EuGH zu rückwirkenden Bewilligungen

EuGH, Urteil v. 21.10.2021, Rs. C-825/19, Beeren-, Wild-, Feinfrucht GmbH

I Sachverhalt und Grundproblem

Die Beeren-, Wild- und Feinfrucht GmbH (BWF) verarbeitet und vertreibt in Salzlake haltbar gemachte Pilze, die zum unmittelbaren Genuss nicht geeignet und für die Lebensmittelkonservenindustrien bestimmt sind. Im Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2012 verfügte BWF über eine Bewilligung „zur Überführung von Nicht-Unionswaren in den zollrechtlich freien Verkehr zur besonderen Verwendung“, auf deren Grundlage sie diese Waren unter Zollaussetzung einführte.

BWF setzte die Einfuhren fort, ohne eine Verlängerung der Bewilligung beantragt zu haben. Bei einer Betriebsprüfung stellte die zuständige Behörde fest, dass BWF nicht mehr über die erforderliche Bewilligung verfügte. Daher stellte BWF am 9. Januar 2015 einen Antrag auf Verlängerung der Bewilligung, die ihr bis zum 31. Dezember 2012 erteilt worden war. Daraufhin erteilte die Behörde BWF eine neue Bewilligung mit Rückwirkung auf den Tag der Antragstellung, d.h. den 9. Januar 2015.

In der Folge beantragte BWF die Rückwirkung der neuen Bewilligung bis zum 1. Januar 2013, an dem die ursprüngliche Bewilligung abgelaufen sei, auszuweiten. Den Antrag lehnte die Zollbehörde aufgrund von Art. 294 Abs. 2 ZK-DVO ab. Sie vertrat die Auffassung, BWF könne sich auch nicht auf die Anwendung von Abs. 3 dieses Artikels berufen, da sich zum einen nach dieser Bestimmung die Rückwirkung einer Bewilligung nur auf einen Zeitraum von längstens einem Jahr vor dem Zeitpunkt der Antragstellung erstrecken könne, und zum anderen BWF keine wirtschaftliche Notwendigkeit nachgewiesen habe. Ferner sei BWF, die trotz entsprechender Hinweise die rechtzeitige Beantragung einer Erneuerung versäumt habe, aufgrund ihrer offensichtlichen Fahrlässigkeit keine solche Rückwirkung zu gewähren.

BWF war hingegen der Auffassung, dass  zum einen die Rechtmäßigkeit der ablehnenden Einspruchsentscheidung vom 6. April 2016, keine rückwirkende Bewilligung für den Zeitraum vom 1. Januar 2013 bis 8. Januar 2015 zu erteilen, anhand von Art. 211 UZK zu prüfen sei, der am 1. Mai 2016 Geltung erlangt habe. Dieser Artikel sei eine „reine“ Verfahrensvorschrift, die rückwirkend anzuwenden sei. Zum anderen habe die Zollbehörde Art. 294 Abs. 3 ZK-DVO verkannt, indem sie erstens das in Buchst. a dieser Bestimmung vorgesehene Kriterium der „offensichtlichen Fahrlässigkeit“ im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf Erneuerung einer Bewilligung gemäß Art. 294 Abs. 2 ZK-DVO angewandt habe. Zweitens sei die Behörde zu Unrecht davon ausgegangen, dass die in Art. 294 Abs. 3 ZK-DVO vorgesehene zeitliche Begrenzung der Rückwirkung von Bewilligungen auf Anträge nach Abs. 2 anwendbar sei.

Im März 2019 erließ die Zollbehörde sodann einen neuen auf Art. 294 Abs. 2 ZK-DVO gestützten Bescheid, mit dem sie den Antrag auf Bewilligung mit Rückwirkung auf den 1. Januar 2013 ablehnte. Dieser Bescheid beruhte auf einer Begründung, die von der vorangegangenen Entscheidung abweicht. Er wurde erlassen, nachdem das vorlegende Gericht den Parteien mitgeteilt hatte, dass es die vorausgegangenen Entscheidungen der Zollbehörde aus Mai 2015 und April 2016 für rechtswidrig halte, da die Zollbehörde das ihr eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt habe. Der Bescheid der Zollbehörde vom 21. März 2019 wäre damit ein korrigierter Verwaltungsakt.

Im Rahmen des Vorabentscheidungsersuchens des Thüringer Finanzgerichts hatte der EuGH sodann die Frage zu klären, ob Art. 211 Abs. 2 UZK dahin auszulegen ist, dass er auf einen Antrag auf rückwirkende Erneuerung einer Bewilligung, der vor dem 1. Mai 2016, ab dem dieser Artikel gemäß Art. 288 Abs. 2 UZK gilt, gestellt wurde, anwendbar ist, wenn die Entscheidung über diesen Antrag nach diesem Zeitpunkt ergangen ist. Weiterhin beschäftigte sich der Gerichtshof mit der Frage, ob Art. 294 Abs. 2 ZK-DVO dahin auszulegen ist, dass für die Erteilung einer neuen rückwirkenden Bewilligung durch die Zollbehörden für denselben Vorgang und dieselben Waren wie die, die Gegenstand der ursprünglichen Bewilligung waren, ebenfalls die in Abs. 3 dieses Artikels niedergelegten Voraussetzungen gelten.

II Urteil des EuGH

Zunächst verweist der EuGH auf seine ständige Rechtsprechung zu den zeitlichen Anwendungsbereichen neuer zollrechtlicher Vorschriften. Danach ist von zentraler Bedeutung, ob es sich bei den betreffenden Normen um „Verfahrensvorschriften“ oder um „materiell-rechtliche Vorschriften“ handelt. Erstere sind im Allgemeinen auf alle bei ihrem Inkrafttreten anhängigen Rechtsstreitigkeiten anwendbar, während Zweitere gewöhnlich so ausgelegt werden, dass sie auf die künftigen Wirkungen von unter dem alten Recht entstandenen Sachverhalten sowie auf neue Rechtspositionen anwendbar sind, jedoch nicht auf abgeschlossene Sachverhalte, die vor Inkrafttreten dieser Vorschriften entstanden sind, soweit nicht aus ihrem Wortlaut, ihrem Zweck oder ihrem Aufbau eindeutig hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Februar 2006, Molenbergnatie, C 201/04, EU:C:2006:136, Rn. 31, vom 9. März 2006, Beemsterboer Coldstore Services, C 293/04, EU:C:2006:162, Rn. 21, und vom 3. Juni 2021, Jumbocarry Trading, C 39/20, EU:C:2021:435, Rn. 29).

Der Gerichtshof prüft sodann die durch ihn zusammengefassten Vorlagefragen, ob Art. 211 Abs. 2 UZK dahin auszulegen ist, dass er auf einen Antrag auf rückwirkende Erneuerung einer Bewilligung, der vor dem 1. Mai 2016, ab dem dieser Artikel gemäß Art. 288 Abs. 2 UZK gilt, gestellt wurde, anwendbar ist, wenn die Entscheidung über diesen Antrag nach diesem Zeitpunkt ergangen ist. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass Art. 211 Abs. 2 UZK nicht auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation anwendbar ist. Nach Auffassung des Gerichtshofs enthält Art. 211 Abs. 2 Buchst. a bis h UZK eine abschließende Aufzählung der Voraussetzungen für die rückwirkende Erteilung einer Bewilligung, die nach Abs. 1 dieses Artikels u. a. für die Inanspruchnahme der Endverwendung erforderlich ist. In der in Art. 254 UZK vorgesehenen Endverwendung können Waren aufgrund ihres besonderen Zwecks abgabenfrei oder zu einem ermäßigten Abgabensatz zum zollrechtlich freien Verkehr überlassen werden.

In Übereinstimmung mit den Schlussanträgen des Generalanwalts kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Voraussetzungen gem. Art. 211 Abs. 2 UZK, von denen die Erteilung einer solchen Bewilligung abhängt, entweder ganz oder vorwiegend um materielle Voraussetzungen für die Erteilung einer rückwirkenden Bewilligung handele. Sie seien nämlich maßgebend dafür, dass beim Anmelder die Zollschuld für die betreffenden Waren bestehe. Daraus folge, dass Art. 211 Abs. 2 UZK als neue materiell rechtliche Vorschrift nicht auf Rechtspositionen angewandt werden könne, die unter Geltung der alten Regelung entstanden sind und erworben wurden, es sei denn, aus dem Wortlaut der Norm, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau gehe eindeutig hervor, dass sie unmittelbar auf solche Rechtspositionen angewandt werden soll.

Der Gerichtshof stellt fest, dass der Gesetzgeber mit Art. 288 Abs. 2 UZK eine besondere zeitliche Bestimmung erlassen hat, die die zeitliche Geltung der Normen des UZK regelt. Danach haben andere als die in Art. 288 Abs. 1 UZK genannten Artikel, darunter die Art. 211, 254 UZK, erst ab dem 1. Mai 2016 Geltung erlangt, selbst wenn der UZK gemäß seinem Art. 287 am 30. Oktober 2013 in Kraft getreten ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juni 2021, Jumbocarry Trading, C 39/20, EU:C:2021:435, Rn. 5 und 29 m.w.N.).

Für den vorliegenden Fall kommt der Gerichtshof daher zu dem Ergebnis, dass Art. 211 UZK nicht auf einen eine Zollschuld begründenden Sachverhalt anwendbar ist, der sich vor dem 1. Mai 2016 ereignet hat. Insbesondere betont der Gerichtshof, dass aus der Vorlageentscheidung hervorgehe, dass die BWF zwischen dem 31. Dezember 2012, an dem die ursprüngliche Bewilligung ablief, und dem 9. Januar 2015, an dem die von der Zollbehörde rückwirkend erteilte Bewilligung wirksam wurde, weiterhin dieselben Waren einführte wie die von der ursprünglichen Bewilligung erfassten, ohne eine Erneuerung dieser Bewilligung beantragt zu haben.

Der EuGH sieht die Umstände des Falles als Sachverhalt an, der unter der Geltung des alten Rechts entstanden ist, d. h. unter Art. 294 Abs. 2 ZK-DVO. Der Sachverhalt, auf den sich die streitige Zollschuld bezieht und für den die Klägerin des Ausgangsverfahrens eine Befreiung beantragt, hat sich somit vor dem 1. Mai 2016, an dem Art. 211 UZK Geltung erlangt hat, zugetragen.

Der Umstand, dass das Verwaltungsverfahren mit dem Bescheid aus März 2019 über die Ablehnung des Antrags auf Erneuerung der Bewilligung mit Rückwirkung zum 1. Januar 2013 abgeschlossen wurde, einem Bescheid, der somit zu einem Zeitpunkt erlassen wurde, zu dem Art. 211 UZK bereits galt, sei für eine unter der ZK-DVO entstandene und erworbene Rechtsposition unerheblich.

Der Gerichtshof prüft sodann, ob Art. 294 Abs. 2 ZK-DVO dahin auszulegen ist, dass für die Erteilung einer neuen rückwirkenden Bewilligung durch die Zollbehörden für denselben Vorgang und dieselben Waren wie die, die Gegenstand der ursprünglichen Bewilligung waren, ebenfalls die in Abs. 3 dieses Artikels niedergelegten Voraussetzungen gelten.

Der Gerichtshof verneinte diese Frage. Er folgert sein Ergebnis aus der Systematik der Norm und begründet dies damit, dass Art. 294 Abs. 2 ZK-DVO nur die Erneuerung von Bewilligungen, die für denselben Vorgang und dieselben Waren erteilt werden wie die, die Gegenstand der ursprünglichen Bewilligung waren, betrifft. Für diesen Fall bestimme die Norm, dass „eine Bewilligung mit Rückwirkung bis zu dem Zeitpunkt, an dem die vorausgegangene Bewilligung unwirksam wurde, erteilt werden [kann]“. Abs. 3 der Norm betreffe hingegen keine Bewilligung im Besonderen und sehe vor, dass die Zollbehörden „in Ausnahmefällen“ die Rückwirkung einer Bewilligung „auch noch auf einen weiteren Zeitraum, längstens aber ein Jahr vor dem Zeitpunkt der Antragstellung“, erstrecken können. Nach dieser Bestimmung hänge diese Erstreckung von verschiedenen Voraussetzungen ab, darunter die Möglichkeit, eine wirtschaftliche Notwendigkeit nachzuweisen, und dass der Antrag in keiner Weise mit betrügerischen Absichten oder offensichtlicher Fahrlässigkeit zusammenhänge.

Daraus folgert der EuGH, dass, wenn die in Art. 294 Abs. 3 ZK-DVO genannten Voraussetzungen für die Erteilung einer rückwirkenden Bewilligung auf die Erteilung einer neuen rückwirkenden Bewilligung nach Abs. 2 anwendbar wären, die praktische Wirksamkeit der letztgenannten Bestimmung beeinträchtigt wäre. Abs. 2 bestimmt, dass die Rückwirkung der Erneuerung einer Bewilligung „bis zu dem Zeitpunkt, an dem die vorausgegangene Bewilligung unwirksam wurde“, zurückreichen kann. Abs. 3 legt fest, dass sich die Rückwirkung auf einen „Zeitraum von längstens einem Jahr vor dem Zeitpunkt der Antragstellung“ erstrecken kann.

Nach alledem wird auf die Vorlagefragen geantwortet, dass Art. 211 Abs. 2 UZK dahin auszulegen ist, dass er auf einen Antrag auf rückwirkende Erneuerung einer Bewilligung, der vor dem 1. Mai 2016, ab dem dieser Artikel gemäß Art. 288 Abs. 2 UZK gilt, gestellt wurde, nicht anwendbar ist, selbst wenn die Entscheidung über diesen Antrag nach diesem Zeitpunkt ergangen ist.

Art. 294 Abs. 2 ZK-DVO ist dahin auszulegen, dass für die Erteilung einer neuen rückwirkenden Bewilligung durch die Zollbehörden für denselben Vorgang und dieselben Waren wie die, die Gegenstand der ursprünglichen Bewilligung waren, die in Abs. 3 dieses Artikels niedergelegten Voraussetzungen nicht gelten.

III. Bedeutung für die Praxis

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 211 Abs. 2 UZK und gibt Aufschluss über den Umfang der Rückwirkung einer Bewilligung der Endverwendung zur Nutzung einer Zollaussetzung.

Betrachtet man die wesentlichen Entscheidungspunkte des EuGH zum vorliegenden Fall, gelangt man u.E. zu dem Ergebnis, dass das Urteil aus zweierlei Gesichtspunkten von Interesse für die Praxis ist:

Zum einen hat der EuGH in seiner Entscheidung abermals die Unterscheidung zwischen Verfahrensvorschriften und materiell-rechtlichen Vorschriften bei der Anwendung von UZK-Vorschriften auf Altfälle betont und seine bisherige Rechtsprechung in diesem Punkt erneut bestätigt. Der Gerichtshof sieht infolgedessen in seiner Entscheidung Art. 211 Abs. 2 UZK als materiell-rechtliche Vorschrift an, da sie vorwiegend materielle Voraussetzungen für die Erteilung einer rückwirkenden Bewilligung beinhalte. Nach Ansicht des EuGH sind diese Voraussetzungen maßgebend dafür, dass beim Anmelder die Zollschuld für die betreffenden Waren besteht. Aus diesem Grund kann die Norm nicht auf Altfälle angewendet werden.

Zum anderen ist für die zollrechtliche Praxis ebenfalls das Thema des Vorliegens der Voraussetzungen einer rückwirkenden Bewilligung als wichtig anzusehen. Hierdurch wird dem Wirtschaftsbeteiligten unter bestimmten Umständen sogar die Möglichkeit eröffnet, Versäumnisse bei der Verlängerung von zwischenzeitlich erloschenen oder unwirksam gewordenen Alt-Bewilligungen zu korrigieren und damit Zollschulden zu vermeiden.

Eine Bewilligung der Zollbehörden ist grundsätzlich in den in Art. 211 Abs. 1 UZK genannten Fällen erforderlich. Hierzu zählen die Inanspruchnahme der aktiven oder passiven Veredelung, der vorübergehenden Verwendung oder der Endverwendung (Buchst. a) sowie der Betrieb von Lagerstätten zur Zolllagerung von Waren, die nicht von den Zollbehörden betrieben werden (Buchst. b). Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme einer solchen Bewilligung werden in der Bewilligung selbst festgelegt. Sofern kumulativ alle Voraussetzungen des Art.  211 Abs. 2 Buchst. a bis Buchst. h UZK vorliegen, erteilen die Zollbehörden eine solche Bewilligung auch rückwirkend. Hierzu gehören, neben Formal- und Fristerfordernissen, u.a. auch die materiellen Voraussetzungen, dass der Antragsteller die wirtschaftliche Notwendigkeit für die rückwirkende Bewilligung nachweist (Buchst. a), keine betrügerischen Absichten hegt (Buchst. b) und anhand seiner Buchhaltung oder anderen Aufzeichnungen weitere Nachweise hinsichtlich des betreffenden Verfahrens und der nämlichen Waren im betroffenen Zeitraum führen kann (Buchst. c). Weitere Einzelheiten zu den verschiedenen Möglichkeiten der rückwirkenden Bewilligung und deren Wirkungszeitpunkten ergeben sich zudem aus Art. 172 UZK-DelVO.

Ob die jeweiligen Voraussetzungen für eine rückwirkende Bewilligung beim betreffenden Wirtschaftsbeteiligten vorliegen und auch ausreichend nachgewiesen werden können, muss dabei jeweils im konkreten Einzelfall sorgfältig betrachtet und geprüft werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Link:

EuGH, Urt. v. 21.10.2021, C-825/19

Quelle:

Gerichtshof der Europäischen Union