Anmerkung zum BFH-Urteil vom 24.10.2013, V R 17/13

Praxisproblem

Nach ständiger BFH-Rechtsprechung erstreckt sich die Höhe des Vorsteuerabzugs nur auf den Betrag der auf der Ausgangsseite gesetzlich geschuldeten Steuer. Wird eine Steuer für einen Umsatz vom leistenden Unternehmer geschuldet, statt der geschuldeten Steuer aber eine höhere Steuer in der Rechnung ausgewiesen, steht dem Leistungsempfänger (nur) der darin enthaltene gesetzlich geschuldete Betrag für den Vorsteuerabzug zu. Fraglich im vorliegenden Fall war, ob dieser Grundsatz auch gilt, wenn der höhere Steuerausweis (hier Anwendung des Regelsteuersatzes statt des ermäßigten Steuersatzes) zwar nicht nach nationalem Recht, aber nach dem Unionsrecht geboten ist.

Sachverhalt

Der zum Vorsteuerabzug berechtigte Kläger hatte im Streitjahr 2011 mit Mietkaufvertrag ein Springpferd erworben. Der Verkäufer hatte in der Rechnung die Umsatzsteuer zum Regelsteuersatz ausgewiesen und der Kläger hatte in dieser Höhe den Vorsteuerabzug geltend gemacht. Das Finanzamt hatte den Vorsteuerabzug nur auf der Grundlage des ermäßigten Steuersatzes anerkannt. Im Klageverfahren hatte der Kläger geltend gemacht, aufgrund des EuGH-Urteils v. 12.05.2011, C-453/09 (Kommission/Deutschland, BFH/NV 2011, 1276) sei die Regelung in § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Anlage 2 Nr. 1 Buchst. a (Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf die Lieferung von Pferden) nicht unionsrechtskonform. Bei der gebotenen richtlinienkonformen Auslegung müsse der Regelsteuersatz auf den Ausgangsumsatz angewendet werden mit der Folge, dass dem Kläger auch ein entsprechender Vorsteuerabzug zustehe.

Entscheidung

Der BFH hat entschieden, dass bei der Frage, ob für Zwecke des Vorsteuerabzugs eine gesetzlich geschuldete Steuer vorliegt, das Unionsrecht zu berücksichtigen ist. Sieht das nationale Recht für eine Leistung den ermäßigten Steuersatz vor, während sie nach dem Unionsrecht dem Regelsteuersatz unterliegt, kann sich der zum Vorsteuerabzug berechtigte Leistungsempfänger auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts berufen und - bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen, z.B. hinsichtlich der Anforderungen an die Rechnung - den Vorsteuerabzug nach dem für ihn günstigeren Regelsteuersatz in Anspruch nehmen. In Bezug auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist nach dem BFH-Urteil die Minderung der den zum Vorsteuerabzug berechtigten Unternehmer treffenden Steuerschuld maßgeblich. Diese verringert sich nach dem BFH-Urteil nicht nur für den Leistenden aufgrund der Anwendung eines unionsrechtlich vorgegebenen ermäßigten Steuersatzes anstelle des vom nationalen Recht vorgesehenen Regelsteuersatzes, sondern im umgekehrten Fall auch für den Leistungsempfänger, wenn (wie im Vorlagefall) das Unionsrecht die Anwendung des Regelsteuersatzes vorsieht, während der Umsatz nach nationalem Recht dem ermäßigten Steuersatz unterliegt.

Der BFH hat sich streng an der EuGH-Rechtsprechung orientiert. Danach sind die nationalen Gerichte bei einem Widerspruch zwischen den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts und den Bestimmungen des Unionsrechts gehalten, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts Sorge zu tragen, indem sie erforderlichenfalls jede - auch spätere - entgegenstehende Vorschrift des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen, ohne dass die vorherige Beseitigung dieser Vorschrift auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragt oder abgewartet werden müsste. Es ist alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften "auszuschalten", die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden (EuGH-Urteil vom 26.02.2013, C-617/10, Fransson, NJW 2013, 1415).

Danach konnte sich der Kläger auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts (hier das vom EuGH festgestellte Gebot des Regelsteuersatzes bei Lieferungen von Pferden gegenüber der nach nationalem Recht vorgesehenen Anwendung des ermäßigten Steuersatzes) vor dem nationalen Recht berufen. Die Anwendung des Regelsteuersatzes statt des ermäßigten Steuersatzes auf die Vorsteuerabzugsberechtigung wirkte sich für den Kläger begünstigend aus, so dass ihm der Anwendungsvorrang des Unionsrechts zustand. Für den Anwendungsvorrang ist es nach dem Urteil unerheblich, welchen rechtlichen Interessen die Bestimmung des Unionsrechts dient, deren Anwendungsvorrang der Steuerpflichtige geltend macht, wenn die Berufung auf das Unionsrecht zu einer niedrigeren Steuerschuld des Steuerpflichtigen führt.

Praxishinweis

Im entschiedenen Fall hat der BFH seine ständige Rechtsprechung zur Höhe des Vorsteuerabzugs für einen Sonderfall ergänzt. Nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. der Anlage 2 Nr. 1 Buchst. a in seiner im Streitjahr 2011 geltenden Fassung galt der ermäßigte Steuersatz für "Pferde, einschließlich reinrassiger Zuchttiere, ausgenommen Wildpferde". Danach war der ermäßigte Steuersatz auch auf die Lieferung von Springpferden anzuwenden. Demgegenüber unterliegt die Lieferung von Springpferden nach dem Unionsrecht nicht dem ermäßigten Steuersatz, sondern dem Regelsteuersatz. Die Mitgliedstaaten sind berechtigt, auf die Lieferung von Pferden nach Art. 98 i.V.m. Anhang III Nr. 1 MwStSystRL einen ermäßigten Steuersatz für die Lieferung lebender Tiere anzuwenden. Dies gilt nach dem EuGH-Urteil vom 12.05.2011, C-453/09 (Kommission/Deutschland) aber nur für die Tiere, die gewöhnlich und allgemein dafür bestimmt sind, in die menschliche oder tierische Nahrungskette zu gelangen und somit nicht für Springpferde.

Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, der nach dem Urteil zu einem höheren Vorsteuerabzug führt, als er nach nationalem Recht der materiell-rechtlich geschuldeten Ausgangssteuer entspricht, wird nicht dadurch eingeschränkt, dass für den Lieferer die nach nationalem Recht bestehende Rechtslage günstiger als das Unionsrecht ist. Die Rechtsfolgen des vom Vorsteuerabzugsberechtigten geltend gemachten Anwendungsvorrangs beschränken sich vielmehr auf seine eigene Person und wirken sich daher erst dann auf die Besteuerung des Lieferers aus, wenn dieser gleichfalls einen Anwendungsvorrang geltend machen könnte. Ein solcher konnte aber für den Lieferer nach den Verhältnissen des Streitfalls nicht zu einer niedrigeren Steuer führen, weil der Lieferer Umsatzsteuer zum Regelsteuersatz ausgewiesen hatte.

Fraglich ist, -darüber hat der BFH jedoch keine Ausführungen gemacht-, wie der im Streitfall höhere Steuerausweis des Lieferers zu bewerten ist. Nach nationalem Recht hatte der Lieferer eine höhere als die gesetzlich geschuldete Steuer ausgewiesen, was insofern zu einem unrichtigen Steuerausweis nach § 14c Abs. 1 UStG führte. Unionsrechtlich dürfte wegen des Gebots der Besteuerung der Lieferungen von Pferden zum Regelsteuersatz jedoch kein unrichtiger Steuerausweis vorgelegen haben mit der Folge, dass (unionsrechtlich) eine Steuerberichtigung i.S.v. § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG gegenüber dem Leistungsempfänger nicht möglich gewesen wäre.

Für den Lieferer würde sich ein etwaiger Anwendungsvorrang des Unionsrechts im Streitfall jedenfalls für den Fall belastend auswirken, dass er die Rechnung berichtigen will, weil er eine niedrigere Steuer abführen möchte, z.B. weil seine Umsatzsteuerzahllast zu einem früheren Zeitpunkt als dem Zahlungseingang des Kaufpreises fällig wird. Ein Anwendungsvorrang des Unionsrechts kommt aber bei Wirkung zu Lasten des Steuerpflichtigen nicht in Betracht, so dass im Streitfall der höhere Steuerausweis ein unrichtiger Steuerausweis im Sinne von § 14c Abs. 1 UStG bleibt. Vor diesem Hintergrund ist das BFH-Urteil, das dem Kläger auch in dieser Höhe der nicht leicht nachvollziehbare Vorsteuerabzug zusteht. Andererseits wollte der Lieferer im Streitfall die höhere Steuer offensichtlich nicht berichtigen, so dass er ohnehin, ob materiell-rechtlich oder nach § 14c Abs. 1 UStG geschuldet, den höheren Steuerausweis auch als Steuerschuld abzuführen hatte.

Das BFH-Urteil hätte nicht nur für den entschiedenen Fall, dass das Unionsrecht für eine Leistung den Regelsteuersatz vorsieht, und das nationale Recht den ermäßigten Satz, Bedeutung. Gleichermaßen müsste es Anwendung finden, wenn das Unionsrecht eine Steuerpflicht vorsieht, während das nationale Recht (unionsrechtswidrig) eine Steuerbefreiung regelt. Dies könnte z.B. bei der Vorschrift des § 4 Nr. 6 Buchst. e UStG der Fall sein. Danach sind sonstige Leistungen in Form der Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle an Bord bestimmter Seeschiffe umsatzsteuerfrei (vgl. hierzu auch Abschn. 4.6.2 Sätze 1 und 2 UStAE). Diese Steuerbefreiung hat im Unionsrecht keine Grundlage. Die Option nach Artikel 37 Abs. 3 Unterabsatz 2 MwStSystRL, von der Deutschland keinen Gebrauch macht, ist nur auf Lieferungen von Gegenständen anwendbar, die zum Verbrauch an Bord bestimmt sind. Die vergleichbare Vorschrift für Verpflegungsdienstleistungen an Bord eines Schiffes (Art. 57 MwStSystRL) enthält kein Optionsrecht für die Mitgliedstaaten zur Anwendung einer Steuerbefreiung. Es erscheint aber erforderlich, dass eine Unionsrechtswidrigkeit des nationalen Rechts, wie im Streitfall gegeben, vom EuGH festgestellt worden ist. Die bloße Auslegung einer unionsrechtlichen Norm durch den EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens, die darauf hindeuten kann, dass die entsprechende nationale Norm nicht dem Unionsrecht entspricht, dürfte für den vom BFH für Zwecke des Vorsteuerabzugs festgestellten Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht ausreichend sein, es sei denn, der EuGH hätte in seiner Vorabentscheidung des Anwendungsvorrang des Unionsrechts ausdrücklich bestätigt.

Anders als der BFH es unterstellt (vgl. Rz. 18 des Urteils), kann es prinzipiell keinen umgekehrten Fall des Streitfalles geben. Das hieße, das Unionsrecht gebietet die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes, während das nationale Recht den Regelsteuersatz vorschreibt. Einen solchen Fall kann es grundsätzlich nicht geben, weil die MwStSystRL hinsichtlich der Anwendung ermäßigter Steuersätze durchweg optionale Bestimmungen enthält, prinzipiell also immer von der Anwendung des Regelsteuersatzes ausgeht. Ein solcher Fall wäre nur denkbar, wenn das nationale Recht unter Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes Leistungen dem Regelsteuersatz unterwirft, während vergleichbare Leistungen (unionsrechtskonform) dem ermäßigten Steuersatz unterliegen. Dies müsste wohl ebenso wie im Streitfall vom EuGH ausdrücklich bestätigt worden sein.

Ein Vorsteuerabzug entsprechend dem (unionsrechtlich gebotenen) Regelsteuersatz, obwohl der Leistende nur einen ermäßigten Steuersatz ausweist, würde bereits an den Rechnungsangaben scheitern. Bei einer Rechnung mit Regelsteuerausweis, obwohl unionsrechtlich der ermäßigte Steuersatz geboten wäre, könnte der Leistungsempfänger sich auf das für ihn günstigere nationale Recht berufen und den Vorsteuerabzug in Höhe des Regelsteuersatzes geltend machen. Fraglich in einem solchen Fall wäre nach dem vorliegenden BFH-Urteil wiederum, ob der höhere Steuerausweis in der Rechnung des Leistenden unrichtig im Sinne von § 14c Abs. 1 UStG wäre. Gemessen an dem vorliegenden BFH-Urteil hätte der Rechnungsaussteller das Recht, sich auf das für ihn günstigere Unionsrecht (den niedrigeren Steuersatz) zu berufen und ggf. die Rechnung gegenüber dem Leistungsempfänger zu berichtigen.

Keine Bedeutung hat das BFH-Urteil für Fälle des unberechtigten Steuerausweises nach § 14c Abs. 2 UStG, weil es in diesen Fällen keinen Anwendungsvorrang des Unionsrechts geben kann. Dies gilt insbesondere für den Steuerausweis durch einen Kleinunternehmer, der nicht zu einem Vorsteuerabzug auf Seiten des Leistungsempfängers führen kann. Die MwStSystRL gestattet in ihren Art. 281 ff. den Mitgliedstaaten Sonderregelungen für Kleinunternehmen. Wenn ein Mitgliedstaat davon Gebrauch macht, können insofern die regulären Bestimmungen der MwStSystRL (wie im Vorlagefall die Anwendung des Regelsteuersatzes) das nationale Recht nicht überlagern.