Neues aus Brüssel

Ausdehnung Reverse-Charge zur Betrugs- und Missbrauchsbekämpfung

Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Bezug auf einen Schnellreaktionsmechnismus bei Mehrwertsteuerbetrug v. 22.7.2013, 11373/13, FISC 132, 2012/0205 (CNS), ABl. EU Nr. L 2013/201, 4

Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem im Hinblick auf eine fakultative und zeitweilige Änderung der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft (Reverse-Charge-Verfahren) auf Lieferungen bestimmter betrugsanfälliger Gegenstände und Dienstleistungen v. 22.7.2013, 11374/13, FISC 133, 2009/0139 (CNS), ABl. EU Nr. L 2013/201, 1

Praxisproblem

Nach wie vor wird im Bereich der Mehrwertsteuer ein enormer Missbrauch beklagt. Der Grund hierfür liegt im System der Mehrwertsteuer, die fraktioniert jeden Umsatz besteuert und die Abführung der Umsatzsteuer grundsätzlich in die Verantwortung des Leistenden und den Abzug der Vorsteuer in den Verantwortungsbereich des Leistungsempfängers überantwortet. Der Umsatzsteuermissbrauch und –betrug vollziehen sich einmal im Bereich in Anspruch genommener Steuerbefreiungen im grenzüberschreitenden Warenverkehr, obwohl die Nachweise hierfür nicht erbracht werden können. Diese vollziehen sich zum anderen im Bereich der Vorsteuer, wenn bei betrügerischem Zusammenwirken die Vorsteuer gezogen wird, ohne dass der Leistende – wie einvernehmlich beabsichtigt – die Umsatzsteuer nicht bezahlt. Mehrwertsteuerbetrug führt zu erheblichen Einnahmenverlusten und beeinträchtigt die Wettbewerbsbedingungen sowie das Funktionieren des Binnenmarktes. Als wirksamstes – wenn auch das System beeinträchtigendes – Mittel zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetruges gilt das Reverse-Charge-Verfahren.

Der Vorstoß der Bundesregierung, im zwischenunternehmerischen Handel flächendeckend den Übergang der Steuerschuldnerschaft zu implementieren, konnte auf Unionsebene wegen erheblicher Bedenken im Hinblick auf das gegenwärtige System einer fraktionierten Umsatzbesteuerung nicht umgesetzt werden.

Stattdessen gewährt das Unionsrecht die Möglichkeit, branchenspezifisch und für bestimmte Arten von Leistungen die Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger zu überwälzen. Im Bereich des Art. 196 MwStSystRL (grenzüberschreitende Dienstleistungen), Art. 197 MwStSystRL (innergemeinschaftliche Dreiecksgeschäfte), Art. 195 MwStSystRL (Lieferung von Gas und Elektrizität durch einen im Ausland ansässigen Unternehmer) und Art. 198 MwStSystRL (zwischenunternehmerische Umsätze mit Anlagegold) ordnet das Unionsrecht zwingend den Übergang der Steuerschuldnerschaft an. Die in Art. 199 Abs. 1 Buchst. a bis g MwStSystRL aufgelisteten Tätigkeiten berechtigen die Mitgliedstaaten ebenso zur optionalen Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens wie die in Art. 199a Abs. 1 MwStSystL geregelte Übertragung von Treibhausgasemissionszertifikaten. Jede darüber hinaus begehrte Ausdehnung des Reverse-Charge-Verfahrens bedarf eines Antrags an die Kommission, der vom Rat einstimmig angenommen werden muss, Art. 395 MwStSystRL.

Die jüngsten Erfahrungen haben gezeigt, dass mit dem in Art. 395 MwStSystRL vorgesehenen Verfahren nicht schnell genug auf Anträge der Mitgliedstaaten im Hinblick auf Sofortmaßnahmen reagiert werden kann, und dass bei grenzüberschreitenden Umsätzen bzw. bei bestimmten nationalen Hochrisikosektoren auch über die in Art. 195 ff. MwStSystRL aufgelisteten Kategorien weitere besonders betrugsanfällige Leistungen aufgelistet werden müssen.

Lösung der EU

a) Schnellreaktionsmechanismus bei Mehrwertsteuerbetrug, Richtlinie 2013/42/EU v. 22.7.2013

Durch eine Ergänzung des Art. 395 MwStSystRL um einen neuen Absatz 5 und Einfügung eines neuen Art. 199b MwStSystRL wird den Mitgliedstaaten die Sondermaßnahme eines Schnellreaktionsmechanismus zur Verfügung gestellt. Danach kann in Fällen äußerster Dringlichkeit zur Bekämpfung unvermittelt auftretender und schwerwiegender Betrugsfälle, die voraussichtlich zu erheblichen und unwiederbringlichen finanziellen Verlusten führen, ein Mitgliedstaat das Reverse-Charge-Verfahren einführen. Die Sondermaßnahme des Schnellreaktionsmechanismus sieht dabei vor, ein von der Kommission im Wege eines Durchführungsrechtsaktes erstellten Standardformblattes für die Einreichung der Mitteilung der Sondermaßnahme zu verwenden. Ein Mitgliedstaat, der die Sondermaßnahme des Schnellreaktionsmechanismus einführen möchte, hat gleichzeitig neben der Verwendung des Standardformblattes einen Antrag an die Kommission gem. Art. 395 MwStSystRL zu stellen. Erhebt die Kommission Einwände gegen die Sondermaßnahme, muss sie innerhalb eines Monats nach der Mitteilung eine ablehnende Stellungnahme erstellen. Erhebt die Kommission keine Einwände, so bestätigt sie dies dem betreffenden Mitgliedstaat und – innerhalb des gleichen Zeitraums – dem Mehrwertsteuerausschuss in schriftlicher Form. Ab dem Zeitpunkt des Eingangs der Bestätigung kann der Mitgliedstaat die Sondermaßnahme erlassen. Das Verfahren nach Art. 395 MwStSystRL ist statt in 8 in 6 Monaten abzuschließen.

 

b) Ausdehnung Reverse-Charge-Verfahren, Richtlinie 2013/43/EU v. 22.7.2013

 

In Ergänzung des Art. 199a Abs. 1 MWStSystRL um die neuen Buchstaben c bis j können die Mitgliedstaaten fakultativ das Reverse-Charge-Verfahren nunmehr auch für folgende Leistungen anwenden:

  • Lieferung von Mobilfunkgeräten
  • Lieferungen von integrierten Schaltkreisen
  • Lieferungen von Gas und Elektrizität im zwischenunternehmerischen Bereich
  • Übertragung von Gas- und Elektrizitätzertifikaten
  • Erbringung von Telekommunikationsdienstleistungen
  • Lieferungen von Spielekonsolen, Tablet-Computern und Laptops
  • Lieferungen von Getreide und Handelsgewächsen
  • Lieferungen von Rohmetallen und Metallhalberzeugnissen

Beide Richtlinien gelten ausdrücklich befristet nur bis zum 31.12.2018.

Praxishinweis

Das deutsche UStG hat mit den in § 13b Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 - 10 UStG geregelten Fällen umfangreich von den unionsrechtlichen Möglichkeiten und Verpflichtungen zum Übergang der Steuerschuldnerschaft Gebrauch gemacht (Ausnahme fakultativer Übergang der Steuerschuldnerschaft iSd Art. 199 Abs. 1 Buchst f, g MwStSystRL). Zuletzt ist durch das Amtshilfe-Richtlinien-Umsetzungsgesetz die Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens auf Inlandslieferungen von Gas und Elektrizität im zwischenunternehmerischen Bereich (§ 13b Abs. 2 Nr. 5 Buchst b UStG) ausgedehnt worden. Hierfür bedurfte es einer Ermächtigung des Rates gem. Art. 395 Abs. 1 MwStSystRL, die im Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses nicht vorlag. Konsequenterweise sah Art. 31 Abs. 5 Amtshilfe-Richtlinien-Umsetzungsgesetz einen speziellen Zeitpunkt des Inkrafttretens in Abhängigkeit des Ermächtigungsbeschlusses des Rates vor. Mit der Verabschiedung der Richtlinie 2013/43/EU v. 22.7.2013 ermächtigt Art. 199a Abs. 1 Buchst e MwStSystRL genau für diesen Fall zur Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens. Danach gilt die mit dem Amthilfe-Richtlinien-Umsetzungsgesetz verabschiedete Regelung zur Erweiterung des Reverse-Charge-Verfahrens. Wegen Art. 2 Richtlinie 2013/43/EU – die Richtlinie tritt am 20. Tage nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU in Kraft – gilt die Neuregelung des § 13b Abs. 2 Nr. 5 UStG idF des Amtshilfe-Richtlinien-Umsetzungsgesetz erst ab dem 16.8.2013.

Neues unmittelbar geltendes EU-Mehrwertsteuerrecht

Verordnung des Rates zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 v. 21.6.2013, KOM/2012/763/FINAL, 10632/13, PRES/2013/274

Praxisproblem

Während die Bestimmungen der MwStSystRL jedenfalls im Grundsatz kein unmittelbar geltendes nationales Umsatzsteuerrecht darstellen, gilt etwas anderes hinsichtlich der vom EU-Rat beschlossenen Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 (EU-DVO). Diese Durchführungsverordnung, am 1.7.2011 in Kraft getreten, soll der Auslegung und damit der Behebung von Zweifelsfragen bei der einheitlichen Anwendung der Regelung in der MwStSystRL dienen. Obwohl es sich nur um Auslegungshilfen handelt, gelten die Bestimmungen der EU-DVO unmittelbar auch für das deutsche Umsatzsteuerrecht, sie bedürfen keines weiteren Umsetzungsaktes.

Am 21.6.2013 hat der EU-Rat eine Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 beschlossen. Betroffen sind zum einen Interpretations- und Auslegungshilfen im Bereich der Telekommunikations-, Rundfunk- und elektronische Dienstleistungen an Nichtsteuerpflichtige. Hier sieht die MwStSystRL zum 1.1.2015 als Ort der Dienstleistung nicht mehr den Ort des Leistenden, sondern den Ansässigkeitsort des Dienstleistungsempfängers vor (Art. 58 MwStSystRL). In diesem Zusammenhang wird jetzt in der Durchführungsverordnung die Ansässigkeit des Nichtsteuerpflichtigen definiert.

Ein weiterer Bereich der Änderung der Durchführungsverordnung betrifft zum anderen den Begriff des Grundstücks und die Konkretisierung, welche Leistungen als im Zusammenhang mit einem Grundstück zu betrachten sind. Schließlich regelt die Änderung der Durchführungsverordnung, wer unionsrechtlich als Veranstalter iSd der Art. 53 und 54 MwStSystRL angesehen werden kann.

Lösung der EU

Die Änderungen der Durchführungsverordnung sehen im Einzelnen Folgendes vor:

  • Art. 6a, 6b und Art. 7 EU-DVODefinition der elektronischen Dienstleistungen (schon bisher Art. 7 EU-DVO), Telekommunikationsdienstleistungen (Art. 6a EU-DVO) und Hörfunk- und Fernsehdienstleistungen (Art. 6b EU-DVO)
  • Art. 9a EU-DVO: Leistungskommission

Es wird vermutet, dass bei elektronisch erbrachten Dienstleistungen, die über ein Telekommunikationsnetz, eine Schnittstelle oder ein Portal wie ein App-Store erbracht werden, eine Dienstleistungskommission, Art. 28 MwStSystRL (vgl. § 3 Abs. 11 UStG), vorliegt. Voraussetzung hierfür ist aber, dass der an dieser Leistungserbringung beteiligte Steuerpflichtige (Telekommunikationsunternehmer) im eigenen Namen, aber für Rechnung  des Erbringers der elektronischen Dienstleistung tätig ist. Wird dagegen der Erbringer der elektronischen Dienstleistung gegenüber dem Kunden ausdrücklich als Leistungserbringer genannt und ist dies vertraglich vereinbart, scheidet eine Dienstleistungskommission aus. Art. 9a Abs. 1 Buchst. a und b EU-DVO sieht hierfür  weitere Voraussetzungen vor.

  • Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 EU-DVO

Ab 1.1.2015 liegt der Ort einer Dienstleistung auf dem Gebiet der Telekommunikations-, Rundfunk- und Fernsehen- und elektronisch erbrachter Dienstleistungen auch im B2C-Bereich dort, wo der nicht steuerpflichtige Leistungsempfänger ansässig ist. Gem. Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 EU-DVO hat der Dienstleistungsempfänger für den Leistenden immer dann den Status eines Nichtsteuerpflichtigen, wenn der Leistungs- empfänger dem Leistungserbringer seine individuelle Mehrwertsteuer-Identifikati-onsnummer nicht mitgeteilt hat.

  • Art. 24a, c, d, e, f, fa und fb, 24 g, ga EU-DVO

Immer dann, wenn die Ansässigkeit oder der Aufenthaltsort eines Nichtsteuerpflichtigen für die Bestimmung des Dienstleistungsortes von Bedeutung ist, sieht die EU-DVO nunmehr Vermutungsregeln für die Fälle vor, in denen der Ansässigkeits- oder Aufenthaltsort praktisch nicht oder nicht mit Sicherheit bestimmt werden kann. Die Vermutungsregeln greifen aber nur für diesen Fall ein. Betroffen sind zum einen die Dienstleistungen der Vermietung eines Beförderungsmittels, Art. 56 Abs. 2 Unterabs. 2 MwStSystRL, zum anderen Telekommunikation-, Rundfunk- und Fernsehen- und elektronisch erbrachte Dienstleistungen, Art. 58 MwStSystRL und schließlich die in Art. 59 MwStSystRL aufgelisteten Katalogleistungen. Der Dienstleistungserbringer hat jedoch die Möglichkeit, die gesetzliche Vermutung zu widerlegen. Hierfür sind mal zwei, mal drei Beweismittel - wie in Art. 24g und ga EU-DVO genannt – notwendig.

  • Art. 24 EU-DVO

Ist ein Nichtsteuerpflichtiger in verschiedenen EU-Ländern ansässig oder hat er seinen Wohnsitz in einem EU-Land und seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in einem anderen EU-Land, so bestimmt Art. 24 EU-DVO, dass die Dienstleistung vorrangig und zur Vermeidung von Zuständigkeitskonflikten am Ort des tatsächlichen Verbrauchs zu besteuern ist.

  • Art. 13b, 31a EU-DVO

Art. 13b EU-DVO definiert den Begriff des Grundstücks und setzt damit Abschn. 3a.3 Abs. 2 Satz 2, 3 UStAE idF v. BMF-Schr. v. 18.12.2012 – IV D3 – S 7117-a/12/10001; DOK 2012/1143976 um.

Art. 31a EU-DVO definiert Dienstleistungen im Zusammenhang mit Grundstücken und listet hierzu – wenn auch nicht abschließend – in Absatz 2 unter Buchst. a – q die Fälle auf, die bereits in Abschn. 3a.3 Abs. 4 Satz 4 Nr. 1 – 9, Abs. 8 Satz 2 Nr. 1 – 7 und Abs. 9 Nr. 1 - 7 UStAE idF v. BMF-Schr. v. 18.12.2012 – IV D3 – S 7117-a/12/10001; DOK 2012/1143976 aufgenommen sind.

Art. 31a Abs. 3 EU-DVO setzt die Vorgaben von Abschn. 3a.3 Abs. 10 Nr. 1 – 11 UStAE idF v. BMF-Schr. v. 18.12.2012 – IV D3 – S 7117-a/12/10001; DOK 2012/1143976 um und definiert enumerativ die Fälle, in denen die Dienstleistung nicht im Zusam- menhang mit einem Grundstück steht.

  • Art. 33a EU-DVO

Art. 33a EU-DVO stellt klar, dass der Verkauf von Eintrittskarten für Veranstaltungen iSd Art. 53 und 54 MwStSystRL auch für die Steuerpflichtigen als am Veranstaltungort

erbracht gilt, die im eigenen Namen die Eintrittskarten verkaufen, ohne selbst aber Veranstalter zu sein. Auch insoweit setzt Abschn. 3a.6 UStAE die unionsrechtlichen Interpretationsvorgaben bereits um.

Die Änderungen der EU-DVO treten am 1.1.2015 in Kraft, soweit es sich nicht um die Änderungen im Art. 13b (Definition Grundstück) und Art. 31a und Art. 31b (Ausführungen im Zusammenhang mit Grundstücken) handelt. Diese Änderungen gelten erst ab 1.1.2017.

Praxishinweis

Obwohl die Änderungen der EU-DVO erst ab 2015 bzw. 2017 in Kraft treten, sollten die betroffenen Unternehmer sich bereits frühzeitig auf die Neuerungen einstellen. Im Rahmen des vorauseilenden Gehorsams hat die Verwaltung die Änderungen und Interpretationsvorgaben zum Grundstücksbegriff und zur Ortsbestimmung nach § 3a Abs. 3 Nr. 1 UStG durch ihr BMF-Schr. v. 18.12.2012 – IV D3 – S 7117-a/12/10001; DOK 2012/1143976 vorweggenommen.