Steuerverzinsung - Verwaltung und Gesetzgeber immer mehr unter Zugzwang

Anmerkung zu: BFH, Beschl. v. 03.09.2018, VIII B 15/18

Der BFH sieht Aussetzungszinsen in Höhe von 6% als verfassungswidrig beurteilt – und das bereits für Zeiträume ab November 2012

Mit Beschluss vom 03.09.2018 (VIII B 15/18) hat der VIII. Senat des BFH einem Antrag auf Ausset-zung der Vollziehung (AdV) bei Aussetzungszinsen wegen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Verzinsung für Verzinsungszeiträume ab dem 01.11.2012 stattgegeben.

Praxisproblem

In Literatur und Praxis wird der gesetzliche Zinssatz in Höhe von 6 % p.a., welcher im Übrigen seit 1961 gilt, schon seit Jahren hart kritisiert. Das heutige Zinsniveau ist nicht mehr mit demjenigen der 1960er Jahre vergleichbar. Seit März 2016 gilt sogar ein EZB-Leitzins von 0 %.

Der Zinslauf für Nachzahlungszinsen beginnt 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist, und zwar unabhängig davon, ob der Steuerzahler seine Steuererklärung zu spät abgegeben hat oder der Steuerbescheid vom Finanzamt zu spät erstellt wird. Regelmäßig haben Steuerpflichtige mehr Zinsen als steuerliche Nebenleistung zu entrichten, als der Zahlungs-pflichtige durch Anlage der vorläufig aufgesparten Mittel am Kapitalmarkt an Ertrag hätte erzielen können. In extremen Fällen übersteigen die zu zahlenden Zinsen sogar die eigentliche Steuernach-zahlungssumme. Besonders betroffen sind Unternehmen, die anlässlich von Betriebsprüfungen Steuern für vergangene Jahre nachentrichten müssen.

Dies laufe dem gesetzgeberischen Zweck der Verzinsung zuwider, einen Ausgleich dafür zu schaf-fen, dass Steuern bei einzelnen Steuerpflichtigen — aus welchen Gründen auch immer — zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden.

Sachverhalt

In den Fokus der Diskussion in der breiten Öffentlichkeit kam die Thematik allerdings im April 2018: Der IX. Senat des BFH äußerte in seinem Beschluss vom 25.04.2018 (IX B 21/18) schwere verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Zinssatz für Zinszeiträume ab April 2015. Die Finanzverwaltung reagierte mit einem BMF-Schreiben vom 14.06.2018, aus dem hervorging, dass für die Zinszeit-räume ab April 2015 Aussetzung der Vollziehung zu gewähren sei.

Link

AWB-Newsletter-Beitrag vom Juni 2018

Im BFH-Beschluss v. 03.09.2018, VIII B 15/18 begehrten die Antragsteller die AdV eines Bescheids über die Festsetzung von Aussetzungszinsen wegen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßig-keit der Zinsfestsetzung insbesondere mit Blick auf die gesetzliche Zinshöhe von monatlich 0,5 % auszusetzen. Die Zinsfestsetzung betraf den Zeitraum November 2012 bis September 2016 im Zusammenhang mit der AdV angefochtener Einkommensteueränderungsbescheide für die Jahre 2007, 2008 und 2010. Das Finanzamt hatte zuvor den Antrag auf Aussetzung des Zinsfestsetzungsbescheids abgelehnt und den dagegen eingelegten Einspruch zurückgewiesen. Im Anschluss daran hatte das Finanzgericht den Antrag der auf AdV des Zinsfestsetzungsbescheids durch Beschluss vom 16.01.2018 2 V 3389/16 abgelehnt. Das FA beantragte unter Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 09.11.2017 III R 10/16 zur (bejahten) Verfassungsmäßigkeit der Zinshöhe bei der Festsetzung von Nachzahlungszinsen für Zeiträume bis 2013, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidung

Aus dem aktuellen Beschluss geht hervor, dass der BFH insbesondere kein öffentliches Interesse in der Vollziehung sieht, da „dem Gesetzgeber die Notwendigkeit einer Anpassung der Zinshöhe bekannt ist“.

Demzufolge kommt der BFH zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für eine AdV des angefochtenen Bescheids über die Festsetzung von Aussetzungszinsen für Streitzeiträume ab 2012 als gegeben anzusehen sind. Gegen die Höhe des in § 238 Abs. 1 S. 1 AO gesetzlich festgelegten Zinssatzes von monatlich 0,5 % bestehen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, was gleichermaßen für Nachzahlungs- als auch Aussetzungszinsen gelte. Insbesondere hält es der BFH für sachgerecht, die im Streitfall begehrte AdV auf die Streitzeiträume ab 2012 zu erstrecken.

Praxishinweis

Die Entscheidung darf als weiterer Seitenhieb auf die Schwerfälligkeit des Gesetzgebers in dieser Thematik und als Aufforderung zum Tätigwerden verstanden werden.

Eine Reaktion der Finanzverwaltung zum VIII. BFH-Senats ist noch ausstehend. Endgültige Klarheit ist allerdings ohnehin nicht vor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17) zu erwarten, die in nächster Zeit folgen könnte. Diese beiden Verfassungsbeschwerdeverfahren beziehen sich auf sogar noch weiter zurückliegende Zinszeiträume ab 2009 bzw. 2011.

Zumindest auf Länderebene sind gesetzgeberische Aktivitäten wahrzunehmen. So hat Bayern (BR-Drs. 324/18 vom 04.07.2018) eine Halbierung des gesetzlichen Zinssatzes von 6 auf 3 % beantragt und die Bundesregierung aufgefordert, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Unterstützung erfährt Bayern aus Hessen (BR-Drs. 396/18, 397/18 v. 21.09.2018); über die Halbierung des Zinssatzes hinaus, hat Hessen im Bundesrat zusätzlich einen Entschließungsantrag mit dem Ziel vorgelegt, langfristig den Zinssatz an das jeweils herrschende Zinsniveau anzupassen.

Auf Bundesebene gab es einen Gesetzesantrag der FDP-Fraktion (BT-Drs. 19/2579 v. 05.05.2018) zur Senkung der Zinsen. Von Seiten der Bundesregierung ist gegenwärtig allerdings der zu vernehmen, dass sie den geltenden Zinssatz für verfassungsgemäß hält und die Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichts abwarten möchte. Dies geht aus der Antwort auf eine „kleine Anfrage“ (BT-Drs. 19/2766) hervor.Weiterhin gilt: Steuerpflichtige sollten gegen sämtliche Zinsfestsetzung zu ihren Ungunsten, die auf § 238 Abs. 1 AO gestützt wird, vorgehen. Es sollte Einspruch gegen die entsprechenden Bescheide eingelegt und AdV beantragt werden. Mit der Rechtsprechung des VIII. BFH-Senats im Rücken ist es durchaus wahrscheinlich, dass nicht nur für Zeiträume ab April 2015, sondern bereits von November 2012 an AdV gewährt wird.

Das Team der AWB unterstützt Sie gern beim Vorgehen gegen die Steuerbescheide, um unverhältnismäßige Belastungen für Sie zu vermeiden.

Ihre Ansprechpartner