EuGH-Vorlage Begriffsbestimmung: Ausfuhr im persönlichen Reisegepäck

Anmerkung zu: EuGH-Verfahren C-656/19, Bakati Plus

Praxisproblem

Bei dem ungarischen Vorabentscheidungsersuchen C-656/19, Bakati Plus, geht es um den Begriff des "persönlichen Reisegepäcks" i. S. v. Art. 147 MwStSystRL und die Steuerbefreiung bei der Ausfuhr nach Art. 146 MwStSystRL.

Das Vorlagegericht will im Wesentlichen wissen, wie der Begriff „persönliches Gepäck“ i. S, d. MwStSystRL zu verstehen ist. Hilfsweise möchte es wissen, ob die Steuerbefreiung für Ausfuhrlieferungen (Art. 146 MwStSystRL) auch dann anwendbar ist, wenn das gesetzlich vorgesehene Zollverfahren nicht durchgeführt worden ist. Schließlich möchte das Gericht wissen, ob die Verweigerung der Steuerbehörde zur Behandlung der Umsätze als steuerfrei (Art. 146 oder 147 MwStSystRL) mit der MwStSystRL und mit den unionsrechtlichen Grundsätzen der Steuerneutralität und der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.

Sachverhalt

Die Klägerin verkaufte im Streitjahr (2016) verschiedene Lebensmittel-, Kosmetik- und Reinigungsprodukte in großem Umfang an 20 Privatpersonen mit Sitz in Serbien. Die Lieferung erfolgte innerhalb Ungarns in ein von der Käuferseite angemietetes Lager. Die Bezahlung für die einzelnen Lieferungen erfolgte in bar. Die Käufer transportierten die erhaltene Ware jeweils in Privatfahrzeugen als Reisegepäck nach Serbien. Dabei nutzten die Käufer die jeweils zollrechtlich geltenden Freimengen unter Einbeziehung mehrerer Personen aus, um einen problemlosen Grenzübertritt zu ermöglichen. Die Käufer erwarben die Gegenstände nicht für den persönlichen Gebrauch, sondern für den Weiterverkauf in Serbien. Diese Umstände waren der Klägerin bekannt.

Beim Grenzübergang ließen sich die Käufer jeweils von den Zollstellen die Ausfuhr der Gegenstände auf einem Steuererstattungsformular (für ausländische Reisende) mittels Sichtvermerk bescheinigen. Gegen Vorlage des Formulars erstattete die Klägerin sodann den Käufern die MwSt in bar - insgesamt über 1 Mio EUR.

In ihren eigenen Steuererklärungen minderte die Klägerin die erklärte Steuer entsprechend.

Nach einer Prüfung waren die ungarischen Steuerbehörden der Auffassung, dass die Erwerbe nicht für den persönlichen Bedarf, sondern zum Weiterverkauf in Serbien erfolgt seien. Eine Einstufung als Reisegepäck sei daher nicht möglich. Der Klägerin seien diese Umstände - unstreitig - bekannt gewesen, so dass sie die Erstattung nicht hätte ermöglichen dürfen. Auch komme keine Steuerbefreiung für Ausfuhrlieferungen in Betracht, da kein zollbehördliches Ausfuhrverfahren eingeleitet wurde und die notwendigen Belege auch nicht vorgelegt wurden. Außerdem sei die Klägerin nicht als Ausführer anzusehen, da sie die Gegenstände noch innerhalb Ungarns geliefert habe und keine Beförderung über die Grenze vorgenommen habe.

Die ungarische Steuerbehörde führt an, die Kúria (Oberster Gerichtshof) habe in ihrem Urteil KfV.1.35.502/2016/6 v. 08.12.2016 bzgl. der Definition des Begriffs „persönliches Gepäck“ von Reisenden hervorgehoben, dass insoweit Menge der Gegenstände und die Häufigkeit der Erwerbe von Bedeutung seien. Weder das HU-MwStG noch die MwStSystRL definierten den Begriff des persönlichen Gepäcks, das Zollrecht der Union enthalte hierzu ebenfalls keine Anhaltspunkte und das New Yorker Abkommen definiere lediglich den Begriff „persönliches Reisegut“. Nach der nationalen Praxis könne man als Reisegepäck Gegenstände ansehen, die der Reisende für den eigenen persönlichen Bedarf oder als Geschenke erwerbe, er dürfe jedoch keinesfalls den Zweck verfolgen, damit zu handeln. Die Regelmäßigkeit ebenso wie die große Menge der Waren schlössen deren Einordnung als Reisegepäck aus, so dass § 99 des HU-MwStG nicht erlaube, Gegenstände in Handelsmengen bei der Ausreise aus dem Gemeinschaftsgebiet als Reisegepäck mitzuführen. Denn nach dieser Vorschrift könne, wenn der Erwerber ein ausländischer Reisender und die von ihm erworbene Ware ein Teil seines persönlichen Gepäcks bzw. seines Reisegepäcks sei, die Steuerbefreiung in § 98 Abs. 1 des HU-MwStG anwendbar sein, sofern

  • der Gesamtwert der Lieferungen (einschl. der Steuer) einen 175 Euro entsprechenden Betrag übersteige;
  • der ausländische Reisende durch ein Reisedokument seine Rechtsstellung nachweise;
  • die Tatsache, dass der Gegenstand das Gebiet der Gemeinschaft verlassen habe, von der Ausgangszollstelle des Gegenstands durch die Anbringung des Sichtvermerks und ihres Stempels auf dem Steuererstattungsformular zur bescheinigt werde. Auf Verlangen des ausländischen Reisenden müsse der Lieferer des Gegenstands für das Ausfüllen des Steuererstattungsformulars sorgen.

Zudem sei nach § 99 des HU-MwStG auch Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Steuerbefreiung, dass der Lieferer des Gegenstands im Besitz des mit Sichtvermerk und Stempel versehenen Erstexemplars des Steuererstattungsformulars sei und dass er, wenn die Steuer zum Zeitpunkt der Lieferung des Gegenstands in Rechnung gestellt worden sei, dem ausländischen Reisenden die in Rechnung gestellte Steuer erstattet habe. Die erstattete Steuer stehe dem ausländischen Reisenden in Forint zu und sei in bar auszuzahlen. Die Parteien könnten aber auch eine andere Währung oder eine andere Zahlungsweise vereinbaren. Sei die Steuer nach Abs. 4 Buchst. b) des HU-MwStG in Rechnung gestellt worden und habe sie der Lieferer zuvor als zu entrichtende Steuer festgestellt und erklärt, so sei dieser frühestens in dem Steuerzeitraum, in dem die Erstattung an den ausländischen Reisenden stattgefunden habe, den von ihm festgestellten Betrag der zu entrichtenden Steuer um den erstatteten Steuerbetrag zu mindern. Nach der nationalen Praxis müsse die Steuerbehörde, soweit nachgewiesen werde, dass die Gegenstände das Gemeinschaftsgebiet verlassen hätten, prüfen, ob die Voraussetzungen einer steuerbefreiten Lieferung auf anderer rechtlicher Grundlage vorlägen, insbesondere, ob die Klägerin Anspruch auf die Steuerbefreiung nach § 98 des HU-MwStG habe. Danach sei die in ein Gebiet außerhalb der Gemeinschaft erfolgende Lieferung eines Gegenstandes, der im Inland als Sendung aufgegeben oder aus dem Inland heraus befördert werde, steuerfrei. Nach der nationalen Praxis werde hierbei die Rechtsprechung des EuGH berücksichtigt, nach der die Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten zwar gestatte, die formellen Voraussetzungen für die Anwendung der Regelungen über die Ausübung des Rechts auf Steuerabzug festzulegen, diese Voraussetzungen aber nicht über dasjenige hinausgehen dürften, was erforderlich sei, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden.

Praxishinweis

Die deutsche Rechtslage ist von dem anhängigen EuGH-Verfahren grds. betroffen. In Abschn. 6.11 UStAE ist die Verwaltungsauffassung zu Ausfuhrlieferungen im nichtkommerziellen Reiseverkehr (§ 6 Abs. 3a UStG) geregelt. Hiernach kann eine Steuerbefreiung nur erfolgen, wenn der Abnehmer die Waren zu nichtunternehmerischen Zwecken erwirbt und im persönlichen Reisegepäck in das Drittlandsgebiet verbringt. Der Sichtvermerk durch den Zoll bestätigt nur den tatsächlichen Grenzübertritt, aber nicht die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen.

Der EuGH wird entscheiden müssen, ob die Praxis eines Mitgliedstaats, wonach der Begriff „persönliches Gepäck“ i. S. d. MwStSystRL mit dem in anderen Rechtsvorschriften vorkommenden Begriff des Gepäcks gleichgesetzt wird, mit Art. 147 MwStSystRL vereinbar ist. Sollte diese Frage verneint werden, wird um Klärung ersucht, wie der Begriff „persönliches Gepäck“ in Art. 147 MwStSystRL auszulegen ist und ob in diesem Zusammenhang eine nationale Praxis, wonach die Steuerbehörden eines Mitgliedstaats ausschließlich auf den „allgemeinen Wortsinn“ abstellen, mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Auch hat das Verfahren einerseits die Auslegung der Art. 146 und 147 MwStSystRL zum Gegenstand, nach der, wenn ein Steuerpflichtiger keinen Anspruch auf die Steuerbefreiung nach Art. 147 MwStSystRL hat, zu prüfen ist, ob die Steuerbefreiung von Ausfuhrlieferungen gem. Art. 146 MwStSystRL auch dann anwendbar ist, wenn das gesetzlich vorgesehene Zollverfahren nicht durchgeführt worden ist. Andererseits soll mit der Vorlage zur Vorabentscheidung geklärt werden, ob ein Rechtsgeschäft auch dann als mehrwertsteuerfreie Ausfuhrlieferung eingeordnet werden kann, wenn dies nicht der ausdrücklichen Absicht des Kunden zuwiderläuft.

Drittens soll durch das Vorabentscheidungsersuchen festgestellt werden, ob unter Umständen, wie denen des Ausgangsverfahrens die Praxis eines Mitgliedstaats, nach der die Steuerbehörde die Erstattung der unrichtig für Lieferungen an ausländische Reisende erklärten und bezahlten Steuer für Umsätze verweigert, ohne sie als Ausfuhrlieferungen einzustufen, mit Art. 146 und 147 MwStSystRL und mit den unionsrechtlichen Grundsätzen der Steuerneutralität und der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.

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