die Steuerermäßigung fallenden Produkten ähneln.

Praxishinweis

Der EuGH hat seine ständige Rechtsprechung bestätigt, dass die Liste der Gegenstände, die nach Anhang III MwStSystRL ermäßigt besteuert werden können, eng auszulegen ist und der Wortlaut der Regelungen eine maßgebliche Rolle spielt. Das deutsche Umsatzsteuerrecht ist insoweit von dem Urteil nicht betroffen, als bereits Arzneimittel nicht steuerermäßigt sind. Im Übrigen dürfte das deutsche Recht mit dem Urteil im Einklang stehen, weil nach den Nrn. 51 und 52 der Anlage 2 zum UStG nur spezifische Gegenstände begünstigt sind, die üblicherweise nicht auch von anderen als Kranken oder Behinderten verwendet werden. Nach Nr. 51 der Anlage 2 sind nur Gegenstände begünstigt, die speziell zum Befördern von Kranken oder Körperbehinderten (Gelähmten, Körperbeschädigten usw.) gebaut sind (Rollstühle und andere Fahrzeuge für Behinderte). Nach Nr. 52 der Anlage 2 sind nur die ausdrücklich aufgeführten orthopädischen Hilfsmittel (Körperersatzstücke, orthopädische Apparate und andere orthopädische Vorrichtungen sowie Vorrichtungen zum Beheben von Funktionsschäden oder Gebrechen) für Menschen steuerermäßigt.

Ihre Ansprechpartner