BFH zur Zollschuldentstehung durch Entziehen von Waren aus der zollamtlichen Überwachung im Rahmen der Abwicklung eines Versandverfahrens und zum Erlass bzw. der Erstattung von Einfuhrabgaben aus Billigkeitsgründen

Anmerkung zu: BFH, Urt. v. 26.11.2014, VII R 3/12

Praxisproblem

In vielen Fällen werden Nichtgemeinschaftswaren vor ihrer Überführung in den zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr in ein externes Versandverfahren übergeführt und mithilfe eines Dienstleisters zum entsprechen Warenempfänger befördert. Unstimmigkeiten bei der Verladung oder Beförderung durch den Einsatz eines Dritten, die zu Verfehlungen im Rahmen der Verfahrensvoraussetzungen und -auflagen führen, lassen sich meist nur schwer kontrollieren und überwachen. Häufig wird außer Acht gelassen, dass im Endeffekt der Anmelder der Waren zu dem Versandverfahren die zollrechtliche Verantwortung für die Gewährleistung sämtlicher Pflichten aus der Inanspruchnahme des Verfahrens zu tragen hat.

Sachverhalt

In diesem Revisionsverfahren richtet sich die Klägerin gegen die Entscheidung des  FG Hessen, welches einen Erstattungsantrag der Klägerin für aus einer Verfehlung im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren zu erhebende und entstandene Einfuhrabgaben ablehnte.

Am 17.01.2010 meldete die Klägerin im Auftrag der Fa. X in das Zollgebiet verbrachte Waren (Fahrradträger), die sich nach summarischer Anmeldung in vorübergehender Verwahrung in einem Verwahrungslager eines Dritten (= Fa. Y) befanden, zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren an. Die Klägerin verfügte über den Status eines zugelassenen Versenders.

Nach der Überlassung in das Versandverfahren sollten die Waren am 18.01.2010 durch die Fa. X aus dem Verwahrungslager entnommen und zusammen mit weiteren Gütern an ihren Bestimmungsort befördert werden. Bei Ankunft der Waren am Bestimmungsort wurde festgestellt, dass die zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren angemeldeten Fahrradträger fehlten und im Verwahrungslager der Fa. Y zurückgeblieben waren. Nunmehr wurden die Fahrradträger auf Anlass der Klägerin wiederum in einem neu eröffneten Versandverfahren an den Bestimmungsort transportiert und durch den Warenempfänger unter Entrichtung der Einfuhrabgaben in den freien Verkehr übergeführt.

Der Beklagte bzw. Revisionsbeklagte (das zuständige Hauptzollamt, HZA) erließ einen Einfuhrabgabenbescheid gegen die Klägerin, in dem die auf die Fahrradträger entfallenden Einfuhrabgaben (Zoll und Einfuhrumsatzsteuer) festgesetzt wurden. Die Entstehung und Erhebung der Einfuhrabgaben wurden damit begründet, dass die in das Versandverfahren übergeführten Waren durch die fehlende ordnungsgemäße Gestellung an der Bestimmungsstelle der zollamtlichen Überwachung entzogen wurden. Der Steuerbescheid wurde von der Klägerin nicht angefochten. Den von der Klägerin gestellten Antrag auf Erstattung der entrichteten Abgaben nach Art. 236 Zollkodex (ZK) lehnte das HZA ab. Im weiteren Verlauf des Verfahrens wurde ebenfalls zur Begründung der Erstattung Art. 239 Abs. 1 ZK angeführt.

Nach  Ablehnung des Erstattungsantrages reichte die Klägerin nach erfolglosen Einspruchsverfahren Klage bei dem zuständigen Finanzgericht ein. Die Klägerin brachte den Einwand vor, dass die streitigen Waren bereits im Zeitpunkt der vorübergehenden Verwahrung im Verwahrungslager der Fa. Y der zollamtlichen Überwachung entzogen worden seien. Die Waren sollten aufgrund von Umlagerungen im Zeitpunkt des Weitertransports nicht auffindbar gewesen sein. Die Klägerin sah es demnach zumindest zeitweise als nicht möglich an, dass Prüfungen oder Kontrollen durch die Zollbehörden durchgeführt werden konnten, und argumentierte, dass die Waren somit bereits während der vorübergehenden Verwahrung aus der zollrechtlichen Überwachung entzogen wurden. Diese Ansicht teilte das Finanzgericht nicht. Die weiteren Argumente, dass weder die Lagerbewilligung besondere Vorgaben für die Lagerhaltung enthalte, gegen die verstoßen worden sein könnte, noch dass es zur Zollschuldentstehung geführt habe, dass mit der Führung des Verwahrungslagers ein Subunternehmer beauftragt worden sei, stellten nach Ansicht des Finanzgerichts keine Gründe für eine Zollschuldentstehung durch ein Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung  zum Zeitpunkt der vorübergehenden Verwendung dar. Folglich sei die Zollschuld erst entstanden, als die Fahrradträger entgegen den Angaben der Versandanmeldung im Verwahrungslager verblieben seien. Als Anmelderin und Pflichteninhaberin, somit als sog. Hauptverpflichtete des Versandverfahrens sei die Klägerin Zollschuldnerin. Weiterhin würden die Aussagen, dass der Fahrer der Fa. X ebenfalls als Zollschuldner in Betracht gekommen sei, den Erstattungsanspruch nicht begründen. Die Klägerin habe die entstandenen Einfuhrabgaben als Zollschuldnerin gesetzlich geschuldet, wenn auch als Gesamtschuldnerin.

In dem Revisionsverfahren machte die Klägerin weiterhin geltend und vertrat die Auffassung, dass die Zollschuld bereits während der Zeit der vorübergehenden Verwahrung im Verwahrungslager entstanden wäre. Sie führte aus, dass zum einen die Fa. Y in unzulässiger Weise einen Subunternehmer mit der Führung des Verwahrungslagers beauftragt hätte, und zum anderen, dass die vorübergehende Verwahrung erst im Zeitpunkt und mit der Übergabe der Fahrradträger für ihren Transport im erneut eröffneten Versandverfahren geendet hätte. Aufgrund der unzureichenden Übergabe der betroffenen Waren an den Fahrer der Fa. X durch die Fa. Y wäre somit die Zollschuld entstanden.

Im Nachgang zu dieser Argumentation wurde das Revisionsverfahren vorerst ausgesetzt und die Fragen zur Zollschuldentstehung wegen Entziehens aus der zollamtlichen Überwachung sowie zum Zollschuldner wurden dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der EuGH beantwortete diese mit Urteil vom 12.06.2014, C-75/13, ZfZ 2014, 278 wie folgt:

„1. Die Art. 50 und 203 [ZK] (...) sind dahin auszulegen, dass eine in vorläufiger Verwahrung befindliche Ware als der zollamtlichen Überwachung entzogen anzusehen ist, wenn sie zwar zu einem externen gemeinschaftlichen Versandverfahren angemeldet worden ist, jedoch nicht das Lager verlässt und nicht der Bestimmungszollstelle gestellt wird, obwohl dieser die Versandpapiere vorgelegt worden sind.

2. Art. 203 Abs. 3 vierter Gedankenstrich [ZK] (...) ist dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens im Fall der Entziehung einer Ware aus der zollamtlichen Überwachung die Person, die diese Ware als zugelassener Versender in das externe gemeinschaftliche Versandverfahren übergeführt hat, Zollschuldner gemäß dieser Bestimmung ist.“

Auf Grundlage der Vorabentscheidung wurde das Revisionsverfahren wieder aufgenommen. Die Klägerin vertrat die Meinung, dass nach Aussage des EuGH ein Entziehen der Waren aus zollamtlicher Überwachung darin zu sehen wäre, dass die Fa. Y als Pflichteninhaberin die Zuführung der  zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren angemeldeten Waren zu diesem Verfahren unterlassen habe.

Entscheidung

Der BFH hat entschieden, dass das Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung weiterhin auf der Pflichtverletzung und der Nichtgestellung der Fahrradträger im Rahmen des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens basiert. Die Klägerin ist als Hauptverpflichtete Zollschuldnerin der entstandenen Einfuhrabgaben.

Die Revision der Klägerin war daher unbegründet und zurückzuweisen. Die vorherigen Entscheidungen des Finanzgerichts, die Klage abzuweisen und  die Erstattung der Einfuhrabgaben zu versagen, waren rechtmäßig, da weder die Voraussetzungen einer Erstattung nach Art. 236 Abs. 1 Unterabs. 1 ZK noch nach Art. 239 Abs. 1 ZK vorlagen.

1. Die von der Klägerin beantragte Erstattung nach Art. 236 Abs. 1 Unterabs. 1 ZK wurde versagt, da der geforderte Einfuhrabgabenbetrag aufgrund der Zollschuldentstehung nach Art. 203 Abs. 1 ZK gesetzlich geschuldet wird und die Klägerin gem. Art. 203 Abs. 3 ZK Abgabenschuldnerin ist.

In Übereinstimmung mit der Vorabentscheidung des EuGH ist die Zollschuld nicht bereits während der vorübergehenden Verwahrung der Fahrradträger im Verwahrungslager, sondern erst im Rahmen der ordnungsgemäßen Durchführung und Beendigung des eröffneten externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens entstanden. Wie zudem das Finanzgericht zutreffend entschied, ist die Zollschuld gem. Art. 203 Abs. 1 und 2 ZK am 18.01.2010 entstanden, da die betroffenen Waren zu diesem Zeitpunkt der zollamtlichen Überwachung entzogen worden sind. Dies geschah, da die betroffenen Fahrradträger nicht auf das entsprechende Transportfahrzeug verpackt wurden, weiterhin im Verwahrungslager verblieben und der für das Versandverfahren vorgesehene Transport mitsamt der Begleitung der Versandpapiere folglich ohne die betroffenen Fahrradträger stattfand.

Durch die Anmeldung und Überlassung der Waren am 17.01.2010 zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren erhielten die Fahrradträger eine zollrechtliche Bestimmung, hier Überführung in ein Zollverfahren, und besaßen demnach gem.  Art. 50 Satz 1 ZK nicht mehr die Rechtsstellung von Waren in vorübergehender Verwahrung. Trotz ihres unveränderten Aufenthaltsorts im Verwahrungslager befanden sich die Waren somit ab dem 17.01.2010 im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren und standen unter zollamtlicher Überwachung. Der Begriff des Entziehens aus der zollamtlicher Überwachung i.S.d. Art. 203 Abs. 1 ZK ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH so zu verstehen, dass er jede Handlung oder Unterlassung umfasst, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde, sei es auch nur zeitweise, am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und der Möglichkeit der Durchführung der in Art. 37 Abs. 1 ZK vorgesehenen Prüfungen gehindert wird. Hinsichtlich in das Versandverfahren übergeführter Waren stellt eine Trennung von zu einem Versandverfahren angemeldeter Ware und der entsprechenden Versandpapiere eine Behinderung möglicher zollamtlicher Prüfungen im vorstehenden Sinne dar. In Fortführung dieser Rechtsprechung hat der EuGH ebenfalls die Auffassung vertreten, dass ein Entziehen von vormals in vorübergehender Verwahrung befindlichen Waren aus der zollamtlicher Überwachung vorliegt, sollten diese zu einem Versandverfahren angemeldet und überlassen und nicht an der Bestimmungszollstelle gestellt werden, obwohl dieser die entsprechenden Versandpapiere vorgelegt werden würden. Folglich wurden die Fahrradträger der zollrechtlichen Überwachung entzogen, wodurch die Zollschuld gem. Art. 203 Abs. 1 ZK entstanden ist.

Für die Einfuhrumsatzsteuerschuld gelten die Vorgaben des Art. 203 ZK nach §§ 21 Abs. 2, 13 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) sinngemäß.

Darüber hinaus stimmte der BFH mit der Entscheidung des FG überein,  das Führen des Verwahrungslagers mithilfe der Beauftragung eines Subunternehmers nicht als Entziehen aus zollamtlicher Überwachung anzusehen. Auch für eine nach Ansicht der Klägerin vorliegende Pflichtverletzung der Fa. Y bestehen keine Anhaltspunkte. Die Klägerin ist gem. Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 ZK als Hauptverpflichtete des eröffneten externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens Schuldnerin der Einfuhrabgaben. Sie hatte zu gewährleisten, dass die aus der Inanspruchnahme des Versandverfahrens resultierenden Verpflichtungen eingehalten worden wären.

Die Fa. X ist nicht als Zollschuldnerin nach Art. 203 Abs. 3 ZK anzusehen. Die Fahrradträger waren mit ihrer Anmeldung zum externen Versandverfahren am 17.01.2010 nach Art. 50 Satz 1 ZK keine Waren der vorübergehender Verwahrung mehr. Somit bestanden auch keine zollrechtlichen Pflichten der Fa. Y als Inhaberin des Verwahrungslagers. Es lag nunmehr in der Pflicht der Klägerin als Hauptverpflichtete des Versandverfahrens, dafür zu sorgen, dass die von ihr in das Versandverfahren übergeführten Waren vollständig und in Begleitung der Versandpapiere zu ihrem Bestimmungsort befördert wurden.

Ob der Fahrer der für den Transport beauftragten Fa. Y neben der Klägerin ebenfalls als Zollschuldner in Betracht kommt, ist für die Bewertung der zollschuldrechtlichen Position der Klägerin irrelevant. Sollte dieser einen weiteren Abgabenschuldner darstellen, so würde die Klägerin weiterhin gem. Art. 213 ZK gesamtschuldnerisch für die Entrichtung der Einfuhrabgaben verpflichtet sein. Die Erstattungsvoraussetzungen des Art. 236 Abs. 1 Unterabs. 1 ZK lägen  auch im Fall eines weiteren möglichen Abgabenschuldners nicht vor.

2. Die von der Klägerin gesetzlich geschuldeten Einfuhrabgaben sind darüber hinaus auch nicht nach Art. 239 Abs. 1 ZK zu erstatten.

Nach dieser Vorschrift i.V.m. Art. 899 Abs. 2 der Zollkodex-Durchführungsverordnung (ZK-DVO) können Einfuhrabgaben unter bestimmten Voraussetzungen von der zuständigen Behörde in anderen als den in Art. 236 bis 238 ZK sowie in den Art. 900 bis 903 ZKDVO geregelten Fällen erstattet werden. Ein solcher Erstattungsfall könnte vorliegen, wenn es sich um einen besonderen Fall handelt, der nicht auf betrügerische Absicht oder offensichtliche Fahrlässigkeit des Beteiligten zurückzuführen ist (sog. Erstattung aus Billigkeitsgründen). Auf einen besonderen Fall i.S.d. Art. 899 Abs. 2 ZK-DVO kann geschlossen werden, wenn im Licht des an der Billigkeit ausgerichteten Regelungszwecks dieser Vorschriften Umstände festgestellt werden, aufgrund derer sich der Antragsteller in einer Lage befinden kann, die gegenüber derjenigen anderer Wirtschaftsteilnehmer, die die gleiche Tätigkeit ausüben, außergewöhnlich ist. Zum Vorliegen eines in diesem Sinne „besonderen Falls“ oder zum Fehlen offensichtlicher Fahrlässigkeit wurden von der Klägerin während des gesamten Verfahrens keine Ausführungen gemacht.

Im Übrigen ist auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats hinzuweisen. Demnach sind  erhobene und entrichtete Einfuhrabgaben, die in Unkenntnis ihres vorangegangenen Entstehens wegen Entziehung aus zollamtlicher Überwachung erst anlässlich ihrer Überführung in den freien Verkehr erhoben und entrichtet worden sind, dem zu Unrecht gem. Art. 201 Abs. 3 ZK in Anspruch genommenen Zollschuldner zu erstatten. Dies gilt jedoch nicht für eine nach Art. 203 Abs. 1 ZK entstandene Zollschuld, die dem nach Art. 203 Abs. 3 ZK in Anspruch zu nehmenden Zollschuldner aus Billigkeitsgründen erlassen bzw. erstattet werden sollte (Senatsbeschl. v. 15.03.2012, VII B 161/11, BFH/NV 2012, 1200).

Praxishinweis

Unabhängig vom Einsatz Dritter ist gem. Art. 96 Abs. 1 ZK der Inhaber eines externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens verantwortlich für die Einhaltung der aus der Inanspruchnahme des Verfahrens einhergehenden Verpflichtungen. Aus zollrechtlicher Sicht wird diese Person in sämtlichen Fällen eines Entziehens aus der zollamtlichen Überwachung oder Pflichtverletzung im Zusammenhang mit einem eröffneten Versandverfahrens gem. Art. 203 Abs. 3 ZK und Art. 204 Abs. 3 ZK zum Abgabenschuldner. Es ist zu empfehlen, Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen einzurichten, um alle Pflichten entsprechend einzuhalten. Darüber hinaus sollten die zivilrechtlichen Vereinbarungen mit den beauftragten Dritten sorgfältig geprüft und ggf. mit entsprechenden Vorgaben zu Absicherungen bei verschuldeten Verfehlungen bei der Beförderung im Versandverfahren versehen werden.