EuGH zur Differenzbesteuerung und Anwendbarkeit des Gutglaubensschutzes

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 18.05.2017, C-624/15, Litdana UAB

Praxisproblem

Bei dem litauischen Vorabentscheidungsersuchen ging es um die Anwendung der Differenzbesteuerung für den Handel mit Gebrauchtfahrzeugen gem. Art. 312 bis 332 MwStSystRL.

Der EuGH musste entscheiden, ob die auf den Art. 314 Buchst. a und 226 Nr. 11 MwStSystRL sowie auf den Art. 314 Buchst. d und 226 Nr. 14 MwStSystRL beruhenden nationalen Rechtsvorschriften zulässig sind, die einen Steuerpflichtigen daran hindern, die Differenzbesteuerung anzuwenden, weil bei einer von der Finanzbehörde durchgeführten Steuerprüfung festgestellt wurde, dass in den Rechnungen für die gelieferten Gegenstände unzutreffende Informationen/Angaben zur Anwendung der Differenzbesteuerung und/oder zur Steuerbefreiung gemacht wurden, der Steuerpflichtige davon aber weder wusste noch wissen konnte. Fraglich war, ob ein Wiederverkäufer das Recht, die Differenzbesteuerung anzuwenden, nur dann erwirbt, wenn der Lieferant der Gegenstände tatsächlich die Differenzbesteuerung anwendet und seinen Pflichten im Bereich der Zahlung der MwSt ordnungsgemäß nachkommt.

Sachverhalt

Die Klägerin, eine Gesellschaft im Gebrauchtwagenhandel, hatte im Jahr 2012 Gebrauchtfahrzeuge von einem dänischen Händler erworben und die Fahrzeuge an litauische Abnehmer in Weißrussland und Russland weiter verkauft. Dabei wandte die Klägerin die Differenzbesteuerung an.

Auf der Grundlage der vom dänischen Veräußerer erteilten Rechnungen ging die Klägerin davon aus, dass die dänische Firma ihrerseits bei der Veräußerung die Differenzbesteuerung angewendet habe. Die litauische Finanzbehörde bezweifelte, dass das dänische Unternehmen die Differenzbesteuerung angewendet hatte. Diese Zweifel beruhten auf von der dänischen Finanzbehörde erhaltenen Erläuterungen, Unterlagen den Pkw-Erwerb betreffend und Daten aus der Datenbank MIAS. Aufgrund der erwiesenen Tatsachen stehe zweifelsfrei fest, dass die Klägerin nicht berechtigt gewesen sei, bei der Berechnung der MwSt Art. 106 LT-MwStG (Differenzbesteuerung) beim Weiterverkauf der Fahrzeuge anzuwenden.

Die Klägerin argumentierte, aufgrund der in den ihr ausgestellten Rechnungen erwähnten Art. 69 bis 71 DK-MwStG und den Hinweis auf eine Steuerbefreiung habe sie davon ausgehen können, die Voraussetzungen des Art. 106 LT-MwStG zu erfüllen, so dass sie berechtigt gewesen sei, beim Verkauf der Fahrzeuge die MwSt anhand der Handelsspanne zu berechnen. Die Klägerin stützte sich auf EuGH-Rechtsprechung und darauf, dass sie gutgläubig gehandelt habe, d. h., dass sie weder gewusst habe noch habe wissen können, dass das dänische Unternehmen, von dem sie die Pkw erworben habe, bei der Anwendung der Differenzbesteuerung falsche Angaben in den Rechnungen gemacht habe.

Nach Art. 314 Buchst. d MwStSystRL ist die Anwendung der Differenzbesteuerung u. a. möglich, wenn der die Regelung anwendende Unternehmer innerhalb der EU Gegenstände erwirbt und diese Lieferung selbst (steuerpflichtig) differenzbesteuert worden ist. In dem Streitfall machte die litauische Finanzbehörde das Recht, die Differenzbesteuerung in Anspruch zu nehmen, allein von der Voraussetzung abhängig, dass der Lieferant der Gegenstände im Mitgliedstaat der Lieferung tatsächlich die Differenzbesteuerung angewandt hat. Die Klägerin trug vor, ein Wiederverkäufer sei berechtigt, die Differenzbesteuerung in Anspruch zu nehmen, wenn ihm vom Lieferanten der Gegenstände ausgestellte Finanzdokumente vorlägen, in denen bestätigt werde, dass auf die Lieferung der Gegenstände nach der Differenzbesteuerung MwSt erhoben worden sei. Sie stützte sich auf Art. 226 Nr. 14 MwStSystRL, wonach im Falle der Anwendung einer der auf Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten anwendbaren Sonderregelungen die Rechnungen einen Verweis auf Art. 313, 326 oder 333 der MwStSystRL oder auf die entsprechenden nationalen Bestimmungen oder einen anderen Hinweis darauf enthalten müssen, dass eine dieser Regelungen angewandt wurde. Zwischen den Parteien war unstreitig, dass aus den von dem dänischen Händler vorgelegten Rechnungen hervorging, dass die Pkw steuerfrei verkauft wurden. Streitig waren vorliegend die Auslegung und die Anwendung der Rechtsvorschriften zur Berechnung der MwSt bei Anwendung der Differenzbesteuerung, insbesondere in Bezug darauf, wann ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer zur Anwendung der Differenzbesteuerung berechtigt ist.

Entscheidung

Der EuGH hat entschieden, dass es unzulässig ist, einem Unternehmer, der eine Rechnung mit Angaben sowohl zur Differenzbesteuerung als auch zur Befreiung von der Mehrwertsteuer erhalten hat, das Recht zur Anwendung der Differenzbesteuerung zu versagen, selbst wenn eine spätere Prüfung der Finanzbehörde ergibt, dass der Wiederverkäufer, der die Gebrauchtgegenstände geliefert hatte, die Differenzbesteuerung auf die Lieferung dieser Gegenstände in Wirklichkeit nicht angewandt hatte, es sei denn, die Finanzbehörde weist nach, dass der Unternehmer nicht in gutem Glauben gehandelt hat oder nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt.

Praxishinweis

Der EuGH hat in dem Urteil seine ständige Rechtsprechung zum Gutglaubensschutz im Zusammenhang mit der Vorsteuerabzugsberechtigung bei tatsächlich nicht gegebenen Voraussetzungen angewendet bzw. diese auf den Fall einer an sich ungerechtfertigten Anwendung der Differenzbesteuerung übertragen.

In seinem Urteil vom 01.03.2012, C-280/10, Polski Trawertyn hatte der EuGH entschieden, dass nach Art. 226 MwstSystRL die Mitgliedstaaten die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nicht von der Erfüllung von Anforderungen an den Inhalt der Rechnungen abhängig machen können, die in den Bestimmungen der MwStSystRL nicht ausdrücklich vorgesehen sind. In seinem Urteil vom 21.06.2012, C-80/11 und C-142/11, Mahagében und Dávid hatte der EuGH entschieden, dass die Art. 167, 168 Buchst. a, 178 Buchst. a, 220 Nr. 1 und 226 MwStSystRL dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Praxis entgegenstehen, nach der die Steuerbehörde einem Steuerpflichtigen das Recht, den für die an ihn erbrachten Dienstleistungen geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuerbetrag von der von ihm geschuldeten Mehrwertsteuer als Vorsteuer abzuziehen, mit der Begründung verweigert, der Aussteller der Rechnung über diese Dienstleistungen oder einer der Dienstleistungserbringer des Rechnungsausstellers habe Unregelmäßigkeiten begangen, ohne dass diese Behörde anhand objektiver Umstände nachweist, dass der betroffene Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in eine vom Rechnungsaussteller oder einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Leistungskette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war. In seinem Urteil vom 06.09.2012, C-324/11, Tóth hatte der EuGH entschieden, dass das Recht auf Vorsteuerabzug nur dann verweigert werden darf, wenn die Steuerbehörde anhand objektiver Umstände nachweist, dass der Rechnungsempfänger wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug angeführte Umsatz in eine vom Rechnungsaussteller oder einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe der Leistungskette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war.

Diese Grundsätze wendet der EuGH nunmehr auch auf die Fälle an, in denen ein Unternehmer Gebrauchtgegenstände zum Weiterverkauf erwirbt und nicht weiß oder wissen kann, dass der Lieferer seinerseits die Differenzbesteuerung tatsächlich nicht angewendet hat. Die Steuerverwaltung kann von dem Unternehmer, der sein Recht auf Anwendung der Differenzbesteuerung ausüben möchte, nicht generell verlangen, zum einen insbesondere zu prüfen, ob der Aussteller der Rechnung über die Gegenstände, für die die Differenzbesteuerung angewendet werden soll, seinen Verpflichtungen hinsichtlich der Erklärung und Abführung der MwSt nachgekommen ist, um sich zu vergewissern, dass auf der Ebene der Wirtschaftsteilnehmer einer vorhergehenden Umsatzstufe keine Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung vorliegen, oder zum anderen entsprechende Unterlagen vorzulegen. Liegen Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung vor, kann ein verständiger Wirtschaftsteilnehmer nach den Umständen des konkreten Falles aber verpflichtet sein, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er Gegenstände oder Dienstleistungen zu erwerben beabsichtigt, Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen. Die Einführung eines Systems der verschuldensunabhängigen Haftung geht nach der EuGH-Rechtsprechung über das hinaus, was erforderlich ist, um die Ansprüche des Fiskus zu schützen.

Sowohl die Angabe zur Steuerbefreiung der Lieferung als auch die Angabe zur Differenzbesteuerung, die auf den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechnungen enthalten waren, ist nach der Entscheidung des EuGH zwar nicht als eindeutige Information für den Rechnungsempfänger ersichtlich. Jedoch ist es nach dem EuGH-Urteil nicht offensichtlich, dass das Vorhandensein dieser beiden Angaben geeignet ist, bei einem verständigen Wirtschaftsteilnehmer, der kein Fachmann auf dem Gebiet der MwSt ist, einen Verdacht auf Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung seitens eines Wirtschaftsteilnehmers auf einer vorhergehenden Umsatzstufe zu wecken. Somit können fehlerhafte oder uneindeutige Rechnungsangaben nicht ohne weiteres dazu führen, dass der Rechnungsempfänger Zweifel an der korrekten Behandlung des an ihn ausgeführten Umsatzes haben muss bzw. ihm diese Zweifel als Wissen um eine Steuerhinterziehung auf einer vorhergehenden Stufe zugerechnet werden kann.

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