Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 06.02.2014, C-424/12, SC Fatorie SRL

Praxisproblem

In den Fällen der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers (Reverse-Charge-Verfahren) hat der Leistungsempfänger unter den weiteren Voraussetzungen nach § 15 UStG das Recht auf Vorsteuerabzug. Auf den Besitz einer ordnungsgemäß ausgestellten Rechnung kommt es hierfür nach der Rechtsprechung des EuGH nicht an. Im vorliegenden Verfahren aus Rumänien war fraglich, ob in einem Reverse-Charge-Fall der Vorsteuerabzug auf Seiten des Leistungsempfängers gewährt werden muss, wenn der leistende Unternehmer eine Rechnung mit USt-Ausweis erteilt und der Leistungsempfänger die ausgewiesene Umsatzsteuer an den leistenden Unternehmer gezahlt hat.

Sachverhalt

Das rumänische Umsatzsteuerrecht sieht bei Insolvenz des Leistungserbringers die Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers vor und verpflichtet den Leistungserbringer, auf den Rechnungen einen Vermerk über die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft anzubringen. Fehlt der Vermerk, ist der Leistungsempfänger gleichwohl zur Anwendung der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft verpflichtet, darf keine Steuer an den Leistungserbringer zahlen und muss aus eigener Initiative den Vermerk über die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft auf der Rechnung anbringen.

Im Ausgangsverfahren wies das insolvente Unternehmen in seiner Rechnung gleichwohl Mehrwertsteuer (MwSt) aus und brachte keinen Vermerk über die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft an. Die Klägerin berichtigte dies nicht. Die rumänische Steuerverwaltung versagte nach einer Überprüfung den Vorsteuerabzug wegen fehlerhafter Rechnungsausstellung. Eine Nacherhebung der MwSt bei der Klägerin erfolgte offenbar nicht.

Das Vorlagegericht bat den EuGH um Klärung der Frage, ob ein Vorsteuerabzugsrecht bei fehlerhaften Rechnungen – wegen Nichtanwendung der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers – besteht, insbesondere wenn die Vorlage berichtigter Rechnungen aufgrund der Insolvenz des Leistungserbringers unmöglich ist. Zudem fragte das Gericht nach der Zulässigkeit einer Verwaltungspraxis, nach der ein zunächst anerkannter Vorsteuerabzug später versagt wird.

Entscheidung

Der EuGH hat bestätigt, dass ein Unternehmer, der als Empfänger einer Dienstleistung die darauf anfallende MwSt schuldet, für die Ausübung seines Vorsteuerabzugsrechts keine nach den Formvorgaben der MwStSystRL ausgestellte Rechnung besitzen und nur die Förmlichkeiten erfüllen muss, die der betreffende Mitgliedstaat in Wahrnehmung der ihm nach Art. 178 Buchst. f MwStSystRL eröffneten Möglichkeit vorgeschrieben hat. Danach muss ein Unternehmer, der MwSt in seiner Eigenschaft als Dienstleistungsempfänger oder Erwerber gem. den Art. 194 bis 197 sowie 199 MwStSystRL zu entrichten hat, die von dem jeweiligen Mitgliedstaat vorgeschriebenen Formalitäten erfüllen.

Ebenso hat der EuGH bestätigt, dass auch die Voraussetzungen des Vorsteuerabzugsrechts aus einer im Reverse-Charge-Verfahren geschuldeten MwSt nicht über das zur Gewährleistung der korrekten Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens und zur Gewährleistung der Erhebung der MwSt absolut Notwendige hinausgehen dürfen. Der Neutralitätsgrundsatz im Rahmen des Reverse-Charge-Verfahrens erfordert es, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Unternehmer bestimmte formelle Anforderungen nicht erfüllt hat.

Im Ausgangsverfahren lagen nach dem EuGH-Urteil jedoch andere Voraussetzungen als in den früher entschiedenen Fällen vor. Entgegen den Anforderungen des rumänischen Rechts hatte der Rechnungsaussteller nicht den Vermerk „Umkehrung der Steuerschuldnerschaft“ angebracht und der Kläger hatte nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen, um diesem Mangel abzuhelfen. Außerdem hatte der Kläger fälschlicherweise die in der Rechnung zu Unrecht ausgewiesene MwSt an den Rechnungsaussteller gezahlt, obwohl sie an die Finanzbehörde hätte abgeführt werden müssen. Damit war eine materielle Voraussetzung des Reverse-Charge-Verfahrens für den Vorsteuerabzug nicht erfüllt.

Insoweit wiederholt der EuGH seine frühere Rechtsprechung. Danach kann ein Vorsteuerabzug nur für MwSt in Betracht kommen, die geschuldet wird – d. h. mit einem der MwSt unterworfenen Umsatz in Zusammenhang steht – oder die entrichtet worden ist, soweit sie geschuldet wurde. Da die vom Kläger an den Rechnungsaussteller gezahlte MwSt nicht geschuldet wurde und diese Zahlung eine materielle Voraussetzung des Reverse-Charge-Verfahrens nicht erfüllt, kann sich der Kläger nicht auf ein Vorsteuerabzugsrecht berufen.

Die Insolvenz des leistenden Unternehmers wie im Vorlagefall kann die Versagung der Vorsteuerabzugs auf Seiten des Leistungsempfängers nicht in Frage stellen. Bemerkenswert ist der weitere Hinweis des EuGH, dass der Dienstleistungsempfänger vom Dienstleistungserbringer nach nationalem Recht die Rückzahlung der ohne Rechtsgrund gezahlte MwSt verlangen könne.

Weiterhin kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass eine Verwaltungspraxis, wonach die Anerkennung eines Vorsteuerabzugs innerhalb einer Ausschlussfrist zurückgenommen und im Anschluss an eine erneute Prüfung die Zahlung dieser Steuer nebst Verzugszinsen gefordert wird, mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Einklang steht.

Praxishinweis

Das Urteil führt zu keiner Änderung der deutschen Rechtslage. Zum einen sieht das UStG bei Insolvenz des Leistungserbringers keine Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers vor. Dies entspricht den Vorgaben der MwStSystRL. Die rumänische Regelung beruht auf einer Ratsermächtigung nach Art. 395 MwStSystRL. Zum anderen sieht das deutsche Recht bei Nichtbeachtung der Umkehr der Steuerschuldnerschaft eine Nacherhebung beim Leistungsempfänger und Berichtigungsmöglichkeit beim Leistungserbringer vor. Für den Vorsteuerabzug bedarf es gem. § 15 Abs. 1 Nr. 4 UStG keiner Rechnung. Unionsrechtliche Grundlage hierfür ist Art. 178 Buchst. f MwStSystRL (vgl. auch EuGH, Urt. v. 01.04.2004, C-90/02, Bockemühl, Slg. 2004, I-3303), wonach ein Unternehmer, der nach Art. 21 Nr. 1 der 6. EG-Richtlinie (Reverse Charge) als Empfänger einer Dienstleistung die darauf entfallende MwSt schuldet, für die Ausübung seines Vorsteuerabzugsrechts keine nach Art. 22 Abs. 3 der 6. EG-Richtlinie ausgestellte Rechnung besitzen muss). Die Versagung eines zunächst anerkannten Vorsteuerabzugs ist nur im Rahmen der Korrekturvorschriften und innerhalb der Verjährungsfristen nach der AO zulässig. Die vom Leistungserbringer nach § 14c UStG geschuldete Steuer kann der Leistungsempfänger (auch bei Zahlung an den Leistungserbringer) nicht nach § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG abziehen (vgl. Abschn. 15.2 Abs. 1 Satz 1 und 2 UStAE). In Einzelfällen wird zudem das EuGH-Urteil „Reemtsma“ (EuGH, Urt. v. 15.03.2007, C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH, UR 2007, 343) ebenfalls heranzuziehen sein.