Vorsteuerabzug – Wann kann die Vorsteuer geltend gemacht werden?

Anmerkung zu dem beim EuGH anhängigen Verfahren C-9/20

Praxisproblem

Bei dem Vorabentscheidungsersuchen des FG Hamburg v. 10.12.2019, 1 K 337/17, C-9/20 (…) geht es um den Zeitpunkt des Vorsteuerabzugs bei Leistungen durch einen Ist-Versteuerer. Das FG hat dem EuGH folgende Fragen gestellt: Steht Art. 167 MwStSysRL einer nationalen Regelung entgegen, nach der das Recht zum Vorsteuerabzug auch dann bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entsteht, wenn der Steueranspruch gegen den Leistenden nach nationalem Recht erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht? Für den Fall, dass die erste Frage verneint wird: Steht Art. 167 MwStSystRL einer nationalen Regelung entgegen, wonach das Recht zum Vorsteuerabzug nicht für den Besteuerungszeitraum geltend gemacht werden kann, in dem das Entgelt bezahlt worden ist, wenn der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht, die Leistung bereits in einem früheren Besteuerungszeitraum erbracht worden und eine Geltendmachung des Vorsteueranspruchs für diesen früheren Steuerzeitraum nach nationalem Recht wegen Verjährung nicht mehr möglich ist?

Sachverhalt

Die Beteiligten streiten darum, ob der Vorsteuerabzugsanspruch des Leistungsempfängers nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG bereits mit der Ausführung der Leistung oder erst mit der Entrichtung des Entgelts entsteht, wenn der Leistungserbringer die USt nach vereinnahmten Entgelten berechnet (sog. Istversteuerer).

Die Klägerin erzielte in den Streitjahren Umsätze mit der Vermietung eines Gewerbegrund-stücks. Die Klägerin hatte dieses Grundstück ihrerseits gemietet. Sowohl die Klägerin als auch ihre Vermieterin hatten wirksam auf die Steuerbefreiung für derartige Vermietungsumsätze verzichtet und somit zur USt optiert. Beiden war von der Finanzverwaltung gem. § 20 UStG gestattet worden, die Steuer nicht nach vereinbarten Entgelten, sondern nach den vereinnahmten Entgelten zu berechnen.

Ab dem Jahr 2004 wurden die Mietzahlungen der Klägerin teilweise gestundet. Dies hatte zur Folge, dass die Klägerin in den Streitjahren 2013 bis 2016 Zahlungen für die Grundstücksüberlassung in den Jahren 2009 bis 2012 leistete. In den Zahlungen waren jeweils 19 % USt enthalten. Die Klägerin machte ihren Vorsteuerabzugsanspruch - unabhängig von dem Mietzeitraum, für den die Zahlungen bestimmt waren - immer in dem Voranmeldezeitraum bzw. Kalenderjahr geltend, in dem die Zahlung erfolgte.

Das beklagte FA beanstandete dieses Vorgehen und erließ im Anschluss an eine Um-satzsteuer-Sonderprüfung geänderte Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2013 bis 2016. Nach Auffassung des FA war der Vorsteuerabzug bereits mit der Ausführung des Umsatzes - hier der monatsweisen Überlassung des Grundstücks - entstanden und hätte daher jeweils für den entsprechenden Zeitraum geltend gemacht werden müssen.

Nach erfolglosem Einspruch gegen die geänderten Umsatzsteuerfestsetzungen hatte die Klägerin Klage beim FG Hamburg erhoben. Sie machte geltend, dass die angegriffenen Bescheide gegen die MwStSystRL verstießen und die Auffassung des FA, wonach das Vorsteuerabzugsrecht immer schon mit der Ausführung des Umsatzes entstehe, nicht zutreffend sei. Wenn der Leistende seine Steuer nach vereinnahmten Entgelten berechne, entstehe der Vorsteueranspruch des Leistungsempfängers vielmehr erst dann, wenn der Leistungsempfänger das Entgelt entrichtet habe.

Praxishinweis

Im Hinblick auf das nationale Recht folgt das FG Hamburg der Rechtsauffassung des FA. Das FG hat jedoch Zweifel, ob die nationale Rechtslage vereinbar mit Art. 167 der MwStSystRL ist. Nach dem Wortlaut dieser Norm entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, „wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht“.

In seiner Vorlage beschäftigt das FG sich mit der Frage, welchen Spielraum die Mitglied-staaten bei der Umsetzung des Art. 167 MwStSystRL haben und ob hinsichtl. der Bedeutung des Vorsteuerabzugs im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem in Fällen der Fest-setzungsverjährung der Vorsteuerabzug verwehrt werden kann.

Nach Auffassung des FG könnte sich aus Art. 167 MwStSysRL eine abweichende Bewertung ergeben. Nach dieser Vorschrift entsteht der Vorsteueranspruch des Leistungsempfängers erst, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Nach Art. 66 Buchst b MwStSysRL können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Steueranspruch gegen bestimmte Steuerpflichtige erst mit der Vereinnahmung des Entgelts entsteht. Von dieser Möglichkeit hat der nationale Gesetzgeber in § 13 Abs. 1 Buchst. b UStG Gebrauch gemacht. Auch in diesen Fällen entsteht der Vorsteueranspruch nach nationalem Recht aber bereits dann, wenn die Lieferung oder sonstige Leistung ausgeführt worden ist. Bei strikter Anwendung könnte Art. 167 MwStSysRL somit in Widerspruch zum nationalen Recht stehen, da das in Art. 167 MwStSysRL geregelte Junktim zwischen Steueranspruch und Vorsteueranspruch aufgehoben wird.

Der EuGH hat sich zu dieser Problematik bisher noch nicht geäußert. In seinem Urteil v. 16.05.2013, C-169/12, TNT Express Worldwide (Poland), hatte er lediglich entschieden, dass die Mitgliedstaaten keinen anderen Zeitpunkt der Steuerentstehung festlegen können, als er sich aus Art. 66 Buchst. a bis c MwStSystRL ergibt, wenn von den Möglichkeiten nach Art. 66 MwStSystRL Gebrauch gemacht wird. Nach Art. 66 MwStSystRL können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Steueranspruch zu einem der drei folgenden Zeitpunkte entsteht: Spätestens bei der Ausstellung der Rechnung, spätestens bei der Vereinnahmung des Preises oder, im Fall der Nichtausstellung oder verspäteten Ausstellung der Rechnung, binnen einer bestimmten Frist nach Eintreten des Steuertatbestands. Andere als diese drei Steuerentstehungszeitpunkte sind nach dem Urteil nicht möglich. Ein Mitgliedstaat kann daher insbes. keinen Steuerentstehungszeitpunkt durch Kombination einer oder mehrerer Tatbestände nach Art. 66 MwStSystRL vorsehen. Somit ist es insbes. nicht zulässig, eine Steuerentstehung nach vereinnahmten Entgelten (Istversteuerung) noch mit weiteren Tatbeständen zu versehen.

Die Rechtslage nach nationalem Recht ist nach Auffassung des FG indes mit Art. 167 MwStSysRL vereinbar, wenn es sich bei Art. 167 MwStSysRL nicht um eine zwingende Vorgabe, sondern lediglich um eine "Leitidee" handelt. Dass es sich bei Art. 167 MwStSysRL nur um eine Leitidee handelt, könnte sich nach Auffassung des FG aus der Protokollerklärung des Rates und der Kommission zu Art. 17 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie ergeben. Diese ist die wortgleiche Vorgängervorschrift des Art. 167 MwStSysRL. Nach der Protokollerklärung können die Mitgliedstaaten von dem in Art. 17 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie vorgesehenen Grundsatz abweichen, wenn der Lieferant oder der Erbringer von Dienstleistungen nach seinen Einnahmen besteuert wird.

Ob diese Protokollerklärung zur Auslegung der MwStSystRL verwendet werden kann, erscheint dem FG jedoch fraglich. Zwar können Protokollerklärungen grds. zur Auslegung von Rechtsakten der EU herangezogen werden. Nach der Rechtsprechung des EuGH gilt dies jedoch nicht, wenn der Inhalt der Protokollerklärung im Wortlaut der fraglichen Regelung keinen Ausdruck gefunden hat. Demnach kommt es nach Auffassung des FG darauf an, ob der Inhalt der Protokollerklärung Eingang in die Regelungen der MwStSystRL gefunden hat. Der Wortlaut des Art. 167 MwStSysRL sieht eine Einschränkung, wie sie der Protokollerklärung zu entnehmen ist, nicht vor. Die Protokollerklärung könnte jedoch Ausdruck in der Vorschrift in Art. 226 Nr. 7a MwStSysRL gefunden haben.

Danach muss eine Rechnung die Angabe "Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten" enthalten, wenn sich die Steuerentstehung nach Art. 66 Buchst. b MwStSysRL richtet und das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Durch diese zusätzliche Rechnungsangabe wird der Empfänger darüber informiert, dass der Leistungserbringer nach vereinnahmten Entgelten besteuert wird und kann hieraus die mit Blick auf den Vorsteuerabzug gebotenen Konsequenzen ziehen. In der Literatur werde vertreten, dass sich aus Art. 226 Nr. 7a MwStSysRL ergebe, dass der in Art. 167 MwStSysRL geregelte Zusammenhang zwischen Steueranspruch und Vorsteueranspruch nunmehr zwingend sei (Frye in Rau/Dürrwächter, UStG, § 20 Rn. 47.1, Stand Oktober 2016; Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rn. 81, Stand Mai 2019; ders., UStG, 3. Aufl. 2015, § 15 Rn. 14).

Die RL 2010/45/EU wäre bis zum 31.12.2012 in das nationale Recht umzusetzen gewesen; gleichwohl hat der deutsche Gesetzgeber Art. 226 Nr. 7a MwStSysRL nicht umgesetzt. Vor dem Hintergrund der inländischen Rechtslage erscheint dies nach Auffassung des FG folgerichtig; danach benötigt der Rechnungsempfänger keine Information, ob der Rechnungsteller nach vereinnahmten Entgelten besteuert wird, da der Vorsteuerabzug hierdurch nicht berührt wird.

Die Entscheidung des EuGH wird auf unserer Praxis des Vorsteuerabzugs in diesem Bereich Auswirkungen haben, daher sollten Unternehmen die Verfahren – sofern für sie dienlich – offen halten. Das Team der AWB hilft Ihnen gern bei der Beurteilung.

 

 

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