EuGH zur Steuerbefreiung bestimmter kultureller Dienstleistungen

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 15.02.2017, C-592/15, British Film Institute

Praxisproblem

Den unionsrechtlichen Vorgaben folgend enthält § 4 Nr. 20 UStG eine zwingende Steuerbefreiung für bestimmte kulturelle Dienstleistungen von Einrichtungen des öffentlichen Rechts und von Einrichtungen anderer Unternehmer, denen bescheinigt wurde, dass sie die gleichen kulturellen Aufgaben wie die Einrichtungen des öffentlichen Rechts erfüllen, sowie für die Veranstaltung derartiger Dienstleistungen. Die Umsätze der in § 4 Nr. 20 UStG genannten Einrichtungen sollen nach den Vorstellungen des Gesetzgebers deshalb steuerfrei sein, weil diese Einrichtungen im Allgemeinen in erheblichem Umfang staatlich subventioniert werden und im Fall einer Steuerpflicht die Eintrittspreise voraussichtlich nicht erhöht werden könnten, sondern die gewährten Subventionen aufgestockt werden müssten. Der Gesetzgeber geht in der Vorschrift erkennbar davon aus, dass ein besonderes kulturelles Interesse an den dort genannten Einrichtungen besteht, die aber wegen der hohen Vorhaltekosten und der bestehenden Schwierigkeit, entsprechende Eintrittspreise zu verlangen, typischerweise subventionsbedürftig sind und ohne die Befreiung höhere Subventionen benötigten.

Sachverhalt

Bei dem britischen Vorabentscheidungsersuchen ging es um die Steuerbefreiung für kulturelle Leistungen nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. n der 6. EG-Richtlinie (jetzt: Art. 132 Abs. 1 Buchst. n MwStSystRL). Nach der Vorschrift sind „bestimmte kulturelle Dienstleistungen und eng damit verbundene Lieferungen von Gegenständen, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder anderen von dem betreffenden Mitgliedstaat anerkannten kulturellen Einrichtungen erbracht werden“, steuerfrei.

Streitig war, ob die von der Klägerin erbrachten Dienstleistungen der Gewährung von Zutritt zu Filmvorführungen – wie von ihr vorgetragen – unter die Steuerbefreiung fallen. Nach nationalem britischem Recht fallen nur folgende Leistungen unter die Steuerbefreiung für kulturelle Leistungen: Die Gewährung des Rechts auf Zutritt zu (a) einem Museum, einer Galerie, einer Kunstausstellung oder einem Zoo oder (b) einer Theateraufführung, einer musikalischen oder choreografischen Darbietung kultureller Art durch eine öffentliche Einrichtung; die Gewährung des Rechts auf Zutritt zu (a) einem Museum, einer Galerie, einer Kunstausstellung oder einem Zoo oder (b) einer Theateraufführung, einer musikalischen oder choreografischen Darbietung kultureller Art durch eine für die Befreiung in Betracht kommende Einrichtung.

Die Vorinstanz des Vorlagegerichts hatte entschieden, dass mit dem Wort „bestimmte“ in Art. 132 Abs. 1 Buchst. n MwStSystRL „diese“ gemeint seien, d.h. die Befreiung auf „diese“ von öffentlichen Einrichtungen oder von anderen anerkannten Einrichtungen erbrachten kulturellen Dienstleistungen Anwendung finde und dass die Vorschrift somit unmittelbare Wirkung habe, da sie hinreichend klar und bestimmt sei und den Mitgliedstaaten keinen Ermessensspielraum bei der Entscheidung lasse, welche kulturellen Dienstleistungen sie von der Mehrwertsteuer befreien.

Die Klägerin meinte hingegen, der Begriff „bestimmte kulturelle Dienstleistungen” sei nicht hinreichend klar und bestimmt, sondern ungenau und unklar, da er die Frage, auf welche kulturellen Dienstleistungen Bezug genommen werde, unbeantwortet lasse. Die Regelung sei nicht so zu interpretieren, dass unter „bestimmte“ kulturelle Dienstleistungen „diese“ kulturellen Dienstleistungen zu verstehen seien, da das Wort „bestimmte“ sonst überflüssig wäre. Die Klägerin war ferner der Auffassung, dass es keine eigenständige übereinstimmende unionsrechtliche Bedeutung des Begriffs „kulturelle Dienstleistungen” gebe und den Mitgliedstaaten daher ein Ermessen eingeräumt worden sei, zu entscheiden, welche „kulturellen Dienstleistungen“ zu befreien seien. Deshalb sei das Wort „bestimmte“ aufgenommen worden.

Entscheidung

Zur Frage des unmittelbaren Berufungsrechts hat der EuGH entschieden, dass Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. n der 6. EG-Richtlinie nicht klar regelt, welche kulturellen Dienstleistungen die Mitgliedstaaten zu befreien haben. Die Vorschrift enthalte weder eine abschließende Liste der zu befreienden kulturellen Dienstleistungen noch eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, alle kulturellen Dienstleistungen zu befreien, sondern beziehe sich nur auf „bestimmte“ dieser Dienstleistungen. Somit überlässt es diese Vorschrift den Mitgliedstaaten, zu bestimmen, welche kulturellen Dienstleistungen befreit sind. Der EuGH verweist auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Danach war der Rat dem ursprünglichen Vorschlag der EU-Kommission, der eine abschließende Liste der zu befreienden kulturellen Dienstleistungen beinhaltete (vgl. den Vorschlag der Sechsten Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage [KOM(73) 950 endg. v. 20.06.1973]), nicht gefolgt. Stattdessen hatte er sich durch die Verwendung des Ausdrucks „bestimmte kulturelle Dienstleistungen“ für eine Formulierung dieser Steuerbefreiung entschieden, die den Mitgliedstaaten die Entscheidung überlässt, welche kulturellen Dienstleistungen sie von der Steuer befreien. Auch blieb der Rat – obwohl die Kommission später vorgeschlagen hatte, die ursprüngliche Fassung von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. n der 6. EG-Richtlinie durch eine abschließende Liste steuerbefreiter kultureller Dienstleistungen zu ersetzen (siehe Vorschlag für eine Neunzehnte Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem [KOM(84) 648 endg. v. 05.12.1984]) – bei dieser ursprünglichen Fassung, die es nach der Analyse in ihrem Ersten Bericht an den Rat über das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems – vorgelegt gem. Art. 34 der 6. EG-Richtlinie (KOM[83] 426 endg. v. 14.09.1983) – dem jeweiligen Mitgliedstaat überlässt, den Inhalt dieser Steuerbefreiung zu bestimmen.

Die Befreiungsvorschrift eröffnet, da sie nicht hinreichend konkret ist,  nach dem Urteil somit auch kein unmittelbares Berufungsrecht. Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat anerkannte kulturelle Einrichtungen, die kulturelle Dienstleistungen erbringen, können sich bei fehlender Umsetzung nicht unmittelbar auf die Vorschrift berufen.

Praxishinweis

Das Urteil ist auch für das deutsche Recht von Bedeutung, weil es grundsätzlich um den Anwendungsbereich der Steuerbefreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. n MwStSystRL ging bzw. um den Umfang eines etwaigen Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten. Filmvorführungsleistungen unterliegen in Deutschland keiner Steuerbefreiung, sondern sind unter den Voraussetzungen von § 12 Abs. 2 Nr. 7 Buchst. b UStG steuerermäßigt.

Nach dem Urteil ist festzustellen, dass Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. n der 6. EG-Richtlinie (und auch Art. 132 Abs. 1 Buchst. n MwStSystRL) durch die Bezugnahme auf „bestimmte kulturelle Dienstleistungen“ nicht verlangt, dass alle kulturellen Dienstleistungen befreit werden, sodass die Mitgliedstaaten „bestimmte“ unter ihnen befreien können, während sie andere als steuerpflichtig behandeln dürfen. Nach alledem ist die Steuerpflicht der Filmvorführungsleistungen in Deutschland unionsrechtskonform.

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