Anmerkung zum EuGH, Urteil vom 21.11.2013, C-494/12 (Dixons Retail plc)

EuGH aktuell

Praxisproblem

In Fällen von Warenlieferungen, die mit Kreditkarte bezahlt werden und in denen der liefernde Unternehmer die Gegenleistung von der die Kreditkarte ausstellenden Bank erhält, stellt sich regelmäßig die Frage der Steuerbarkeit der Lieferung bzw. der Bemessungsgrundlage, wenn die Kreditkarte betrügerisch eingesetzt worden ist. Fraglich ist, ob in diesen Fällen ein nichtumsatzsteuerbarer Warendiebstahl vorliegen kann.

Sachverhalt

Der zugrunde liegende Sachverhalt betraf einen Einzelhändler, der Mehrwertsteuer (MwSt) auf den Verkauf von Gegenständen abgeführt hatte, zu deren Bezahlung die Kunden ohne Befugnis der ausstellenden Bank missbräuchlich Kredit- oder Debitkarten vorgelegt hatten, und bei denen der Einzelhändler von den Banken die entsprechenden Zahlungen erhielt und nach Entdeckung des Missbrauchs nicht zur Rückzahlung der erhaltenen Zahlungen an die Banken verpflichtet war. Hinsichtlich der Nutzung der Kartenzahlungssysteme bestanden zwischen dem Einzelhändler und den Banken vertragliche Beziehungen, die auch Zahlungsgarantien der Banken für die Fälle missbräuchlicher Kartennutzung beinhalteten.

Der Kläger hatte die Rückerstattung der auf die Umsätze entrichteten MwSt beantragt, was die britische Finanzverwaltung verweigerte. Der Kläger trug vor, dass die entscheidende Voraussetzung für das Vorliegen einer „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne von Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL das Bestehen eines Rechtsverhältnisses sei, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht würden. Dies ergebe sich insbesondere aus dem EuGH-Urteil v. 3.3.1994, C-16/93 (Tolsma). Das Vorliegen einer Lieferung sei in erster Linie anhand des Vertrags zwischen dem Einzelhändler und dem Karteninhaber festzustellen. Eine Verpflichtung zu einer Zahlung mithilfe eines Kartenzahlungssystems begründe für sich allein genommen noch keine Lieferung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL, da hierfür – wie bei jeder mehrwertsteuerlich relevanten Lieferung oder Dienstleistung – der Austausch gegenseitiger Leistungen erforderlich sei. Der EuGH habe bereits entschieden, dass die rechtswidrige Erlangung von Gegenständen (Diebstahl) nicht einer Übertragung der Befähigung gleichkomme, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen (vgl. Urteil v. 14.7.2005, C-435/03 (British American Tobacco und Newman Shipping)). Angesichts der objektiven Tatbestandsmerkmale des Kartenmissbrauchs und des Diebstahls bestehe kein maßgeblicher Unterschied zwischen der rechtswidrigen Erlangung von Gegenständen durch Diebstahl und der rechtswidrigen Erlangung von Waren durch Kreditkartenmissbrauch.

Die britische Steuerverwaltung trug vor, es hätten eindeutig Lieferungen stattgefunden. Die Umsätze seien nicht einem Diebstahl gleichzusetzen. Der Kläger erhalte den Kaufpreis für die gelieferten Gegenstände von der die Kreditkarte ausstellenden Bank. Diese Zahlung stehe in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lieferung der Gegenstände an den Kunden, der eine Kreditkarte als Mittel zur Bezahlung der Gegenstände nutze. Die Zahlung der Bank stelle die Gegenleistung dar, die der Lieferer von einem Dritten für die Umsätze erhalte.

Streitig war die Auslegung von Art. 14 Abs. 1 und Art. 73 MwStSystRL. Nach Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL gilt als Lieferung von Gegenständen die Übertragung der Befähigung wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen. Art. 73 MwStSystRL regelt die Steuerbemessungsgrundlage.

Das vorlegende Gericht fragte, obeine (steuerbare) Lieferung von Gegenständen oder ein (nicht steuerbarer) Diebstahl vorliegt, wenn ein Kunde zur Bezahlung von Waren Kreditkarten ohne Befugnis der ausstellenden Bank missbräuchlich verwendet. Außerdem fragte das Gericht, ob eine vom Kunden derart missbräuchlich erwirkte Zahlung als Gegenleistung im Sinne des Art. 73 MwStSystRL angesehen werden kann.

Entscheidung

Der EuGH hat unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung entschieden, dass im vorliegenden Fall nach den objektiven Kriterien Lieferungen vorlagen. Die missbräuchliche Nutzung der Kreditkarten ändert daran nichts, weil sie keinen Bezug zu den objektiven Kriterien des Lieferbegriffs hat, sondern mit den Absichten des Käufers zusammenhängt. Entgegen der Ansicht des Klägers liegt in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens kein Diebstahl von Waren vor, der nicht unter den Begriff „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne des Unionsrechts fällt, weil in diesem Fall keine Übertragung von Gegenständen vom Bestohlenen auf den Täter mit der Befähigung, wie ein Eigentümer darüber zu verfügen vorliegt.

Der Warenverkauf war nach dem Urteil auch steuerbar, weil eine Gegenleistung (hier durch einen Dritten, die Bank) entrichtet wurde, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Warenlieferung stand.

Praxishinweis

Die Vorlagefragen, die § 3 Abs. 1 und § 10 Abs. 1 UStG betreffen, waren durch die bisherige EuGH-Rechtsprechung bereits hinreichend geklärt, was durch das vorliegende Urteil nochmals bestätigt wird. Danach bezieht sich der Begriff "Lieferung von Gegenständen" nicht auf die Eigentumsübertragung in den durch das anwendbare nationale Recht vorgesehenen Formen, sondern umfasst jede Übertragung eines Gegenstandes durch eine Partei, die eine andere Partei ermächtigt, über diesen Gegenstand faktisch so zu verfügen, als wäre sie sein Eigentümer. Die Feststellung, ob nach diesen Kriterien im Einzelfall eine Lieferung vorliegt, ist Sache des nationalen Gerichts (z.B. EuGH vom 15.12.2005, C-63/04). Es ist eindeutig, dass die Übertragung der faktischen Verfügungsmacht durch eine rechtsmissbräuchlich erwirkte Zahlung (hier Kreditkartenmissbrauch) nicht in Frage gestellt wird.

Eine Gegenleistung i.S.v. Art. 73 MwStSystRL liegt vor, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der erbrachten Leistung und der erhaltenen Gegenleistung besteht (vgl. EuGH-Urteile v. 5. 2.1981, 154/80, sowie v. 23. 11.1988, 230/87). Der Umstand, dass die Banken im Streitfall die Zahlungen ggf. nur aufgrund der bestehenden Zahlungsgarantien ausführten bzw. nicht zurückforderten, stellt das Bestehen eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen den Warenlieferungen und den Kaufpreiszahlungen nicht in Frage, so dass zumindest ein Entgelt von dritter Seite vorlag. Auch dies hat der EuGH bestätigt.