Ort der Dienstleistung, interaktive erotische Webcam-Darbietungen

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 08.05.2019, C-568/17, L. W. Geelen

Praxisproblem

Bei dem niederländischen Vorabentscheidungsersuchen ging es um die Bestimmung des Orts der Dienstleistung bei interaktiven erotischen Live-Webcam-Darbietungen nach den bis 31.12.2009 geltenden Ortsregelungen.

Sachverhalt

In dem Verfahren ging es um einen in den Niederlanden ansässigen Unternehmer, der über Internetplattformen bestimmter Internetprovider gegen Bezahlung Webcam-Darbietungen mit bei ihm beschäftigten Models gegen Bezahlung anbot, die sich zum Zeitpunkt der Darbietungen auf den Philippinen befanden. Während der Darbietungen wurden Livebilder gezeigt. Interaktionen zwischen dem Model und dem Besucher waren möglich. Verschiedene Besucher konnten gleichzeitig an einer Darbietung mit demselben Model teilnehmen. Die Besucher konnten sich überall auf der Welt befinden.

Die niederländische Finanzbehörde war der Ansicht, dass der umsatzsteuerliche Leistungsort dieser Dienstleistungen in den Niederlanden liege. Hiergegen wandte sich der Kläger, der in den Niederlanden keine Umsatzsteuererklärungen abgegeben hatte.

Das vorlegende Gericht wollte im Wesentlichen wissen,

  1. ob die entgeltliche Bereitstellung interaktiver erotischer Live-Webcam-Darbietungen (als Unterhaltungsdienstleistungen) unter die Ortsregelung nach Art. 52 Buchst. a MwStSystRL i. d. F. bis 01.01.2010 fällt und, bejahendenfalls, ob „unter Ort, an dem die Dienstleistungen tatsächlichen bewirkt werden“ der Ort maßgebend ist, an dem die Models vor der Webcam auftreten, an dem die Besucher die Bilder ansehen, oder ein anderer Ort;
  2. ob die entgeltliche Bereitstellung interaktiver erotischer Live-Webcam-Darbietungen als eine „auf elektronischem Wege erbrachte Dienstleistung“ unter die Ortsregelung des Art. 56 Abs. 1 Buchst. k MwStSystRL i. d. F. bis 01.01.2010 fällt;
  3. welche Ortsregelung ggf. den Vorrang hat.

Entscheidung

Zu der Frage, ob die Bereitstellung interaktiver erotischer Live-Webcam-Darbietungen eine „Tätigkeit auf dem Gebiet der Unterhaltung“ i. S. v. Art. 9 Abs. 2 Buchst. c erster Gedankenstrich der 6. EG-Richtlinie bzw. Art. 52 Buchst. a MwStSystRL darstellt und falls ja, an welchem Ort eine solche Dienstleistung i. S. d. Vorschriften „tatsächlich bewirkt“, hat der EuGH unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung (vgl. EuGH v. 26.09.1996, C-327/94, Dudda, EuGH v. 12.05.2005, C-452/03, RAL Channel Islands) wie folgt entschieden:

Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der 6. EG-Richtlinie setzt für die dort genannten Tätigkeiten kein besonderes künstlerisches Niveau voraus und die Vorschrift gilt nicht nur für Leistungen, die sich auf Tätigkeiten auf dem Gebiet insbesondere der Unterhaltung beziehen, sondern auch solche, die sich auf nur ähnliche Tätigkeiten beziehen. Die interaktiven Darbietungen im Ausgangsverfahren sind aufgrund der Gesamtumstände (Mitwirkung eines Service-Providers, Einflussnahme der Kunden auf die Darbietungen) nicht mit klassischen kulturellen Veranstaltungen wie einem Konzert, einer Messe oder einer Ausstellung vergleichbar, weil der Kläger mit der von ihm angebotenen Dienstleistung nicht den Zugang zu einer an einem bestimmten Ort während eines bestimmten Zeitraums erbrachten Dienstleistung eröffnen wolle, sondern sowohl die Schaffung als auch die Verbreitung einer Kategorie von Shows organisiere und ermögliche, die jederzeit und an jedem Ort stattfinden können, und zwar im Rahmen von interaktiven Darbietungen, die über das Internet zugänglich sind.

Es sei unstreitig, dass der Zweck der Dienstleistung darin bestehe, den Kunden eine Quelle der Unterhaltung zu bieten, so dass Art. 9 Abs. 2 Buchst. c erster Gedankenstrich der 6. EG-Richtlinie anwendbar sei. Zwar hätten die unterschiedlichen Kategorien von Dienstleistungen in Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der 6. EG-Richtlinie u. a. gemeinsam, dass sie im Allgemeinen anlässlich punktueller Veranstaltungen erbracht werden und der Ort, an dem diese Dienstleistungen tatsächlich bewirkt werden, grds. einfach festzustellen ist, weil diese Veranstaltungen an einem bestimmten Ort stattfinden. Gleichwohl, so jetzt der EuGH, sei Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der 6. EG-Richtlinie nach seinem Wortlaut nicht zwingend auf solche allgemeinen anlässlich punktueller Veranstaltungen erbrachte Dienstleistungen beschränkt. Mangels einer ausdrücklichen Klarstellung in der Vorschrift bzgl. der leichten Identifizierbarkeit oder der genauen Bestimmung des Ortes, an dem die Tätigkeit auf dem Gebiet der Unterhaltung tatsächlich bewirkt wird, stehen weder der Umstand, dass eine Dienstleistung nicht in physischer Anwesenheit der Kunden erbracht wird, noch die Tatsache, dass die Kunden die Dienstleistung nicht von einem einzigen Ort aus in Anspruch nehmen, der Anwendung dieser Vorschrift entgegen.

Da die für die Ausführung der Dienstleistung unabdingbaren Tätigkeiten an dem Ort zusammenkommen, von dem aus der leistende Unternehmer zum einen die interaktiven Darbietungen organisiert, und zum anderen den Kunden die Möglichkeit gibt, die Darbietungen über das Internet vom Ort ihrer Wahl aus zu betrachten und mit den Modellen zu interagieren, ist nach dem EuGH-Urteil eine solche komplexe Dienstleistung als an dem Ort i. S. v. Art. 9 Abs. 2 Buchst. c der 6. EG-Richtlinie „tatsächlich bewirkt“ anzusehen, an dem diese vom Unternehmer erbracht wird, d. h. im Ausgangsverfahren am Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit in den Niederlanden. Zwar entspricht dieser Leistungsort der Grundregel nach Art. 9 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie, aber Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie stellt eben keine Ausnahme von dieser Grundregel dar.

Zu der Frage, ob die Dienstleistung im Ausgangsverfahren eine „auf elektronischem Wege erbrachte Dienstleistung“ i. S. v. Art. 9 Abs. 2 Buchst. e zwölfter Gedankenstrich der 6. EG-Richtlinie und Art. 56 Abs. 1 Buchst. k MwStSystRL iVm Art. 11 der VO Nr. 1777/2005 darstellt, hat der EuGH entschieden, dass diese Vorschriften nicht anwendbar sind, wenn die Leistungsempfänger (wie im Ausgangsverfahren) ausnahmslos im Mitgliedstaat des leistenden Unternehmers ansässig sind. Somit bleibt die eigentliche Frage, ob ggf. elektronische Dienstleistungen vorliegen können, unbeantwortet.

Praxishinweis

Das deutsche Recht ist von dem Urteil grds. betroffen. Die Antworten des EuGH sind, obwohl es um das vor dem 01.01.2010 geltende Recht zum Ort der Dienstleistungen geht, im Wesentlichen auch für die aktuellen Ortsregelungen von Bedeutung (Anwendbarkeit von Art. 54 Abs. 1, 58 oder 45 MwStSystRL).

Interaktive Dienstleistungen, die über das Internet erbracht werden, können als unterhaltende Leistungen am Sitzort des leistenden Unternehmers steuerbar sein. Dies dürfte nicht nur erotische Darbietungen, wie den Ausgangsfall betreffen, sondern auch andere Leistungen, in denen der Kunde Einfluss auf die Art der Leistung bzw. den Leistungsinhalt nimmt und es für die Inanspruchnahme der Leistung eines entsprechenden Internet-Accounts bedarf. Dies könnte z. B. auch für die Veranstaltungen von Glücksspielen (Internet-Poker) oder andere Darbietungen im Internet denkbar sein, bei denen der Kunde die Möglichkeit der Interaktion hat. Dies könnte ggf. auch unterrichtende oder ähnliche Tätigkeiten betreffen, die unter vergleichbaren Umständen wie im Ausgangsverfahren ausgeführt werden (Mitwirkung eines Service-Providers, angestellte Lehr- oder Unterrichtungskräfte, die vom Ausland aus agieren).

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