EuGH zur Frage nach der Anwendbarkeit eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung digitaler Bücher auf elektronischem Weg

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 07.03.2017, C-390/15, Rzecznik Praw Obywatelskich (RPO)

Praxisproblem

Nach Art. 98 Abs. 2 in Verbindung mit Nr.  6 des Anhangs III der MwStSystRL können „Bücher auf jeglichen physischen Trägern“ dem ermäßigten Steuersatz unterliegen. Fraglich ist, ob und inwieweit es unionsrechtlich zulässig ist, diese Steuerermäßigung für Bücher, die in digitaler Form herausgegeben werden, für andere elektronische Publikationen auszuschließen.

Sachverhalt

Bei dem polnischen Vorabentscheidungsersuchen ging es um die Frage, ob Nr. 6 des Anhangs III der MwStSystRL in der durch die RL 2009/47/EU in Bezug auf ermäßigte Mehrwertsteuersätze geänderten Fassung ungültig ist, weil im Gesetzgebungsverfahren das wesentliche Formerfordernis der Anhörung des Europäischen Parlaments (EP) nicht beachtet worden sei.

Streitig war der Anwendungsbereich des ermäßigten Steuersatzes auf Print- und vergleichbare elektronische Fassungen eines Druckerzeugnisses. Nach polnischem Recht können die ermäßigten Steuersätze von 8 % und 5 % nur auf Druck- und Datenträgerausgaben (CD, Kassette oder andere Datenträger) angewandt werden, jedoch nicht auf elektronische Publikationen, für die der Normalsteuersatz von 23 % gilt. Nach Ansicht des Klägers verletzt die unterschiedliche Besteuerung von Publikationen, die dasselbe (relevante) wesentliche Merkmal, d.h. einen identischen Inhalt, aufweisen, den Grundsatz der steuerlichen Gleichbehandlung.

Nach Nr. 6 von Anhang III der MwStSystRL in der durch die RL 2009/47/EU geänderten Fassung können die Mitgliedstaaten folgende Umsätze dem ermäßigten Steuersatz unterwerfen: Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern, einschließlich des Verleihs durch Büchereien (einschließlich Broschüren, Prospekte und ähnliche Drucksachen, Bilder-, Zeichen- oder Malbücher für Kinder, Notenhefte oder Manuskripte, Landkarten und hydrografische oder sonstige Karten), Zeitungen und Zeitschriften, mit Ausnahme von Druckerzeugnissen, die vollständig oder im Wesentlichen Werbezwecken dienen.

Der Kläger meinte, trotz der Vornahme entscheidender Änderungen des Rates am Vorschlag der EU-Kommission, die sich aus der endgültigen Fassung von Nr. 6 des Anhangs III in der durch die RL 2009/47/EG geänderten Fassung ergebe, habe das Europäische Parlament (nach seiner legislativen Entschließung vom 19.02.2009, mit dem es den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG in Bezug auf ermäßigte Mehrwertsteuersätze in einer geänderten Fassung billigte und den Rat aufforderte, das Europäische Parlament zu unterrichten, falls er beabsichtige, von dem vom Europäischen Parlament gebilligten Text abzuweichen, und es erneut zu konsultieren, falls er beabsichtige, den Vorschlag der Kommission entscheidend zu ändern) nicht erneut am Gesetzgebungsverfahren teilgenommen.

Der Kläger meinte, dass nach der Rechtsprechung des EuGH jede Änderung des Textes während des Gesetzgebungsverfahrens eine erneute Anhörung des Europäischen Parlaments erforderlich macht, wenn der endgültig verabschiedete Text als Ganzes gesehen in seinem Wesen von demjenigen abweicht, zu dem das Parlament bereits angehört worden ist, es sei denn, die Änderungen entsprechen im Wesentlichen einem vom Parlament selbst geäußerten Wunsch (vgl. EuGH, Urt. v. 05.07.1995, C-21/94, v. 10.06.1997, C-392/95 und v. 05.10.1994, C-280/93). Der EuGH geht auch davon aus, dass die ordnungsgemäße Anhörung des Europäischen Parlaments ein wesentliches Formerfordernis darstellt, dessen Nichtbeachtung die Nichtigkeit der betreffenden Handlung zur Folge hat (vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.1997, C-408/95).

Entscheidung

Der EuGH konstatiert zunächst in seiner Entscheidung, dass mit der Regelung in Anhang III Nr. 6 MwStSystRL – (die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Überlassung von digitalen Buchinhalten auf elektronischem Weg (elektronische Dienstleistung) wird ausgeschlossen, während die Steuerermäßigung bei der Lieferung digitaler Bücher auf jeglichen physischen Trägern zulässig ist – ) zwei Sachverhalte ungleich behandelt werden, die mit Blick auf den vom Unionsgesetzgeber mit der Option der Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes bei bestimmten Arten von Büchern verfolgten Zweck (der Förderung des Lesens) vergleichbar sind.

In einem zweiten Schritt prüft der EuGH, ob diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist. Dies ist der Fall, wenn sie im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der Maßnahme, die zu einer solchen unterschiedlichen Behandlung führt, verfolgt wird, und wenn die unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu diesem Ziel steht. Beim Erlass einer steuerlichen Maßnahme muss der Richtliniengeber Entscheidungen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Art treffen, divergierende Interessen in eine Rangfolge bringen oder komplexe Beurteilungen vornehmen. Infolgedessen ist ihm in diesem Rahmen nach dem vorliegenden Urteil ein weites Ermessen zuzuerkennen, sodass sich die gerichtliche Kontrolle der Einhaltung der genannten Voraussetzungen auf offensichtliche Fehler beschränken muss. In diesem Kontext weist der EuGH darauf hin, dass der Ausschluss der Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Überlassung digitaler Bücherinhalte auf elektronischem Weg die Konsequenz der für den elektronischen Handel geltenden Ausnahmeregelungen bei der Mehrwertsteuer ist. In Anbetracht der fortwährenden Weiterentwicklungen, denen elektronische Dienstleistungen als Ganzes unterworfen sind, sei es als erforderlich angesehen worden, für diese Dienstleistungen klare, einfache und einheitliche Regeln aufzustellen, damit der für elektronische Dienstleistungen geltende Steuersatz zweifelsfrei ermittelt werden kann und so die Besteuerung erleichtert wird. Durch den Ausschluss der elektronischen Dienstleistungen von der Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes erspart der Richtliniengeber es nach dem vorliegenden Urteil den Steuerpflichtigen und der Finanzverwaltung, bei jeder Art solcher Dienstleistungen zu prüfen, ob sie unter eine der Kategorien von Dienstleistungen fällt, für die nach der MwStSystRL der ermäßigte Steuersatz möglich ist. Eine solche Maßnahme (gleicher Steuersatz, d.h. ausschließlich Regelsteuersatz für alle elektronischen Dienstleistungen) kann nach dem vorliegenden Urteil als zur Verwirklichung des mit der Umsatzbesteuerung elektronischer Dienstleistungen verfolgten Ziels geeignet angesehen werden. Hätten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, auf die Überlassung von Bücherinhalten auf elektronischem Weg einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anzuwenden, wie es bei der Lieferung solcher Bücher auf jeglichen physischen Trägern zulässig ist, würde nach dem Urteil die Kohärenz der gesamten vom Richtliniengeber angestrebten Maßnahme beeinträchtigt, die darin besteht, alle elektronischen Dienstleistungen von der Möglichkeit der Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes auszunehmen.

Zur Pflicht, das Europäische Parlament im Gesetzgebungsverfahren anzuhören, führt der EuGH aus, dass diese impliziert, das Europäische Parlament immer dann erneut anzuhören, wenn der letztlich verabschiedete Text als Ganzes gesehen in seinem Wesen von demjenigen abweicht, zu dem es bereits angehört wurde; es sei denn, die Änderungen entsprechen im Wesentlichen einem vom Parlament selbst geäußerten Wunsch.

Der EuGH sieht in der Endfassung von Anhang III Nr. 6 MwStSystRL nur eine redaktionelle Vereinfachung des Textes des entsprechenden Kommissionsvorschlages, dessen Wesen in vollem Umfang erhalten blieb. Der Rat war nach dem Urteil somit nicht verpflichtet, das Europäische Parlament erneut anzuhören.

Praxishinweis

In der Sache K (C- 219/13, Urt. v. 11.09.2014) hatte der EuGH bereits festgestellt, dass Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 und Anhang III Nr. 6 MwStSystRL unter Beachtung des Neutralitätsgrundsatzes (was Sache des nationalen Gerichts ist) es nicht verbieten, dass ein Mitgliedstaat für gedruckte Bücher einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwendet, während Bücher, die auf anderen physischen Trägern wie einer CD oder CD-ROM oder USB-Sticks gespeichert sind, dem Normalsteuersatz unterliegen.

Nach dem Urteil wollte der Richtliniengeber die Mitgliedstaaten nicht verpflichten, auf alle Bücher, unabhängig davon, auf welchem physischen Träger sie gespeichert sind, einen identischen ermäßigten Steuersatz anzuwenden. Die Mitgliedstaaten können unter Beachtung des Neutralitätsgrundsatzes die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf bestimmte Arten von Büchern (d.h. Büchern auf unterschiedlichen Datenträgern) beschränken.

In seinen Urteilen v. 05.03.2015, C-479/13 und C-502/13 hatte der EuGH entschieden, dass der ermäßigte Steuersatz nach Anhang III Nr. 6 MwStSystRL nur auf einen Umsatz anwendbar ist, der in der Lieferung eines Buches besteht, das sich auf einem physischen Träger befindet. Elektronische Bücher unterliegen danach zwingend dem Normalsteuersatz.

Das vorliegende Urteil hat zwar für das deutsche Recht keine unmittelbare Bedeutung, weil nach diesem gegenwärtig nur Bücher in gedruckter Form (Nr. 49 der Anlage 2 zum UStG) oder als Hörbuch auf einem entsprechenden Datenträger (Nr. 50 der Anlage 2) steuerermäßigt sind. Erneut ist nach dem vorliegenden Urteil (wie auch nach den bisherigen Entscheidungen) aber deutlich geworden, dass der deutsche Gesetzgeber derzeit E-Books (als elektronische Dienstleistungen) nicht ermäßigt besteuern dürfte. Dies wäre nur nach einer entsprechenden Änderung der MwStSystRL möglich. Spannend wäre es aber dann zu sehen, wie der EuGH bei einer Ungleichbehandlung verschiedener elektronischer Dienstleistungsinhalte (z.B. Download von Bücherinhalten einerseits und elektronische Dienstleistungen im Bereich der sonstigen Informationsbeschaffung über das Internet (z.B. Download von Computersoftware)) entscheiden würde.

Des Weiteren bleibt abzuwarten, wie die EU Kommission und auch die derzeitige Regierungskoalition mit dem Vorhaben der Gleichstellung der auf elektronischem Wege publizierten Literatur vorankommen. Das Urteil wird hierzu nur klarstellende Funktion haben. Es bedarf einer Anpassung der MwStSystRL.

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