EuGH zur Entstehung der Zollschuld bei Beförderung von Waren über einen Freihafen und Nichtgestellung der Waren

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 01.06.2017, C-571/15, Wallenborn Transports SA

Praxisproblem

Bei dem Vorabentscheidungsersuchen des FG Hessen v. 29.09.2015, 7 K 728/12, ging es um die unionsrechtliche Bewertung der Tatsache, dass Freizonen des Kontrolltyps I (Freihäfen) umsatzsteuerlich nicht zum Inland gehören bzw. um die Frage, in wieweit EUSt im Zusammenhang mit zollrechtlichem Fehlverhalten entstehen kann.

Im Ausgangsverfahren war streitig, ob für in ein externes Versandverfahren übergeführte, in eine Freizone verbrachte und dort ohne Beendigung des Versandverfahrens auf ein anderes Beförderungsmittel umgeladene und schließlich über die Ostsee in einen anderen Mitgliedstaat beförderte Waren nicht nur die (Einfuhr-)Zollschuld, sondern auch die EUSt des Mitgliedstaates, zu dessen Staatsgebiet die Freizone gehört, entstanden ist.

Sachverhalt

Am 11.06.2009 wurden Textilien, die am Tag zuvor auf dem Flughafen Frankfurt am Main gestellt und in das Zollgebiet der EU verbrachtworden waren, zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren angemeldet und überlassen. Warenempfänger war eine im Freihafen Hamburg ansässige Firma. Mit der Beförderung der Waren wurde die Klägerin beauftragt. Die Nämlichkeit der Waren war mit einem Verschluss (Tyden Seal) gesichert. Das Versandverfahren war bis zum 17.06.2009 zu beenden. Bei der Abgangsstelle ging weder eine Eingangsbestätigung noch eine Kontrollergebnisnachricht ein. Ermittlungen im Suchverfahren ergaben, dass der der Klägerin gehörende LKW, mit dem die Beförderung durchgeführt wurde, am 11.06.2009 zwischen 08:15 und 10:00 Uhr bei dem Warenempfänger im Freihafen Hamburg unter Entfernung des Verschlusses entladen und das Versandgut am 15.06.2009 in einen Container verstaut und auf ein sogenanntes Feederschiff verladen worden war. Dieses Schiff verließ den Hamburger Freihafen am 16.06.2009 und beförderte die Waren nach Finnland, wo sie in das Zolllagerverfahren übergeführt und von dort später nach Russland wiederausgeführt wurden. Am 02.09.2010 erließ das beklagte Zollamt jeweils einen Einfuhrabgabenbescheid an den Hauptverpflichteten, der die Waren als zugelassener Versender zum Versandverfahren angemeldet hatte, und an die Klägerin als Warenführer. In beiden Bescheiden wurde sowohl Zoll als auch EUSt festgesetzt. Zur Zahlung wurde lediglich die Klägerin aufgefordert. Die Zahlungsaufforderung allein an die Klägerin wurde damit begründet, dass der Hauptverpflichtete die ordnungsgemäße Übergabe der Sendung und des Versandscheins nachgewiesen habe, während es die Klägerin versäumt habe, das Versandverfahren zu beenden. Der ebenfalls befragte Warenempfänger hatte gegenüber dem Beklagten angegeben, dass er bei der Annahme der Sendung davon ausgegangen sei, dass die Waren zollamtlich abgefertigt gewesen seien. Das Versandbegleitdokument sei bei der Anlieferung der Waren nicht mit übergeben worden.

Zur Begründung ihrer Klage trug die Klägerin vor, die Zollschuld sei unstreitig durch das Entladen des LKW unter Entfernung des Verschlusses im Freihafen entstanden. Als Freizone gehöre der Freihafen aber nicht zum Inland. Ein steuerbarer Umsatz liege daher nicht vor. Der Tatbestand, der die Zollschuld habe entstehen lassen (Art. 203 Abs. 1 ZK a.F.), sei außerhalb des Steuergebiets verwirklicht worden. Zwar handele es sich bei Zöllen und der EUSt um unterschiedliche Abgabenarten. Die Zollschuld und die EUSt könnten aber nicht zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstehen. Auch könne die EUSt nicht aufgrund eines anderen, ebenfalls erfüllten, Zollschuldentstehungstatbestands entstehen als die Zollschuld.

Das Zollamt war der Auffassung, dass gleichzeitig mit der Zollschuld auch die EUSt nach Art. 203 Abs. 1 ZKa.F. entstand – unabhängig davon, dass dieser Zollschuldentstehungstatbestand auf dem Gelände des Freihafens verwirklicht wurde. Dass die Waren nach Finnland befördert und wiederausgeführt worden seien, sei unerheblich.

Im vorliegenden Fall befanden sich die über den Flughafen Frankfurt am Main in die Europäische Union verbrachten Waren zunächst kurzfristig in der vorübergehenden Verwahrung (Art. 50 ZKa.F.). Sie wurden sodann in das externe gemeinschaftliche Versandverfahren übergeführt. Die Grundsätze der Art. 60 und 70 MwStSystRL finden nach Auffassung des FG Hessen daher keine Anwendung. Die Besonderheit des Falles liege darin, dass das Entziehen der Waren aus der zollamtlichen Überwachung in einer Freizone des Kontrolltyps I stattfand. Das hinderte aber nicht das Entstehen einer Einfuhrzollschuld nach Art. 203 Abs. 1 ZK a.F. (s.o.). Aufgrund des Entziehens der Waren aus der zollamtlichen Überwachung und damit dem Ende des Versandverfahrens (s. o.), unterlagen die Waren nicht mehr der zollamtlichen Überwachung. Vielmehr waren die Einfuhrabgaben (Art. 4 Nr. 10 ZKa.F.) gem. Art. 218 Abs. 3 ZK a.F. buchmäßig zu erfassen und der Abgabenbetrag dem Zollschuldner mitzuteilen (Art. 221 Abs. 1 ZKa. F.). Mit der Entrichtung der Einfuhrabgaben wären die Waren Gemeinschaftswaren geworden und hätten sich im zollrechtlich freien Verkehr befunden (Art. 866 ZK-DVO a.F.), wenn sie zu diesem Zeitpunkt noch im Freihafen gelagert gewesen wären.

Mehrwertsteuerrechtlich war nach Auffassung des FG Hessen aber zu beachten, dass Art. 156 MwStSystRL die Mitgliedstaaten ermächtigt, Lieferungen von Gegenständen, die in einer Freizone gelagert werden sollen, von der Steuer zu befreien, und Freizonen nach dem Recht des Mitgliedstaats, zu dessen Staatsgebiet die Freizone im Streitfall gehört, nicht zum Inland gehören, sondern Ausland sind. Nicht nur für Waren, die dem externen Versandverfahren unterliegen, sondern auch für Waren, die einer Regelung im Sinne des Art. 156 MwStSystRL unterliegen, gebe es gem. Art. 61 Unterabs. 1 MwStSystRL keinen Ort der Einfuhr. Ferner träten für sie Steuertatbestand und Steueranspruch nicht ein (Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL). Nach Auffassung des FG Hessen handelt es sich nach dem Sinn und Zweck der Art. 61 Unterabs. 1 und 71 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL auch bei Vorschriften der Mitgliedstaaten, die Freizonen vom Inlandsgebiet ausnehmen wie § 1 Abs. 2 Satz 1 UStG, jedenfalls insoweit um Regelungen i. S. d. Art. 156 MwStSystRL, soweit Gegenstände wie im Streitfall in der Freizone nur gelagert werden. Zweifel bestünden allerdings insofern, als Art. 156 Abs. 1 MwStSystRL die Mitgliedstaaten ermächtigt, bestimmte Umsätze von der Steuer zu „befreien“. Im engeren Sinn sei eine Steuerbefreiung (Titel IX MwStSystRL) eine Maßnahme, die einen steuerbaren Umsatz (Titel IV MwStSystRL) voraussetzt. Ohne einen steuerbaren Umsatz bedürfe es keiner „Steuerbefreiung“. Eine Regelung, die Teile des Staatsgebiets steuerrechtlich zum Ausland erklärt, sei in diesem engeren Sinne nicht lediglich eine Steuerbefreiung, sondern nehme in einem solchen Gebiet getätigte Umsätze bereits von der Steuerbarkeit aus. In einem weiteren Sinn indessen seien auch Vorschriften der Mitgliedstaaten, die einen Umsatz bereits von der Steuerbarkeit ausnehmen, eine Steuerbefreiung, weil im Ergebnis sowohl bei fehlender Steuerbarkeit als auch bei einer Steuerbefreiung im engeren Sinn keine Steuer entsteht.

Entscheidung

Der EuGH musste entscheiden, ob Waren innerhalb einer Freizone einer sonstigen Regelung i. S. d. Art. 156 MwStSystRL unterfallen, wie sie in Art. 61 Unterabs. 1 und in Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStsystRL genannt ist. Für den Fall, dass dies zu bejahen ist, fragte das FG Hessen weiter, ob Steuertatbestand und Steueranspruch für Gegenstände, die Zöllen unterliegen, gem. Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL auch dann zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem Tatbestand und Anspruch für die Zölle entstehen, wenn Tatbestand und Anspruch für die Zölle inmitten einer Freizone des Kontrolltyps I entstehen und das Mehrwertsteuerrecht des Mitgliedstaats, zu dessen Staatsgebiet die Freizone gehört, bestimmt, dass Freizonen des Kontrolltyps I (Freihäfen) nicht zum Inland gehören.

Für den Fall, dass dies zu verneinen ist, fragte das FG, ob Steuertatbestand und Steueranspruch für eine im externen Versandverfahren ohne Beendigung dieses Verfahrens in eine Freizone des Kontrolltyps I beförderte Ware, die in der Freizone der zollamtlichen Überwachung entzogen wird, sodass für sie eine Zollschuld nach Art. 203 Abs. 1 ZK a.F. entsteht, zum gleichen Zeitpunkt nach einem anderen Entstehungstatbestand, nämlich gem. Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK a.F. eintreten, weil es vor der Handlung, durch die die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wurde, unterlassen worden ist, die Ware bei einer der für die Freizone zuständigen, im Inland gelegenen Zollstelle zu gestellen und das Versandverfahren dort zu beenden.

Das FG Hessen ging von Folgendem aus: Da die Klägerin das Versandgut in den Freihafen Hamburg, einer Freizone des Kontrolltyps I, verbrachte, ohne das Versandverfahren bei der Einfahrt in den Freihafen oder später zu beenden, dauerte das Versandverfahren bis zur Entladung des Beförderungsmittels an und unterlagen die Waren bis dahin, und daher auch noch innerhalb des Freihafens, der zollamtlichen Überwachung. Mit der Entladung des Beförderungsmittels unter Entfernung des Verschlusses wurden die Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen und entstand für sie gem. Art. 203 Abs. 1 ZK a.F. die Zollschuld. Da Freizonen als Teile des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats zum Zollgebiet der Union gehören (Art. 3 ZKa.F.) und die Waren in das Versandverfahren überführt worden waren, sodass die Voraussetzungen der Fiktion, dass Nichtgemeinschaftswaren in einer Freizone für die Erhebung der Einfuhrabgaben als nicht im Zollgebiet der Gemeinschaft befindlich angesehen werden (Art. 166 Buchst. a ZK a.F.), nicht vorlagen, konnte die Zollschuld auch innerhalb des Freihafens entstehen. Mit der Entziehung der Waren aus der zollamtlichen Überwachung endete das Versandverfahren, da damit die Waren nicht mehr dem Versandverfahren unterlagen. Nach dem Zeitpunkt ihres Entziehens aus der zollamtlichen Überwachung befanden sich die Waren für mehrere Tage bei dem Warenempfänger, also innerhalb der Freizone, in die sie zuvor verbracht worden waren. In Art. 156 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL sind Freizonen erwähnt. Danach können die Mitgliedstaaten Umsätze, die in der Lieferung von Gegenständen bestehen, die in einer Freizone gelagert werden sollen, von der Steuer befreien. Falls es sich bei der Vorschrift des Mitgliedstaates, wonach Freizonen des Kontrolltyps I nicht zum Inland gehören und Ausland sind (vgl. § 1 Abs. 2 Sätze 1 und 2 UStG), um eine Regelung i. S. d. Art. 156 MwStSystRL handelt, könnte dies im Streitfall zur Folge gehabt haben, dass die Waren ab dem Zeitpunkt des Entziehens aus der zollamtlichen Überwachung zwar nicht mehr dem Versandverfahren, wohl aber nunmehr dieser Regelung unterlagen und mangels eines Orts der Einfuhr (Art. 61 Unterabs. 1 MwStSystRL) zu diesem Zeitpunkt noch keine Einfuhr im Sinne des Mehrwertsteuerrechts stattfand. Folge könnte ferner gewesen sein, dass der Steuertatbestand und der Steueranspruch nicht durch das Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung eintraten, weil die Waren nunmehr der Freizonenregelung des Mitgliedstaats unterlagen (Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL). Andererseits bestimmt Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL ohne Einschränkung, dass für Gegenstände, die Zöllen unterliegen, Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem Tatbestand und Anspruch für die Zölle entstehen. In seinem Urteil vom 11.07.2013, C-273/12, Harry Winston, befand der EuGH, dass diese Vorschrift den „Sonderfall“ für eingeführte Gegenstände betreffe, die Zöllen, landwirtschaftlichen Abschöpfungen oder im Rahmen einer gemeinsamen Politik eingeführten Abgaben gleicher Wirkung unterlägen. Das könnte im Hinblick auf Art. 70 und Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL dahin gedeutet werden, dass die EUSt immer dann entsteht, wenn auch eine (Einfuhr-)Zollschuld entsteht, und eine Einfuhr (im mehrwertsteuerrechtlichen Sinn) für solche Waren nicht Voraussetzung der Steuerentstehung ist. Der EuGH hat in seinem Urteil vom 11.07.2013, C-273/12, Harry Winston aber auch ausgeführt, dass die EUSt und die Zölle insofern vergleichbar seien, als sie durch die Einfuhr in die Union und die sich anschließende Überführung in den Wirtschaftskreislauf der Mitgliedstaaten entstünden.

Im Ausgangsfall lag zwar eine „Einfuhr in die Union“, hinsichtlich der EUSt aber keine Überführung in den Wirtschaftskreislauf des Mitgliedstaates, vor, zu dessen Staatsgebiet die Freizone gehört. Denn die Ware verblieb nach ihrer Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung zunächst in der Freizone und wurde dort weder in den steuerrechtlich freien Verkehr übergeführt noch verbraucht oder verwendet, was gem. § 1 Abs. 3 UStG unter Umständen wie Umsätze im Inland zu behandeln gewesen wäre. Auch spricht der EuGH in seinem Urteil vom 11.07.2013, C-273/12, Harry Winston, davon, dass Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL die Mitgliedstaaten „ermächtigt“, den Steuertatbestand und die Entstehung des Steueranspruchs der Einfuhrmehrwertsteuer mit dem Tatbestand und der Entstehung des Anspruchs bei Zöllen zu verknüpfen. Danach sind die Mitgliedstaaten befugt, aber nicht verpflichtet, die Entstehung der nationalen Einfuhrmehrwertsteuer an die Entstehung der Zollschuld zu koppeln.

Die in dem Versandverfahren in die Freizone beförderten Waren wurden nicht nur der zollamtlichen Überwachung entzogen. Erfüllt war nach den Ausführungen des FG Hessen auch der Tatbestand des Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK a.F. Denn sowohl der Hauptverpflichtete als auch die Klägerin als Warenführer, der die Waren annahm und wusste, dass sie dem gemeinschaftlichen Versandverfahren unterlagen, waren gem. Art. 96 Abs. 1 bzw. Abs. 2 ZK a.F. verpflichtet, die Waren unverändert der Bestimmungsstelle zu gestellen. Hierfür war zwar eine Frist bis zum 17.06.2009 gesetzt gewesen. Aufgrund der Entladung des Beförderungsmittels unter Entfernung des Verschlusses, wodurch die Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen wurden mit der Folge, dass die Waren nicht mehr dem Versandverfahren unterlagen und das Versandverfahren also beendet war, war die Klägerin nach Auffassung des FG verpflichtet, schon vor dieser Handlung und somit vor dem Ablauf der Frist die Waren einer der für den Freihafen zuständigen Zollstelle zu gestellen. Denn eine ordnungsgemäße Beendigung des Versandverfahrens liegt grundsätzlich nur vor, wenn die Waren unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen der Bestimmungsstelle während der Öffnungszeiten gestellt werden (vgl. Art. 92 Abs. 1 ZKa.F. i. V. m. Art. 361 Abs. 1 ZK-DVO a.F.). Diese Pflicht wurde hier nach Auffassung des FG verletzt, weil die Gestellung unterlassen wurde.

Die Pflichtverletzung hatte sich nach Auffassung des FG auf die ordnungsgemäße Abwicklung des Versandverfahrens auch ausgewirkt, weil die Voraussetzungen weder der Nummer 2 noch der Nummer 6 des Art. 859 ZK-DVO a.F. erfüllt sind. Art. 859 Nr. 6 ZK-DVO a.F. sei nur einschlägig, wenn die für das Verbringen der Waren aus dem Zollgebiet oder in eine Freizone vorgeschriebenen Zollförmlichkeiten nicht beachtet worden sind. Im Ausgangsverfahren seien hingegen die für das Versandverfahren vorgeschriebenen Förmlichkeiten nicht beachtet worden.

Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL ist die Einfuhr von Gegenständen ein Umsatz, der der MwSt unterliegt. Als Einfuhr eines Gegenstands gilt die Verbringung von Gegenständen, die sich nicht im freien Verkehr im Sinne des Artikels 24 des Vertrags befinden, in die Gemeinschaft (Art. 30 Unterabs. 1 MwStSystRL). Anders als z. B. Zölle ist die MwSt eine nationale Abgabe der Mitgliedstaaten. Die MwStSystRL bestimmt daher auch den Mitgliedstaat, dessen EUSt bei einer Einfuhr von Gegenständen in die Union entsteht. Gemäß Art. 60 MwStSystRL ist das im Grundsatz der Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sich der Gegenstand zu dem Zeitpunkt befindet, in dem er in die Gemeinschaft verbracht wird. Wie sich aus Art. 61 MwStSystRl ergibt, bleibt es bei diesem Grundsatz allerdings nur dann, wenn der Gegenstand im Anschluss an sein Verbringen in die Union in den einfuhrmehrwertsteuerrechtlich freien Verkehr übergeführt wird oder auf andere Weise in den steuerrechtlich freien Verkehr gelangt (z. B. nach einer vorschriftswidrigen Einfuhr durch Entrichtung der Einfuhrabgaben, § 21 Abs. 2 UStG i. V. m. Art. 866 ZK-DVO a.F.). Wird der verbrachte Gegenstand nicht in den freien Verkehr übergeführt oder gelangt er im Anschluss an die Einfuhr nicht auf andere Weise in den freien Verkehr, befindet er sich also „nicht im freien Verkehr“, so gibt es solange keinen Ort der Einfuhr und somit keinen Mitgliedstaat, dessen Einfuhrmehrwertsteuer entsteht, solange der Gegenstand einem Verfahren oder einer sonstigen Regelung im Sinne u. a. des Artikels 156, der Regelung der vorübergehenden Verwendung bei vollständiger Befreiung von Einfuhrabgaben oder dem externen Versandverfahren unterliegt. Konsequenterweise bestimmt Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL in Abweichung von dem Grundsatz des Artikels 70, wonach Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Einfuhr des Gegenstands erfolgt, dass Steuertatbestand und Steueranspruch solange nicht eintreten, solange die Gegenstände einem Verfahren oder einer sonstigen Regelung im Sinne u. a. des Artikels 156, der Regelung der vorübergehenden Verwendung bei vollständiger Befreiung von Einfuhrabgaben oder dem externen Versandverfahren unterliegen.

Der EuGH führt aus, das FG Hessen scheine anzunehmen, dass die nationale Freihafenregelung als Einführung einer Steuerbefreiung im Sinne von Art. 156 der MwStSystRL angesehen werden könne. Jedoch stelle eine Bestimmung, nach der die Freizonen im Hinblick auf die MwSt nicht zum Inland gehörten, keine Befreiung im eigentlichen Sinne dar. Der EuGH hat entschieden, auch wenn Art. 156 MwStSystRL den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, bestimmte Arten von Umsätzen von der Steuer zu befreien, die dort aufgeführt sind und zu denen gem. Buchst. b die Lieferungen von Gegenständen gehören, die in einer Freizone oder einem Freilager gelagert werden sollen, Art. 61 Unterabs. 1 und Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL aber nicht auf die Anwendungsvoraussetzungen des Art. 156, sondern nur auf die dort genannten sonstigen Regelungen und Zollverfahren Bezug nimmt. Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL bestimmt nach dem Urteil, dass dann, wenn Gegenstände vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die Union einem Verfahren oder einer sonstigen Regelung i. S. v. Art. 156 MwStSystRL unterliegen, Mehrwertsteuertatbestand und  anspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem diese Gegenstände diesen Verfahren oder diesen sonstigen Regelungen nicht mehr unterliegen. In diesem Fall erfolgt nach Art. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie die Einfuhr der fraglichen Waren in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet diese Gegenstände nicht mehr diesen Verfahren oder sonstigen Regelungen unterliegen. Somit ist die Bezugnahme in Art. 61 Unterabs. 1 und in Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL auf „ein Verfahren oder eine sonstige Regelung im Sinne“ des Art. 156 MwStSystRL dahin auszulegen, dass sie u. a. Freizonen umfasst. Daraus folgt, dass nach diesen Bestimmungen in einer Freihandelszone gelagerte Gegenstände für die Zwecke der Mehrwertsteuer grundsätzlich nicht als eingeführt anzusehen sind. In diesem Sinne entsprechen nach dem Urteil Freizonen, auf die in einer nationalen Bestimmung Bezug genommen wird, nach der für die Zwecke der Erhebung der MwSt Freizonen nicht zum Inland gehören, den Freizonen gem. Art. 156 MwStSystRL.

Falls Waren innerhalb einer Freizone einer sonstigen Regelung i. S. d. Art. 156 MwStSystRL unterfallen, wie sie in Art. 61 Unterabs. 1 und in Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStsystRL genannt ist, hatte das FG Hessen weiter gefragt, ob Steuertatbestand und Steueranspruch für Gegenstände, die Zöllen unterliegen, gem. Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL auch dann zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem Tatbestand und Anspruch für die Zölle entstehen, wenn Tatbestand und Anspruch für die Zölle inmitten einer Freizone des Kontrolltyps I entstehen und das Mehrwertsteuerrecht des Mitgliedstaats, zu dessen Staatsgebiet die Freizone gehört, bestimmt, dass Freizonen des Kontrolltyps I (Freihäfen) nicht zum Inland gehören. Hierzu hat der EuGH entschieden, gem. Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL treten u. a. der Mehrwertsteuertatbestand und -anspruch dann, wenn Gegenstände vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die Union dem externen Versandverfahren oder einem Verfahren oder einer sonstigen Regelung i. S. v. Art. 156 MwStSystRL unterliegen, zu dem Zeitpunkt ein, zu dem diese Gegenstände diesen Verfahren oder sonstigen Regelungen nicht mehr unterliegen. Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL betrifft den Sonderfall eingeführter Gegenstände, die Zöllen, landwirtschaftlichen Abschöpfungen oder im Rahmen einer gemeinsamen Politik eingeführten Abgaben gleicher Wirkung unterliegen, bei denen Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem Tatbestand und Anspruch für diese Abgaben eintreten. Der EuGH stellt fest, im Ausgangsverfahren stehe fest, dass aufgrund der Entziehung der fraglichen Gegenstände aus der zollamtlichen Überwachung, einer Folge der unzulässigen Entfernung der Zollverschlüsse, eine Zollschuld gem. Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex entstanden ist (vgl. hierzu EuGH, Urt. v. 15.05.2014, X, C 480/12). Diese Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung führte auch zur Beendigung des externen Versandverfahrens (vgl. EuGH, Urt. v. 11.07.2002, C 371/99, Liberexim). Da diese Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung innerhalb einer Freizone stattfand, unterfielen die im Ausgangsverfahren fraglichen Gegenstände nach dem Urteil allerdings weiterhin einer der Regelungen nach Art. 156 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL, sodass die Voraussetzungen für die Entstehung einer EUSt Gem. Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 MwStSystRL von vornherein nicht erfüllt waren. Die Lagerung der Gegenstände innerhalb einer Freizone zum Zeitpunkt ihrer Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung steht auch der Anwendung von Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL entgegen, da es an einem Ort der Einfuhr fehlt. Jedoch kann neben der Zollschuld eine Mehrwertsteuerpflicht bestehen, wenn aufgrund des Fehlverhaltens, das zur Entstehung der Zollschuld führte, angenommen werden kann, dass die fraglichen Waren in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt sind und somit einem Verbrauch, d. h. dem mit MwSt belasteten Vorgang, zugeführt werden konnten (vgl. EuGH, Urt. v. 02.06.2016, C 226/14 und C 228/14, Eurogate Distribution und DHL Hub Leipzig). Insoweit ist nach dem vorliegenden Urteil grundsätzlich anzunehmen, dass Einfuhrabgaben unterliegende Gegenstände, die der zollamtlichen Überwachung innerhalb einer Freizone entzogen werden und sich nicht mehr in dieser Zone befinden, in den Wirtschaftskreislauf der Union überführt worden sind. Stellt sich allerdings unter Umständen wie im vorliegenden Fall heraus, dass die fraglichen Gegenstände nicht in den Wirtschaftskreislauf der Union überführt wurden – dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts –, fällt keine EUSt an.

Für den Fall, dass die Entstehung von EUSt zu verneinen ist, hatte das FG weiter gefragt, ob Steuertatbestand und Steueranspruch für eine im externen Versandverfahren ohne Beendigung dieses Verfahrens in eine Freizone des Kontrolltyps I beförderte Ware, die in der Freizone der zollamtlichen Überwachung entzogen wird, sodass für sie eine Zollschuld nach Art. 203 Abs. 1 des Zollkodex entsteht, zum gleichen Zeitpunkt nach einem anderen Entstehungstatbestand, nämlich gem. Art. 204 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex eintreten, weil es vor der Handlung, durch die die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wurde, unterlassen worden ist, die Ware bei einer der für die Freizone zuständigen, im Inland gelegenen Zollstelle zu gestellen und das Versandverfahren dort zu beenden.

Hierzu belehrt der EuGH das FG, dass Art. 204 ZK a.F., wie sich aus seinem Wortlaut ergebe, nur in den Fällen Anwendung findet, die nicht unter Art. 203 ZK a.F. fallen. Um entscheiden zu können, welcher dieser beiden Artikel die Grundlage für die Entstehung einer Einfuhrzollschuld ist, ist nach dem Urteil daher in erster Linie zu prüfen, ob die betreffenden Handlungen eine Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung i. S. v. Art. 203 Abs. 1 ZKa.F. darstellen. Nur wenn dies zu verneinen ist, kann eine Anwendung von Art. 204 ZK in Betracht kommen (vgl. EuGH, Urt. v. 12.02.2004, C 337/01, Hamann International). Wird eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen, kommt daher für die Zwecke von Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL eine Anwendung von Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK a.F., um zu bestimmen, ob die Erhebung der EUSt auf die Entstehung einer Zollschuld nach dieser letztgenannten Bestimmung gestützt werden kann, nicht in Betracht.

Praxishinweis

Der EuGH hat bestätigt, Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL kann aufgrund seines uneingeschränkten Wortlauts nicht dahin (miss-)verstanden werden, dass die EUSt des betreffenden Mitgliedstaates ausnahmslos entsteht, wenn eine Einfuhrzollschuld entsteht. Die Vorschrift ist lediglich eine Regelung über den Zeitpunkt des Eintretens von Steuertatbestand und Steueranspruch. Sie geht ersichtlich – indem sie von „eingeführten“ Gegenständen spricht – davon aus, dass der Besteuerungsgegenstand, nämlich die Einfuhr von Gegenständen (Art. 2 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL), gegeben ist. Danach treten Steuertatbestand und Steueranspruch nur dann zu dem Zeitpunkt ein, zu dem Tatbestand und Anspruch für die Zölle entstehen, wenn auch mehrwertsteuerrechtlich eine Einfuhr erfolgt ist. Solange in die Union verbrachte Gegenstände z. B. einer sonstigen Regelung im Sinne des Artikels 156 unterliegen, treten Steuertatbestand und Steueranspruch für sie nicht ein. Solange gibt es gem. Art. 61 Unterabs. 1 MwStSystRL keinen Ort der Einfuhr und sind die Gegenstände demzufolge keine „eingeführten Gegenstände“.

Im Streitfall war daher durch die Entladung des Beförderungsmittels unter Entfernung des Verschlusses, was zollrechtlich eine Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung darstellt, das zu einer Zollschuld nach Art. 203 Abs. 1 ZK führt, mehrwertsteuerrechtlich keine Einfuhr erfolgt, weil die Waren inmitten einer zum Zollgebiet der Union, aber nicht zum Inland des betreffenden Mitgliedstaates gehörenden Freizone (allerdings stellt der Freihafen Hamburg, um den es im Verfahren ging, seit 01.01.2013 keine Freizone mehr dar) der zollamtlichen Überwachung entzogen wurden. Der Eintritt des Anspruchs auf die Zölle führt nur dann „automatisch“ zum Eintritt des Steueranspruchs, wenn die Einfuhr von Waren den Mehrwertsteuertatbestand darstellt.

Nach Auffassung des FG Hessen hätten die Waren vor der Entladung des Beförderungsmittels zur Beendigung des Versandverfahrens gestellt werden müssen (vgl. Art. 170 Abs. 2 Buchst. a, 1. Halbsatz ZK a.F.). Aus Art. 96 ZK a.F. ergebe sich auch die Pflicht, alles zu unterlassen, was die Gestellung der dem Versandverfahren unterliegenden Waren vereiteln würde. Sind Handlungen beabsichtigt, die eine ordnungsgemäße Gestellung unmöglich machen würden, muss deshalb das Versandverfahren durch Gestellung der Waren unter Vorlage der Versandunterlagen zuvor beendet werden, auch wenn die Gestellungsfrist noch läuft. Durch das Unterlassen der Gestellung der Waren zwecks Beendigung des Versandverfahrens wurde nach Auffassung des FG Hessen daher zugleich mit der Entladung des Beförderungsmittels, und damit dem Entziehen der Waren aus der zollamtlichen Überwachung der Tatbestand des Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK a.F. erfüllt. Dies hat der EuGH verneint. Wird eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen, kann für die Zwecke von Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK a.F. nicht herangezogen werden.

Die Entstehung von EUSt, die nicht im Zusammenhang mit einer regulären Einfuhr, sondern mit zollrechtlichem Fehlverhalten entsteht, ist erst kürzlich vom EuGH bewertet worden (vgl. EuGH, Urt. v. 02.06.2016, C-226/14, Eurogate Distribution GmbH und C-228/14, DHL Hub Leipzig; EuGH, Urt. v. 25.06.2015, C-184/14, DSV Road). Für Dienstleister, z. B. Spediteure, die auf diese Weise zur EUSt  herangezogen werden, besteht nach Auffassung der Finanzverwaltung - mangels Verfügungsmacht im Einfuhrzeitpunkt - regelmäßig kein Vorsteuerabzugsrecht. Wenn die EUSt nicht abzugsfähig ist und deshalb zum Kostenfaktor wird, kommt der Frage, ob die EUSt bei zollrechtlichem Fehlverhalten überhaupt entstehen kann, eine große Bedeutung zu. Der EuGH hatte bereits entschieden (EuGH, Urt. v. 02.06.2016, C-226/14, Eurogate Distribution GmbH), dass die EUSt nicht zwangsweise einer Zollschuldentstehung aus formellen Gründen folgt, soweit die betreffende Ware wieder ausgeführt wird. Dies hat der EuGH nunmehr für das Verbringen von Ware in eine Freizone bestätigt.

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