EuGH zum nachträglichen Vorsteuerabzug bei Änderung der Nutzungsverhältnisse im Zusammenhang mit wirtschaftlicher Tätigkeit

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 25.07.2018, C-140/17, Gmina Ryjewo

Sachverhalt

Bei dem polnischen Vorabentscheidungsersuchen ging es um den Umfang des Vorsteuerabzugs einer Gemeinde in Bezug auf die Anschaffung eines Investitionsguts, das zunächst nur für hoheitliche Tätigkeiten der Gemeinde genutzt wird und erst später aufgrund einer Nutzungsänderung auch für unternehmerische Zwecke verwendet wird. In diesem Zusammenhang wollte das Vorlagegericht wissen, ob es für den Umfang des Vorsteuerabzugs von Bedeutung ist, dass die Gemeinde im Zeitpunkt der Herstellung bzw. des Erwerbs des Investitionsguts die Absicht, dieses künftig für steuerpflichtige Umsätze zu nutzen, nicht explizit zum Ausdruck gebracht hatte, bzw. ob es von Bedeutung ist, dass das Investitionsgut sowohl für steuerpflichtige als auch für hoheitliche Umsätze (zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben) genutzt wird und es nicht möglich ist, die konkreten Investitionsausgaben einem dieser Nutzungsarten Umsätze objektiv zuzuschreiben.

Die polnische Finanzverwaltung war der Auffassung, dass die von der Gemeinde zu Investitionszwecken – Bau eines Kulturhauses in den Jahren 2009 und 2010, das unentgeltlich dem gemeindlichen Kulturzentrum überlassen werden sollte – bezogenen Leistungen nicht im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit erworben worden seien und die Gemeinde daher nicht als Unternehmer gehandelt habe. Die von der Gemeinde ab 2014 geplante Nutzung des erbauten Kulturhauses für mehrwertsteuerpflichtige Zwecke (steuerpflichtige Vermietung) bedeute nicht, dass die Gemeinde im Zeitpunkt der Errichtung des Gebäudes das Recht zum Vorsteuerabzug erlangt habe. Die Vermietung von Räumen im Kulturhaus berechtige nicht zum Steuerabzug, da dieses Recht zusammen mit dem Anspruch auf die abziehbare Steuer entstehe.

Entscheidung

Der EuGH hat entschieden, dass eine Einrichtung des öffentlichen Rechts ein Recht auf Berichtigung des Vorsteuerabzugs zu ihren Gunsten hat, wenn sie eine als Investitionsgut bestimmte Immobilie erwirbt, die zum Zeitpunkt des Erwerbs ihrer Art nach sowohl für besteuerte als auch für nicht besteuerte Tätigkeiten verwendet werden konnte und die Einrichtung ihre Absicht, das Investitionsgut einer besteuerten Tätigkeit zuzuordnen, nicht ausdrücklich bekundet, aber auch nicht ausgeschlossen hatte, dass die Immobilie für eine besteuerte Tätigkeit verwendet werde. Es muss sich aber aus der Prüfung aller tatsächlichen Gegebenheiten ergeben, dass der betreffende Unternehmer zum Zeitpunkt der Investition als Unternehmer gehandelt hat. Die Prüfung, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, muss in jedem Einzelfall anhand eines weiten Verständnisses des Begriffs des Erwerbs „als Steuerpflichtiger“ erfolgen. Es ist für sich gesehen ohne Bedeutung, dass der betreffende Gegenstand nicht unmittelbar nach seinem Erwerb für besteuerte Umsätze verwendet worden ist, da die Verwendung des Gegenstands nur den Umfang des Vorsteuerabzugs oder der etwaigen späteren Vorsteuerberichtigung bestimmt, jedoch nicht die Entstehung des Vorsteueranspruchs berührt.

Praxishinweis

Der EuGH hatte in ähnlichen Fällen bereits früher entschieden. Art. 184 ff. MwStSystRL regeln die Berichtigung des Vorsteuerabzugs, die grundsätzlich von den Verhältnissen zum Zeitpunkt der erstmaligen Ausübung des Vorsteuerabzugs auszugehen hat. Danach ist ein Vorsteuerabzug nicht zulässig, wenn der Steuerpflichtige den Gegenstand erst später seinem Unternehmen zuführt und zu unternehmerischen Zwecken verwendet. Eine solche Einlage aus dem Privatvermögen in das Unternehmensvermögen erfüllt nicht die Bedingungen für einen Vorsteuerabzug, weil es an der Lieferung eines anderen Steuerpflichtigen fehlt (EuGH, Urt. v. 11.07.1991, Rs. C-97/90, Lennartz). Im hoheitlichen (nichtunternehmerischen) Bereich einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft angefallene Vorsteuern können ebenfalls nicht nachträglich im unternehmerischen Bereich zum Abzug zugelassen werden, bzw. eine Vorsteuerberichtigung kommt ebenfalls nicht in Betracht (EuGH, Urt. v. 02.06.2005, Rs. C-378/02, Waterschap Zeeuws Vlaanderen).

Nach Art. 168a Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL gilt, soweit ein dem Unternehmen zugeordnetes Grundstück vom Stpfl. sowohl für unternehmerische Zwecke als auch für seinen privaten Bedarf oder den seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke verwendet wird, darf bei Ausgaben im Zusammenhang mit diesem Grundstück höchstens der Teil der Mehrwertsteuer nach den Grundsätzen der Art. 167, 168, 169 und 173 MwStSystRL abgezogen werden, der auf die Verwendung des Grundstücks für unternehmerische Zwecke des Stpfl. entfällt. Damit handelt es sich rechtstechnisch um einen Ausschluss des Vorsteuerabzugs, soweit das dem Unternehmen zugeordnete Grundstück nicht für unternehmerische Zwecke verwendet wird. Die Regelung in Art. 168a Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL setzt damit zunächst eine entsprechende Zuordnungsentscheidung des Unternehmers voraus. Ein Grundstück kann dem Unternehmen zu 100 %, unabhängig von der Verwendung für unternehmerische oder unternehmensfremde Zwecke, zugeordnet werden. Der Vorsteuerabzug jedoch (z. B. auf die Anschaffungskosten) kann nur geltend gemacht werden, soweit das Grundstück für unternehmerische Zwecke genutzt wird. Besteht die nichtunternehmerische Tätigkeit in einer nichtwirtschaftlichen Tätigkeit i. e. S., hat der Unternehmer kein Wahlrecht zur vollständigen Zuordnung (vgl. EuGH, Urt. v. 13.03.2008, Securenta). Ändert sich der Verwendungsanteil eines Grundstücks nach Art. 168a Abs. 1 Unterabs. 1, so werden diese Änderungen nach Art. 168a Abs. 1 Unterabs. 2 MwStsystRL abweichend von Art. 26 MwStSystRL nach den in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden Vorschriften zur Anwendung der in den Art. 184 bis 192 MwStSystRL festgelegten Grundsätze berücksichtigt. Diese Regelung bedeutet, dass bei Änderungen der Nutzungsverhältnisse eines dem Unternehmen zugeordneten Grundstücks (Verringerung oder Erhöhung des Anteils der Nutzung für unternehmerische bzw. unternehmensfremde Zwecke) keine Wertabgabenbesteuerung über die in Art. 26 MwStSystRL geregelte Gleichstellung der Verwendung eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstands mit einer steuerbaren Dienstleistung erfolgt, sondern eine Vorsteuerberichtigung zugunsten oder zuungunsten des Unternehmers nach Maßgabe der Art. 184 bis 192 MwStSystRL.

Nach diesen Grundsätzen hätte der Gemeinde im Ausgangsverfahren eigentlich nicht nachträglich ein anteiliger Vorsteuerabzug zustehen können.

Das Urteil bedeutet prinzipiell eine Abkehr von der bisherigen strengeren Rechtsprechung des EuGH. Dies ist daran erkennbar, dass das Urteil sehr viele Ausführungen dazu enthält, dass der Vorlagefall nicht mit anderen bisher entschiedenen Fällen vergleichbar sei. Obwohl das Urteil zur Investitionstätigkeit einer Einrichtung des öffentlichen Rechts ergangen ist, dürfte es daher auch nicht beschränkt auf Investitionen durch die öffentliche Hand anwendbar sein, sondern auch auf alle vergleichbaren Investitionen von Einrichtungen anderer Rechtsformen und natürlicher Personen. Zwar ist es grundsätzlich weiterhin erforderlich, im Zeitpunkt der Investition als Unternehmer zu handeln. Wenn sich dies nicht eindeutig feststellen lässt, kann die Art der Investition, d. h., die Möglichkeit, das Investitionsgut für wirtschaftliche Tätigkeiten, die vorsteuerunschädlich sind, verwenden zu können, eine Rolle spielen. Ein Indiz für den Vorsteuerabzug kann auch sein, dass der Betreffende zum Zeitpunkt der Investition für MwSt-Zwecke registriert ist. Im Zeitpunkt der Investition muss nicht zwingend die Absicht bekundet werden, das Investitionsgut dem Unternehmen zuzuordnen, wenn der Betreffende nicht ausgeschlossen hatte, dass es auch für eine vorsteuerunschädliche Tätigkeit verwendet werden könnte.

Beispiel:
Einzelunternehmer A kauft einen Pkw, den er privat seiner Frau verschenken möchte. A trifft keine Entscheidung der Zuordnung des Pkw zu seinem Unternehmen. Es ist im Zeitpunkt des Kaufs nicht ausgeschlossen, dass der Pkw auch im Rahmen des Unternehmens des A genutzt wird. Der Pkw wird im ersten Jahr nur privat von der Ehefrau genutzt. Ab dem zweiten Jahr nutzt A den Pkw gelegentlich für sein Unternehmen. Nach den Grundsätzen des vorliegenden Urteils könnte A, anders als nach bisheriger Betrachtungsweise, ab dem zweiten Jahr der Pkw-Nutzung grds. einen anteiligen nachträglichen Vorsteuerabzug geltend machen.

Diese Entscheidung gibt sicherlich noch Anlass zu vielfältigen Überlegungen und Diskussion. Es ermöglicht grds. in Fällen einen Vorsteuerabzug, in denen bislang kein Vorsteuerabzug möglich war, z. B. bei einer (nachträglichen) Umwidmung/Einlage in das umsatzsteuerliche Unternehmensvermögen. Betroffene sollten hier alle Fälle offen halten und prüfen, ob das Urteil ihnen dienlich ist. Das USt-Team der AWB steht Ihnen bei der Umsetzung und Prüfung mit seiner Erfahrung gern zur Verfügung.

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