Komplexe grenzüberschreitende Dienstleistungen im Bereich der Lagerung von Waren

EuGH, Urt. v. 27.6. 2013 - Rs. C-155/12 – RR Donnelley Global Turnkey Solutions Poland sp. z o.o. (RR)

Praxisproblem

Im Bereich der Dienstleistungen gilt seit 1.1.2010 im zwischenunternehmerischen Bereich die Grundregel, dass eine solche Dienstleistung stets dort ausgeführt wird, wo der Leistungsempfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat, Art. 44 MwStSystRL, § 3a Abs. 2 Satz 1 UStG. Der leistende Unternehmer erbringt seine Leistung dann im zwischen­unternehmerischen Bereich, wenn seine Leistung an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird. Die Qualifikation des Leistungsempfängers als Un­ter­neh­mer ergibt sich maßgeblich unter Verwendung seiner  USt-IDNr. Nach deutschem Rechtsverständnis indiziert eine verwendete ausländische USt-IDNr. des Leistenden, dass der Leistungsempfänger erstens ein Unternehmer ist, zweitens die Leistung für dessen Un­ter­neh­men ausgeführt wird und drittens der Leistungsempfänger in dem Land ansässig ist, dessen USt-IDNr. er verwendet  (vgl. hierzu auch Art. 17 ff. VO Nr. 282/2011 v. 15.3.2011).

Von dieser Grundregel sieht sowohl das Unionsrecht als auch das nationale Um­satz­steu­er­recht einige wenige Ausnahmen vor, die zu einer speziellen Ortsbestimmung bei Dienst­leistungen führen. Eine der wichtigsten Ausnahmen betrifft Dienstleistungen im Zu­sam­men­hang mit einem Grundstück (Art. 47 MwStSystRL, § 3a Abs. 3 Nr. 1 UStG). Der Ort einer solchen Dienstleistung liegt immer dort, wo das Grundstück belegen ist. Fraglich ist in diesem Zu­sam­men­hang stets, wann die Dienstleistung einen ausreichenden direkten Zu­sam­men­hang mit einem Grundstück aufweist, um die Sonderregelung auslösen zu kön­nen, vor allem, wenn die Dienstleistung als komplexe Leistung aus mehreren Leis­tungs­teil­en besteht.

In der Rechtssache RR musste der EuGH entscheiden, ob eine komplexe grenz­über­schrei­tende Dienstleistung, die maßgeblich durch die Lagerung von Waren ausgelöst wurde, die Sonderregelung zur Ortsbestimmung nach Art. 47 MwStSystRL (§ 3a Abs. 3 Nr. 1 UStG) – Belegenheitsort des Grundstücks – zur Anwendung bringen konnte.

Sachverhalt

RR ist eine in Polen ansässige Unternehmerin, die im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit an mehrwertsteuerpflichtige Unternehmer mit ausschließlichem Sitz in anderen Mitgliedstaaten komplexe Dienstleistungen im Bereich der Lagerung von Waren erbringt. Die jeweilige Dienstleistung umfasst u.a. die Annahme der Waren in einem Lager, ihre Unterbringung auf geeigneten Lagerregalen, deren Aufbewahrung, Verpacken für die Kunden, ihre Ausgabe sowie das Ent- und Verladen. Die Bereitstellung von Lagerraum ist nur einer der vielen Bestandteile des von RR verwalteten logistischen Prozesses. Im Rahmen der fraglichen Dienstleistung setzt RR eigene Arbeitnehmer ein und verwendet Verpackungen, deren Kosten ein Bestandteil des Entgelts für die Dienstleistung sind. Im Streit ist der Ort der von RR erbrachten Dienstleistung. Während RR die Grundregel des Art. 44 MwStSystRL – Sitzort des Leistungsempfängers – zur Anwendung bringen wollte, ging die polnische Finanzverwaltung von einem Zusammenhang der Dienstleistung mit einem Grundstück aus und erfasste die Dienstleistung als in Polen steuerbar und steuerpflichtig.

Entscheidung

Der EuGH hat zunächst die Frage beantwortet, ob die von RR erbrachten Leistungsteile als eine einheitliche Leistung oder mehrere eigene und selbständige Leistungen zu bewerten sind. Unter Beachtung seiner einschlägigen Rechtsprechung (vgl. EuGH, Urt. v. 27.10.2005 – Rs. C-41/04 – Levob Verzekeringen und EuGH, Urt. v. 27.9.2012 – Rs. C-392/11 – Field Fisher Waterhouse) geht der EuGH davon aus, dass die von RR erbrachten einzelnen Leistungselemente eine einheitliche Leistung darstellen. Dabei sieht er die Lagerung der Waren als Hauptleistung, die Annahme, die Unterbringung, die Ausgabe, das Ent- und das Verladen der Ware lediglich als Nebenleistung an. Die letztgenannten Leistungen haben für die Kunden nach Auffassung des EuGH keinen eigenen Zweck, sondern stellen nur Vorgänge dar, die es ihnen ermöglichen, die Hauptleistung unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen. Lediglich für den Fall, dass die angelieferte Ware von Sammelpackungen in individuelle Zusammenstellungen umgepackt wird, will er das Umpacken als eigenständige Hauptleistung ansehen.

Einen direkten Zusammenhang der Dienstleistung mit einem Grundstück und damit die Ortsbestimmung nach Art. 47 MwStSystRL weist nach Auffassung des EuGH die Dienstleistung nur dann auf, wenn ein ausdrücklich bestimmtes Grundstück insoweit als wesentlicher Bestandteil einer Dienstleistung angesehen werden kann, als es einen zentralen und unverzichtbaren Bestandteil dieser Dienstleistung darstellt. Eine Dienstleistung im Bereich der Lagerung, die – wie im vorliegenden Fall – nicht als Dienstleistung betreffend die Herrichtung, die Verwaltung oder die Bewertung eines Grundstückes angesehen werden kann, löst daher nur dann die Ortsbestimmung aus Art. 47 MwStSystRL aus, wenn dem Empfänger dieser Dienstleistung ein Recht auf Nutzung eines ausdrücklich bestimmten Grundstücks oder Grundstücksteils gewährt wird. Konsequenterweise ist Art. 47 MwStSystRL dann abzulehnen, wenn die Empfänger komplexer Dienstleistungen im Bereich der Lagerung z.B. kein Recht auf Zugang zu dem Teil des Grundstücks haben, in dem ihre Ware gelagert ist oder wenn das Grundstück, auf dem die Ware gelagert werden soll, keinen zentralen und unverzichtbaren Bestandteil der Dienstleistung darstellt.

Praxishinweis

Die Ausführungen des EuGH machen deutlich, dass nicht alleine deswegen, weil die in Rede stehende Dienstleistung auch ein Grundstück betrifft, diese einen direkten Zusammenhang mit einem Grundstück aufweist. Vor allem im Bereich der Lagerung kommt es entscheidend darauf an, ob der Leistungsempfänger der in Rede stehenden Dienstleistung ein Recht auf Zugang zu einem bestimmten Teil des Grundstücks, auf dem die Ware gelagert wird, hat. Hiervon wird in der Regel nicht ausgegangen werden können, so dass diese Dienstleistungen nicht am Ort des Lagergrundstücks, sondern dort ausgeführt werden, wo der Leistungsempfänger seinen Sitz hat. Bei grenz­über­schrei­ten­den Dienstleistungen sind diese Leistungen damit in Deutschland nicht steuerbar.