Reihengeschäft, gebrochene Beförderung, innergemeinschaftlicher Erwerb

Anmerkung zu: FG Berlin/Brandenburg, Urt. v. 27.10.2017, 7 V 7222/17

Praxisproblem

Bei Umsatzgeschäften mit drei Beteiligten (z. B. VK, DE und RU) und einer Warenbewegung, die im übrigen Gemeinschaftsgebiet beginnt, über eine Zwischenlagerung der Ware in einem anderen Mitgliedstaat verläuft und in einem Drittland endet, kann sich die Frage ergeben, ob der mittlere Unternehmer DE, der gegenüber seinem Lieferanten mit einer deutschen USt-IdNr. auftritt, in DE einen innergemeinschaftlichen Erwerb nach § 3d Satz 2 UStG zu versteuern hat, der nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt. Die Frage stellt sich nicht, wenn bei dieser Konstellation von einem Reihengeschäft auszugehen ist, bei dem eine unmittelbare Warenbewegung (nicht gebrochene Beförderung) vom übrigen Gemeinschaftsgebiet in das Drittlandsgebiet vorliegt. Fraglich kann in diesen Fällen aber das Vorliegen eines Reihengeschäfts sein, wenn der letzte Abnehmer (RU), die Ware in einem anderen Mitgliedstaat als dem Abgangsstaat (am dortigen Zwischenlagerungsort) übernimmt und in das Drittlandsgebiet befördert.

Das BMF-Schreiben v. 07.12.2015 zur Steuerbefreiung für Ausfuhrlieferungen und innergemeinschaftliche Lieferungen bei gebrochener Beförderung oder Versendung und zu Reihengeschäften regelt in diesem Zusammenhang, dass es bei einer gebrochenen Beförderung oder Versendung an der für das Reihengeschäft erforderlichen Unmittelbarkeit der Warenbewegung fehlt (Abschnitt 3.14 Abs. 4 Satz 1 UStAE). Der Vorgang spaltet sich damit in mehrere hintereinandergeschaltete und getrennt zu beurteilende Einzellieferungen auf. An der Beförderung oder Versendung des Liefergegenstands können nach dem BMF-Schreiben v. 07.12.2015 entweder nur der Lieferer oder nur der Abnehmer bzw. in deren jeweiligen Auftrag ein Dritter beteiligt sein. Möglich ist aber auch, dass sowohl der Lieferer als auch der Abnehmer in den Transport des Liefergegenstands eingebunden sind, weil sie z. B. übereingekommen sind, sich - unabhängig von der Frage, wer Kosten und Gefahr trägt - den Transport des Liefergegenstands an den Bestimmungsort zu teilen (sog. gebrochene Beförderung oder Versendung).

Sachverhalt

Das FG Berlin-Brandenburg hatte über einen Fall der Aussetzung der Vollziehung zu entscheiden. Das Hauptsacheverfahren (7 K 7214/17) ist noch nicht entschieden.

Der Unternehmer, der die Aussetzung der Vollziehung beantragt hat (Antragstellerin), eine deutsche GmbH (DE), handelt mit Elektrotechnik. Streitgegenstand sind u. a. Lieferungen eines in Großbritannien ansässigen Unternehmers (VK). DE bestellte die Waren bei VK und verkaufte sie an den in Russland ansässigen Abnehmer (RU) weiter. Die Waren wurden aus Großbritannien direkt in ein Zwischenlager nach Litauen transportiert, wo sie umgepackt und dann von dort nach Russland weitertransportiert wurden. Dies geschah auf Wunsch von RU, der gegenüber DE angab, es gehe darum, die Waren mit anderen Einkäufen zu bündeln und mit diesen gemeinsam nach Russland bringen zu lassen. DE verwendete gegenüber VK ihre deutsche USt-Id-Nr. Die an DE adressierte Rechnung von VK weist eine USt von 0,00 €, als Lieferadresse eine Anschrift in Litauen und die deutsche USt-Id-Nr. von DE sowie die Angabe „Delivery term: C…, Lithuania“ aus. Die Ausfuhrmeldungen für die Ausfuhren nach Russland wurden von DE erstellt, die Ausfuhrnachweise in litauischer Sprache und die Rechnungen von DE an RU enthalten jeweils die Angaben „Steuerfreie Lieferung“ und „Lieferbedingungen: EXW  D…, Lithuania“. Es liegt zudem eine Bestätigung von RU vor, wonach die Gegenstände im Konsolidierungslager in Litauen durch eine von RU beauftragte Spedition abgeholt und nach Russland gebracht worden seien. DE erklärte hinsichtlich der Lieferungen von VK im Inland zum Regelsteuersatz steuerpflichtige innergemeinschaftliche Erwerbe und machte in Höhe der darauf entfallenden USt den Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG geltend. Das FA des DE ist der Auffassung, DE habe hinsichtlich der Lieferungen von VK zwar innergemeinschaftliche Erwerbe getätigt. Diese seien nach § 3d Satz 1 UStG aber grundsätzlich in Litauen steuerbar. Aus § 3d Satz 2 UStG ergebe sich allerdings zusätzlich ein fiktiver in Deutschland steuerbarer innergemeinschaftlicher Erwerb. Für diesen fiktiven innergemeinschaftlichen Erwerb in Deutschland bestehe aber kein Vorsteuerabzugsrecht nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG. Erst wenn DE die Erwerbsbesteuerung in Litauen nachweise, könne der Ansatz des fiktiven innergemeinschaftlichen Erwerbs in Deutschland nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4 UStG berichtigt werden.

Entscheidung

Das FG Berlin-Brandenburg hat auf Aussetzung der Vollziehung entschieden. Das FG erkennt es für zweifelhaft, dass DE nach § 3d Satz 2 UStG einen innergemeinschaftlichen Erwerb zu versteuern hat.

Auch § 3d Satz 2 UStG setze voraus, dass tatsächlich ein innergemeinschaftlicher Erwerb vorliegt, wenn auch in einem anderen Mitgliedstaat. DE könne einen innergemeinschaftlichen Erwerb zunächst nur dann getätigt haben, wenn die Lieferungen von VK an DE bewegte Lieferungen waren, also Lieferungen, denen eine grenzüberschreitende Warenbewegung zuzuordnen ist. Davon sei zunächst ohne ernstliche Zweifel auszugehen. Wenn es jeweils eine Lieferung von VK an DE mit Warenbewegung von Großbritannien nach Litauen und eine weitere Lieferung von DE an RU mit davon umsatzsteuerlich getrennt zu betrachtender Warenbewegung von Litauen nach Russland gegeben hätte, läge das Vorliegen eines innergemeinschaftlichen Erwerbs durch DE auf der Hand.

Dies lasse sich aber auf Grundlage der präsenten Beweismittel nicht ohne Weiteres feststellen. Denkbar wäre auch das Vorliegen von Reihengeschäften, bei denen die Warenbewegung schon ab Großbritannien erst den Lieferungen von DE an RU zuzuordnen wäre mit der Folge, dass die Lieferungen von VK an DE ruhende Lieferungen wären, was innergemeinschaftliche Lieferungen durch VK und innergemeinschaftliche Erwerbe durch DE ausschlösse. Sollten Reihengeschäfte vorgelegen haben, also jeweils eine Lieferung von VK an DE und eine Weiterlieferung von DE an RU mit nur einer einheitlichen, in Großbritannien beginnenden grenzüberschreitenden Warenbewegung (insoweit unabhängig von der Frage, wo – außerhalb von Großbritannien - diese Warenbewegung endete), so wäre diese Warenbewegung nur einer der beiden Lieferungen zuzuordnen. Der Lieferung von VK an DE zuzuordnen wäre die Warenbewegung nur, wenn die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über den Gegenstand zu verfügen, auf RU nicht vor der grenzüberschreitenden Beförderung stattgefunden hätte. Auch der BFH (Urt. v. 25.02.2015 XI R 30/13, BFH/NV 2015, 769 und XI R 15/14, BFH/NV 2015, 772) gehe von diesen Grundsätzen aus und ergänze diese durch die Regel, dass im Zweifel die Warenbewegung der ersten Lieferung im Reihengeschäft zuzuordnen ist.

Diese Voraussetzung für einen innergemeinschaftlichen Erwerb sei hier, so das FG Berlin-Brandenburg zunächst nach Aktenlage mit hoher Wahrscheinlichkeit zu bejahen, d. h. es sei von einer bewegten Lieferung von VK an DE auszugehen. Die Verfügungsmacht dürfte demnach frühestens in Litauen auf RU übergegangen und damit nach Beginn der Beförderung in Großbritannien.

Für innergemeinschaftliche Erwerbe von DE sei außerdem erforderlich, dass die jeweils maßgebliche, der Lieferung von VK an DE zuzuordnende Warenbewegung in Litauen und nicht in Russland endete. Auf Grundlage des Sachvortrags und der präsenten Beweismittel komme es aber ernsthaft in Betracht, dass eine einheitliche Warenbewegung von Großbritannien nach Russland (ggf. als gebrochene Lieferung) vorlag. Der EuGH habe im Zusammenhang in Auslegung der innergemeinschaftliche Erwerbe und Lieferungen betreffenden Art. 20 und 138 MwStSystRL entschieden, dass die Anwendbarkeit dieser Bestimmungen nicht davon abhängt, dass die Beförderung des in Rede stehenden Gegenstands zum Erwerber binnen einer bestimmten Frist beginnen oder abgeschlossen sein muss. Ausreichend sei vielmehr ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen der Lieferung des in Rede stehenden Gegenstands und seiner Beförderung sowie ein kontinuierlicher Ablauf des Vorgangs. Es sei auch nicht generell schädlich, wenn der in Rede stehende Gegenstand vor oder während der Beförderung in irgendeiner Weise verwendet wird (EuGH, Urt. v. 18.11.2010, C-84/09, X). Auch eine etwaige Bearbeitung der Gegenstände nach den Erstlieferungen ändere nichts am Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung, weil die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen nicht voraussetze, dass dieselben – unbearbeiteten – Waren geliefert werden (EuGH, Urt. v. 26.07.2017 C-386/16 - Toridas, BFH/NV 2017, 1406).

Das FG Berlin-Brandenburg geht davon aus, dass diese EuGH-Rechtsprechung auch auf Ausfuhrlieferungen und andere bewegte Lieferungen übertragbar ist und dass sich daraus im Streitfall auch die Unbeachtlichkeit der Zwischenlagerung und Umverpackung der Waren in Litauen vor ihrem Weitertransport nach Russland ableiten lässt. Vor diesem Hintergrund komme es ernstlich in Betracht, dass den Lieferungen von VK an DE eine einheitlich zu betrachtende Warenbewegung von Großbritannien nach Russland zuzuordnen sein könnte. Wenn die maßgebliche Warenbewegung erst in Russland endete, läge aber keine innergemeinschaftliche Lieferung und spiegelbildlich auch kein innergemeinschaftlicher Erwerb vor. In tatsächlicher Hinsicht sei durch die vorgelegten Unterlagen (Eingangsrechnungen von VK und Ausgangsrechnungen an RU sowie Ausfuhrbelege) glaubhaft gemacht, dass die Gegenstände der Lieferungen von VK an DE jeweils innerhalb von weniger als einem Monat nach den Rechnungsdaten der Eingangsrechnungen nach Russland verbracht wurden. Da die Eingangsrechnungen jeweils auf die Vereinbarung einer Vorauszahlungspflicht von DE vor Lieferung hinwiesen, sei davon auszugehen, dass die Warenbewegungen ab Großbritannien nicht vor dem jeweiligen Rechnungsdatum begonnen haben. Es komme ernstlich in Betracht, dass diese Tatsachengrundlage in rechtlicher Hinsicht bereits für die Feststellung einer einheitlichen Warenbewegung von Großbritannien nach Russland ausreicht. Es sei zwar nach Aktenlage nicht erkennbar, ob VK wusste, dass die Gegenstände nach kurzer Zwischenlagerung und Umverpackung in Litauen nach Russland gebracht werden würden, oder ob VK glaubte, dass die maßgebliche Beförderung oder Versendung in Litauen endete. Ob es auf ihre subjektive Kenntnis aber überhaupt ankomme, sei rechtlich zweifelhaft. Der BFH-Rechtsprechung (BFH, Urt. v. 30.07.2008 XI R 67/07, BStBl II 2009, 552; bestätigt durch BFH, Urt. v. 20.10.2016 V R 31/15, BFH/NV 2017, 411) sei zu entnehmen, dass eine gebrochene Lieferung, also die Aufteilung der Transportdurchführung zwischen den Beteiligten, als solche der Annahme einer umsatzsteuerlich einheitlichen Warenbewegung nicht entgegensteht. Dass im hier vorliegenden Fall bei Beginn des Transports in Großbritannien jeweils bereits objektiv feststand, dass die Waren nach der Zwischenlagerung nach Russland weitertransportiert werden sollten, habe das FA als solches nicht in Zweifel gezogen, sondern nur den fehlenden Nachweis gerügt, dass der Transport nach Litauen allein zum Zwecke der Verschiffung nach Russland erfolgt sei. Dies werde zwar in dem BMF-Schreiben vom 07.12.2015 als Voraussetzung genannt, sei aber für das FG nicht bindend. Der höchstrichterlichen Rechtsprechung sei eine entsprechende Beschränkung aber gerade nicht zu entnehmen. Auch die subjektive Behandlung des Vorgangs durch VK sei zwar nach dem BMF-Schreiben maßgeblich; ob es darauf aber aus Rechtsgründen wirklich ankomme, sei zu bezweifeln.

Praxishinweis

Das FG stellt mit seiner Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung die Verwaltungsauffassung infrage, dass das Vorliegen einer gebrochenen Beförderung für die Annahme eines Reihengeschäfts schädlich ist. Demnach würde wie im Ausgangsfall, in dem die Ware unstreitig vom Letztabnehmer RU in Litauen übernommen und nach Russland an den endgültigen Bestimmungsort transportiert wurde, ein Reihengeschäft vorliegen. Fraglich wäre dann aber, welcher Lieferung in der Reihe die Warenbewegung zuzuordnen ist. VK hat über eine innergemeinschaftliche Lieferung abgerechnet, was darauf hindeutet, dass seine Lieferung die warenbewegte war. Die Frage ist, ob diese Lieferung tatsächlich erst in Russland enden kann, wenn DE wie vorliegend in Litauen eine Ausfuhr angemeldet hat und über eine steuerfreie Ausfuhrlieferung abgerechnet hat. Fraglich ist, ob bei einer solchen Konstellation allen Beteiligten klar sein müsste, welcher endgültige Bestimmungsort die Ware zum Zeitpunkt des Beginns der Beförderung oder Versendung hat. Dies war aber offensichtlich in der Person von VK nicht der Fall, weil VK bei Annahme einer durchgehenden Warenbewegung nach Russland gegenüber DE über eine Ausfuhrlieferung hätte abrechnen müssen (auch wenn DE den Vorgang erst in Litauen zur Ausfuhr anmeldet). Offenbar wusste aber nur DE (aufgrund seiner Lieferbeziehung mit RU), dass die Ware nach Russland gelangen würde.

Die Entscheidung hat erhebliche Auswirkung auf Lieferketten und stellt zudem die deutsche Verwaltungsauffassung zur gebrochenen Beförderung / Versendung, insbesondere in Reihengeschäftskonstellationen, infrage. Alle betroffenen Unternehmen sollten die Entwicklung beobachten. Die vorliegende Entscheidung erfolgte im summarischen Verfahren der Aussetzung der Vollziehung. Die Hauptsache und der Instanzenweg bleiben abzuwarten. Grundsätzlich verdeutlicht die Entscheidung aber die Bedeutung einer Überprüfung von Lieferketten auf mögliche Probleme mit dem Ziel, Risiken abzustellen. Das USt-Team der AWB hilft Ihnen gerne weiter.

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