Vorsteuerabzug bei sog. Briefkastenanschriften in den Rechnungen eines leistenden Unternehmers

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 15.11.2017, verb. Rs. C-374/16 und C-375/16, Geissel/Butin

Praxisproblem

Der BFH hatte in seinem Urt. v. 22.07.2015, V R 23/14, BStBl II 2015, 914 noch entschieden, dass den Anforderungen des § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG nur dann Genüge getan ist, wenn der vollständige Name und die vollständige Anschrift des leistenden Unternehmers in der Rechnung angegeben sind. Nach § 31 Abs. 2 UStDV ist es ausreichend, wenn sich aufgrund der in die Rechnung aufgenommenen Bezeichnungen der Name und die Anschrift des leistenden Unternehmers eindeutig feststellen lassen. Bereits in seinem Urt. v. 19.04.2007, V R 48/04, BStBl II 2009, 315, hatte der BFH darauf hingewiesen, dass nach ständiger Rechtsprechung der Abzug der in einer Rechnung ausgewiesenen USt nur möglich ist, wenn der in der Rechnung angegebene Sitz des Unternehmers bei Ausführung der Leistung und bei Rechnungstellung tatsächlich bestanden hat.

Für die nach § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG ebenfalls erforderliche Angabe des vollständigen Namens und der vollständigen Anschrift des Leistungsempfängers in der Rechnung sieht Abschn. 14.5 Abs. 2 Satz 3 UStAE bisher Erleichterungen vor: Verfügt der Leistungsempfänger über ein Postfach oder eine Großkundenadresse, ist es ausreichend, wenn diese Daten anstelle der Anschrift angegeben werden. Diese Erleichterung ist bisher, obwohl das BFH-Urt. v. 22.07.2015, V R 23/14, BStBl II 2015, 914, im BStBl veröffentlicht wurde und damit von der Verwaltung allgemein angewendet wird, unverändert. Soweit der BFH in Rz. 25 seines Urt. V R 23/14 ausführt, dass er an der im Urt. V R 48/04 geäußerten Auffassung, wonach ein „Briefkastensitz“ mit postalischer Erreichbarkeit ausreichend sein kann, nicht mehr festhält, ist zu beachten, dass sich diese Aussage, wie auch das Urt. V R 48/04, auf die Angabe der vollständigen Anschrift des leistenden Unternehmers bezieht. Eine Aussage zur Zulässigkeit der nach Abschn. 14.5 Abs. 2 Satz 3 UStAE möglichen Angabe eines Postfachs oder einer Großkundenadresse des Leistungsempfängers in der Rechnung hatte der BFH damit nicht zwangsläufig getroffen.

Sachverhalt

Bei den Vorabentscheidungsersuchen des BFH ging es wiederum um die Anforderungen an die Angaben in einer Rechnung (hier Anschrift des leistenden Unternehmers) für Zwecke des Vorsteuerabzugs.

In der Sache C-374/16 ging es um einen Kfz-Händler, der im Streitjahr 2008 für von einer E-GmbH erworbene Fahrzeuge, die innergemeinschaftlich weitergeliefert wurden, den Vorsteuerabzug geltend gemacht hatte. Das Finanzamt versagte mangels entsprechender Nachweise die Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferungen. Es versagte zudem den Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der E-GmbH, weil es sich um eine Scheinfirma gehandelt habe, die unter der angegebenen Rechnungsanschrift keinen Sitz gehabt habe.

Der BFH wollte wissen, ob eine zur Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a i. V. m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL erforderliche Rechnung die "vollständige Anschrift" i. S. v. Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL enthält, wenn der leistende Unternehmer in der von ihm über die Leistung ausgestellten Rechnung eine Anschrift angibt, unter der er zwar postalisch zu erreichen ist, wo er jedoch keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Weiter wollte der BFH wissen, ob Art. 168 Buchst. a i. V. m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL unter Beachtung des Effektivitätsgebots einer nationalen Praxis entgegensteht, die einen guten Glauben des Leistungsempfängers an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nur außerhalb des Steuerfestsetzungsverfahrens im Rahmen eines gesonderten Billigkeitsverfahrens berücksichtigt, bzw. ob der Steuerpflichtige ein Recht hat, sich unmittelbar auf Art. 168 Buchst. a i. V. m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL berufen zu können.

In der Sache C-375/16 ging es ebenfalls um einen Kfz-Händler, der in den Streitjahren 2009 bis 2011 von einem Verkäufer Z im Inland Fahrzeuge gekauft hatte. Z stellte dem Kläger Rechnungen unter einer Postadresse aus. Z hatte in N (Inland) von einer dort ansässigen Firma U Räumlichkeiten angemietet. Unstreitig war, dass Z dort kein Autohaus unterhielt. Er vertrieb ausschließlich im Onlinehandel. Die Fahrzeuge wurden dem Kläger oder seinen Mitarbeitern zum Teil in R in der E-Straße, zum Teil an öffentlichen Plätzen - z. B. Bahnhofsvorplätzen - übergeben. Das Finanzamt hatte dem Kläger den Vorsteuerabzug aus den Fahrzeugkäufen verweigert, weil die in den Rechnungen ausgewiesene Anschrift des leistenden Unternehmers Z tatsächlich nicht bestanden habe. Die Geschäftsadresse diene nur als Briefkastenadresse (Scheinadresse), an der lediglich von Z die Post abgeholt worden sei. Es sei dort nichts vorhanden gewesen, was auf ein Unternehmen hindeute.

Der BFH wollte in diesem Verfahren vom EuGH wissen, ob Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL die Angabe einer Anschrift des Steuerpflichtigen voraussetzt, unter der er seine wirtschaftlichen Tätigkeiten entfaltet. Für den Fall, dass dies zu verneinen ist, fragte der BFH, ob für die Angabe der Anschrift nach Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL eine Briefkastenadresse ausreicht und welche Anschrift von einem Steuerpflichtigen, der ein Unternehmen (z. B. des Internethandels) betreibt, das über kein Geschäftslokal verfügt, in der Rechnung anzugeben ist. Schließlich wollte der BFH wissen, ob für den Fall, dass die formellen Rechnungsanforderungen des Art. 226 MwStSystRL nicht erfüllt sind, der Vorsteuerabzug bereits immer dann zu gewähren ist, wenn keine Steuerhinterziehung vorliegt oder der Steuerpflichtige die Einbeziehung in einen Betrug weder kannte noch kennen konnte oder ob der Vertrauensschutzgrundsatz in diesem Fall voraussetzt, dass der Steuerpflichtige alles getan hat, was von ihm zumutbarer Weise verlangt werden kann, um die Richtigkeit der Rechnungsangaben zu überprüfen.

Entscheidung

Der EuGH hat nur die Fragen des BFH beantwortet, ob die Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a i. V. m Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach das Vorsteuerabzugsrecht davon abhängt, dass in der Rechnung eine Anschrift des leistenden Unternehmers angegeben ist, unter der dieser seine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Dies hat der EuGH bejaht. Somit musste er die anderen Fragen des BFH, insbesondere zum Gutglaubensschutz beim Vorsteuerabzug, nicht mehr beantworten.

Der EuGH hat entschieden, dass die Formulierung in Art. 226 Nr. 5 („den vollständigen Namen und die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen und des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers“) es nicht hergibt, daraus schließen zu können, dass hiermit zwingend der Ort der wirtschaftlichen Tätigkeit des leistenden Unternehmers gemeint ist. Der Begriff der Anschrift werde allgemein weit verstanden. Die gewöhnliche Bedeutung dieses Begriffs umfasse jede Art von Anschrift, einschließlich einer Briefkastenanschrift, sofern die Person unter dieser Anschrift erreichbar ist. Auch sind nach dem Urt. die in Art. 226 MwStSystRL geregelten obligatorischen Rechnungsangaben angesichts der mit diesen Angaben verbundenen Verpflichtungen in dem Sinne eng auszulegen, dass die Mitgliedstaaten keine strengeren Verpflichtungen vorsehen dürfen als solche, die sich aus der MwStSystRL ergeben.

Bezugnehmend auf sein Urt. in der Sache Barlis, C-516/14, wiederholt der EuGH, dass die Mitgliedstaaten das Vorsteuerabzugsrecht nicht nach eigenem Gutdünken von der Erfüllung von Voraussetzungen betreffend die Rechnungsangaben abhängig machen können, die in der MwStSystRL nicht vorgesehen sind. Bezugnehmend auf das Urt. i. S. Senatex, C-518/14, wiederholt der EuGH, dass der Besitz einer Rechnung mit den in Art. 226 MwStSystRL vorgesehenen Angaben lediglich eine formelle Bedingung für das Recht auf Vorsteuerabzug darstellt. Sind die materiellen Anforderungen erfüllt, ist der Vorsteuerabzug zu gewähren, selbst wenn der Unternehmer bestimmten formellen Bedingungen nicht gerecht wird.

Somit ist es für die Ausübung des Vorsteuerabzugs durch den Leistungsempfänger nicht erforderlich, dass die wirtschaftliche Tätigkeit des leistenden Unternehmers unter der Anschrift ausgeübt wird, die in der von ihm ausgestellten Rechnung angegeben ist.

Praxishinweis

Der EuGH hat nochmals bestätigt, dass eine Rechnung lediglich formale Bedeutung für den Vorsteuerabzug hat. Die Anschrift des leistenden Unternehmers in der Rechnung muss nicht zwingend die Anschrift sein, unter der die wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet bzw. das Unternehmen geführt wird. Dies dürfte, ohne dass der EuGH darüber entscheiden musste, gleichermaßen für die Anschriftenangabe zum Leistungsempfänger in einer Rechnung für Zwecke des Vorsteuerabzugs gelten.

In den Vorlageersuchen ging es um die Rechnungsangaben als Voraussetzung für die Ausübung des Vorsteuerabzugs. Keine Erkenntnisse dürften sich daher aus dem Urteil ergeben, soweit es um Rechnungen als Belegnachweise für andere Zwecke, z. B. die Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen, geht. Ist in Rechnungen über innergemeinschaftliche Lieferungen die Anschrift des Erwerbers nicht zutreffend angegeben, d. h. eine andere Anschrift als sie mit der gültigen USt-IdNr. des Erwerbers verknüpft ist, kann der Belegnachweis der innergemeinschaftlichen Lieferung nach wie vor gefährdet sein.

Nicht entschieden hat der EuGH den Fall, dass es sich bei der Adresse des leistenden Unternehmers auf der Rechnung tatsächlich um eine Scheinadresse handelt, unter der niemand postalisch erreichbar ist. In einem solchen Fall ist wohl auch weiterhin von einer fehlerhaften bzw. fehlenden Angabe auszugehen.

Der EuGH lässt in den Rz. 42 bis 45 seiner Entscheidung erkennen, dass er möglicherweise die korrekte Angabe der Steuernummer (USt-IdNr.) des leistenden Unternehmers in der Rechnung für entscheidender hält, als die Anschrift. Die Steuernummer des Unternehmers stelle die wesentliche Informationsquelle für die Identifikation des Unternehmers dar. Die Nummer sei leicht zugänglich und von der Verwaltung überprüfbar. Die Unternehmen müssten auch, um eine Steuernummer zu erhalten, ein Registrierungsverfahren durchlaufen. Daraus folgt für den EuGH, dass die Angabe der Anschrift des Rechnungsausstellers in Verbindung mit seinem Namen und seiner Steuernummer den Rechnungsaussteller identifizieren und es der Steuerverwaltung damit ermöglichen soll, die Kontrolle des Vorsteuerabzugs durchzuführen. Ob dies möglicherweise den Schluss zulässt, dass bei fehlender Steuernummer des leistenden Unternehmers auf der Rechnung zusammen mit anderen fehlenden Angaben bereits keine berichtigungsfähige Rechnung vorliegen könnte, kann diskutiert werden aber geht wohl zu weit.

Eine weitere Erkenntnis aus dem vorliegenden Urteil ist, dass der Begriff des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit und der festen Niederlassung i. S. d. 13. EG-Richtlinie 86/560/EWG für die Bestimmung der Bedeutung des Begriffs „Anschrift“ in Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL irrelevant sind. Das EuGH-Urt. v. 28.6.2007, C-73/06, Planzer Luxembourg, widerspricht nach ausdrücklicher Feststellung des EuGH nicht dem vorliegenden Ergebnis, dass die Rechnung nicht die Anschrift der wirtschaftlichen Tätigkeit des leistenden Unternehmers enthalten muss. In seinem Urteil in der Sache C-73/06 hatte der EuGH u. a. ausgeführt, dass fiktive Ansiedlungen wie sie für „Briefkastenfirmen“ oder „Strohfirmen“ charakteristisch seien, nicht als Sitz einer wirtschaftlichen Tätigkeit angesehen werden können.

Der BFH wollte mit seinen Vorabentscheidungsersuchen zusätzlich geklärt wissen, ob es einen Gutglaubensschutz beim Vorsteuerabzug geben kann und ob dieser davon abhängt, dass der Rechnungsempfänger alles in seiner Macht Stehende getan haben muss, um die Rechnungsangaben zu überprüfen. Die entsprechende Vorlagefrage des BFH zielte insofern nicht nur auf Name und Anschrift des leistenden Unternehmers ab, sondern auf sämtliche Rechnungsangaben. Begrüßenswert war auch, dass der BFH den EuGH fragte, ob Vertrauensschutzgesichtspunkte auf Seiten des Leistungsempfängers nur im Billigkeitsverfahren oder bereits im Festsetzungsverfahren beurteilt werden müssen. Der Verweis auf ein Billigkeitsverfahren erschwert dem Steuerpflichtigen sein Recht bzw. die Durchsetzung der Neutralität der Umsatzsteuer und ist daher durchaus kritisch.

All diese Fragen hat der EuGH nicht beantwortet, weil sie nur für den Fall gestellt worden waren, dass die Angabe einer bloßen Briefkastenadresse in der Rechnung zur Versagung des Vorsteuerabzugs führen kann.

Konsequenzen aus der Barlis- und Senatex-Rechtsprechung des EuGH und der nachfolgenden BFH-Rechtsprechung hat die Verwaltung bisher nicht gezogen. Insbesondere ist der UStAE noch nicht geändert. Aber im Einzelfall wendet die Finanzverwaltung die Rechtsprechung bereits an.

Fälle, in denen die ursprüngliche Rechnung unvollständig ist, weil z. B. die Steuernummer, die Rechnungsnummer oder die USt-Id-Nummer fehlen oder die Adresse des leistenden Unternehmers bzw. des Leistungsempfängers nicht dem Ort der wirtschaftlichen Tätigkeit entspricht, entsprechen den bisher vom EuGH und BFH entschiedenen Fällen. In diesen Fällen wirkt eine Rechnungsberichtigung zurück und der Vorsteuerabzug ist in dem Jahr zu gewähren, in dem die Leistung erbracht und die ursprüngliche Rechnung ausgestellt wurde. Voraussetzung dafür dürfte aber sein, dass die Steuerfestsetzung für das Jahr der ursprünglichen Rechnungserteilung verfahrensrechtlich noch änderbar ist. Dabei dürfte die Rechnungsberichtigung auch nicht als rückwirkendes Ereignis i. S. d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO anzusehen sein. Fälle, in denen die erstmalige Rechnung nicht berichtigungsfähig und/oder unvollständig ist, weil andere Pflichtabgaben nach § 14 Abs. 4 UStG auf der Rechnung fehlen, sind nicht mit den bislang entschiedenen Fällen vergleichbar. In diesen Fällen dürfte die derzeitige Verwaltungsauffassung des Abschn. 15.2a Abs. 7 UStAE weiterhin anwendbar und der Vorsteuerabzug erst in dem Zeitpunkt zu gewähren sein, in dem der Rechnungsempfänger die berichtigte Rechnung erhält.

Es bleibt spannend, wie nun der BFH aber vor allem die Finanzverwaltung mit der Entscheidung umgeht. Es ist allerdings nicht zu erwarten, dass die Finanzverwaltung eine Änderung des UStAE vor Entscheidung des BFH erlässt.

Allen Betroffenen ist anzuraten entsprechende Fälle mit der Rechtsprechung zu argumentieren und ggf. offen zu halten. Für etwaige Berichtigungen oder Finanzstreitverfahren steht Ihnen das Team der AWB gern zur Verfügung.

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