Unionsrechtlicher Anspruch auf Verzinsung von Vorsteuerguthaben oder Umsatzsteuererstattungen

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 12.05.2021, C-844/19, technoRent International u. a.

Sachverhalt

Bei dem österreichischen Vorabentscheidungsersuchen ging es um die Verzinsung von Umsatzsteuerguthaben. Dem Vorlagebeschluss lagen zwei Streitsachen zugrunde. Gemeinsam war den Sachverhalten, dass das österreichische Abgabenrecht keine allgemeine Regelung betreffend die Verzinsung von Abgabenschulden enthält. Die erste Rechtssache betraf die verspätete Erstattung eines Vorsteuerüberhangs. Der in Österreich ansässige Kläger machte in seiner Umsatzsteuer-Voranmeldung einen Vorsteuerüberschuss geltend. Das FA setzte aufgrund anderer Rechtsauffassung in Bezug auf den Vorsteueranspruch den verbleibenden Vorsteuerüberschuss geringer fest. Die hiergegen gerichtete Klage des Steuerpflichtigen hatte Erfolg. Daraufhin wurde die Umsatzsteuerfestsetzung wie ursprünglich begehrt geändert. Im Anschluss beantragte der Kläger aufgrund der sich verzögerten Auszahlung des Vorsteuerüberschusses durch das FA die Zahlung von (Verzugs-)Zinsen. Das FA lehnte dies mangels Existenz einer nationalen Regelung bzgl. der Verzinsung von Umsatzsteuerforderungen ab. Der Kläger war der Auffassung, dass ihm das Unionsrecht unmittelbar einen Anspruch auf Verzugszinsen aus dem Vorsteuerguthaben einräume.

In der zweiten Rechtssache ging es nicht um einen Vorsteuerüberhang, sondern um eine Umsatzsteuerforderung des Steuerpflichtigen gegenüber dem FA, die sich aus einer Entgeltsminderung ergeben hatte. Das FA erkannte die Minderung zunächst nicht an. Erst nach erfolgreichem Klageverfahren wurde das Guthaben der GmbH gutgeschrieben. Im Anschluss beantragte die GmbH unter Verweis auf die Entscheidungen des EuGH (u. a. EuGH v. 19.07.2012, C-591/10, Littlewoods Retail Ltd) ebenfalls die Zahlung von (Verzugs-)Zinsen. Das FA lehnte dies mangels Existenz einer nationalen Zinsnorm ab.

Das Vorlagegericht hatte Zweifel, ob das Unionsrecht eine unmittelbar anwendbare Regelung enthält, auf welche sich der Steuerpflichtige berufen kann, um Verzugszinsen zu erhalten. 

Entscheidung

Der EuGH hat unter Bezugnahme auf frühere Rechtsprechung zu Art. 183 MwStSystRL entschieden, dass das nationale Recht es dem Unternehmer erlauben muss, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus einem Vorsteuerüberschuss resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen, was impliziert, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist durch eine Zahlung flüssiger Mittel oder auf gleichwertige Weise erfolgt und dass dem Steuerpflichtigen durch die gewählte Methode der Erstattung auf keinen Fall ein finanzielles Risiko entstehen darf (vgl. EuGH v. 12.05.2011, Enel Maritsa Iztok 3, C 107/10). Hätte der Unternehmer in dem Fall, dass die Erstattung des Vorsteuerüberschusses nicht innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt, keinen Anspruch auf Verzugszinsen, so würde dadurch seine Situation negativ beeinträchtigt, was gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstieße. Der Neutralitätsgrundsatz verlangt, auch wenn Art. 183 MwStSystRL weder eine Pflicht zur Zahlung von Zinsen auf einen zu erstattenden Vorsteuerüberschuss vorsieht noch angibt, ab wann solche Zinsen zu zahlen wären, dass die finanziellen Verluste, die dadurch entstehen, dass ein Vorsteuerüberschuss nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet wird, durch die Zahlung von Verzugszinsen ausgeglichen werden (vgl. EuGH v. 28.02.2018, Nidera, C 387/16; EuGH v. 14.05.2020, Agrobet CZ, C 446/18). Dies gilt nach dem Urteil auch für Mehrwertsteuererstattungen, die sich aus einer Minderung der Bemessungsgrundlage nach Art. 90 Abs. 1 MwStSystRL ergeben.

Zu der Frage, nach welchem Verfahren eine Erstattung, die sich aus einer Minderung der Bemessungsgrundlage nach Art. 90 Abs. 1 MwStSystRL ergibt oder eine Erstattung eines Vorsteuerüberschusses nach Art. 183 MwStSystRL zu verzinsen ist, wenn die Steuererstattung nicht innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt, weist der EuGH darauf hin, dass diese Bestimmungen hierzu keine näheren Angaben enthalten, insbes. nicht zu dem anwendbaren Zinssatz und dem Zeitpunkt, ab dem solche Zinsen fällig wären. Da sowohl die nationalen Verwaltungsbehörden als auch die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden haben, gehalten sind, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen (vgl. EuGH v. 05.03.2019, Eesti Pagar, C 349/17, EU:C:2019:172, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung), wird nach der vorliegenden EuGH-Entscheidung das vorlegende Gericht insbes. zu prüfen haben, ob es möglich ist, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter analoger Anwendung von Bestimmungen des nationalen Rechts sicherzustellen..

Praxishinweis

Das deutsche Recht ist von dem Urteil grds. betroffen. Zwar sieht das deutsche Recht in § 233a AO - im Gegensatz zu Österreich - eine allgemeine Regelung betreffend die Verzinsung von Abgabenschulden vor. Da der EuGH einen Verzinsungsanspruch aus MwSt-Guthaben bereits unmittelbar aus dem Unionsrecht ableitet, stellt sich die Frage nach dem Rangverhältnis und den verschiedenen Anwendungsbereichen der Anspruchsnormen. Auch unter dem Gesichtspunkt der derzeitigen Diskussion um die Höhe der Verzinsung (Zinssatz) nach § 233a AO (Angemessenheit der 6 %-Verzinsung) kann das EuGH-Urteil von Bedeutung sein.

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