Vorsteuerabzug, Versagung des Vorsteuerabzugs wegen MwSt-Betrug auf Vorstufen, Scheinlieferkette, Beweispflicht der Finanzbehörde

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 10.07.2019, C-273/18, SIA Kuršu zeme

Praxisproblem

Bei dem lettischen Vorabentscheidungsersuchen ging es um die Auslegung von Art. 168 MwStSystRL in Bezug auf die Versagung des Vorsteuerabzugs bei vermeintlich nicht stattgefundenem Eingangsumsatz.

Sachverhalt

Die Klägerin ist in der Fischverarbeitung tätig. Die lettische Finanzbehörde stellte bei einer Außenprüfung fest, dass bestimmte Eingangsumsätze der Klägerin in der Praxis nicht stattgefunden hätten. Die Waren, die die Klägerin nach ihren Angaben von einer Gesellschaft K bezogen habe, seien in Wirklichkeit von einem litauischen Unternehmen B erworben worden. Die Klägerin habe die Waren selbst von Klaipėda (Litauen) zu ihrer Fabrik in Lettland transportiert. Die streitigen Gegenstände seien mehrmals aufeinanderfolgend zwischen mehreren Unternehmen veräußert worden. Die Tätigkeit dieser Unternehmen habe sich aber darauf beschränkt, die Transportbegleitdokumente in eigenem Namen auszustellen. Die Finanzverwaltung kam zu dem Ergebnis, der Klägerin habe die Kette der fingierten Umsätze nicht verborgen bleiben können und versagte der Klägerin den Vorsteuerabzug.

Die Klägerin führte an, dass sie die Bedingungen für den Vorsteuerabzug erfüllt habe. Unter den konkreten Umständen habe sie keinen Anlass gehabt, eine Steuerhinterziehung anzunehmen.

Das erstinstanzliche Gericht hatte festgestellt, dass die Klägerin gewusst habe, dass die Umsätze nur fingiert waren. Das Gericht legte jedoch nicht näher dar, ob (und durch wen) überhaupt eine Steuerhinterziehung stattgefunden habe. Das vorlegende Gericht wollte daher wissen, ob Art. 168 Buchst. a MwStSystRL dahin auszulegen ist, dass er einer Versagung des Vorsteuerabzugs entgegensteht, wenn diese Versagung ausschließlich auf die wissentliche Beteiligung des Steuerpflichtigen an der Planung fingierter Umsätze gestützt wird, ohne dass dargelegt wird, wie durch das Ergebnis der konkreten Umsätze im Vergleich mit einer Situation, in der die Umsätze im Einklang mit den tatsächlichen Umständen angemeldet wurden, dem Fiskus ein Schaden entsteht, weil die MwSt nicht gezahlt oder ein unberechtigter Vorsteuerabzug geltend gemacht wird.

Entscheidung

Der EuGH hat seine bisherige Rechtsprechung bestätigt, dass für die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis auf dem Gebiet der MwSt zwei Voraussetzungen vorliegen müssen: Zum einen, dass die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der einschlägigen Rechtsvorschriften einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit den Vorschriften verfolgten Ziel zuwiderliefe und zum anderen, dass aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen lediglich ein Steuervorteil bezweckt wird. Der EuGH weist darauf hin, das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass der Umstand, dass ein Gegenstand nicht unmittelbar vom Rechnungsaussteller übergeben wurde, nicht notwendigerweise die Folge einer betrügerischen Verschleierung des tatsächlichen Lieferanten ist und eine missbräuchliche Praxis darstellt, sondern andere Gründe haben kann, u. a. das Vorliegen eines Reihengeschäfts, bei dem nur eine tatsächliche Beförderung der Ware erfolgt. Außerdem sei es nicht erforderlich, dass der erste Erwerber zum Zeitpunkt der Beförderung Eigentümer der betreffenden Gegenstände geworden ist, da eine umsatzsteuerliche Lieferung nicht voraussetzt, dass das Eigentum am Gegenstand übergeht.

Das bloße Vorliegen einer Kette von Umsätzen und die Tatsache, dass der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer die tatsächliche Verfügungsmacht über die Gegenstände im Warenlager eines anderen Lieferers als seinem Vorlieferanten erlangte, ohne sie tatsächlich von seinem unmittelbaren Vorlieferanten (gemeint ist hier im Wege einer Beförderung von diesem an den Unternehmer) erhalten zu haben, kann für sich genommen nicht die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Unternehmer die betreffenden Gegenstände nicht von seinem Vertragspartner geliefert bekommt und deshalb kein Umsatz zwischen diesen beiden Beteiligten bewirkt worden sei.

Praxishinweis

Das deutsche Recht ist von dem Urteil grds. betroffen. Die Versagung des Vorsteuerabzugs bei einer Beteiligung an einer Steuerhinterziehung entspricht der ständigen Rechtsprechung der nationalen Gerichte und des EuGH. Die Frage, wie weit die tatsächliche Steuerhinterziehung bzw. ein vermeintlicher Rechtsmissbrauch für die Versagung des Vorsteuerabzugs aufzuklären ist, war bisher nicht höchstrichterlich entschieden. Von daher ist das Urteil für die Praxis relevant. Denn es überträgt der Finanzbehörde die Beweislast für die Versagung des Vorsteuerabzugs, wenn diese geltend macht, der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer habe die Ware nicht von seinem unmittelbaren Lieferanten (dem Rechnungsaussteller) erhalten. Dies kann nach dem Urteil aber in Reihengeschäftsfällen gängige Praxis sein und lässt nicht unmittelbar den Schluss auf eine betrügerische Verschleierung des tatsächlichen Lieferanten zu,

Nach bisheriger und nunmehr wieder bestätigter Rechtsprechung des EuGH bezweckt das System des Vorsteuerabzugs die vollständige Entlastung des Unternehmers von der MwSt, die er aufgrund seiner wirtschaftlichen Tätigkeit zahlen muss oder gezahlt hat. Auf das Recht auf Vorsteuerabzug hat es grundsätzlich keinen Einfluss, ob die Steuer auf vorausgegangene oder nachfolgende Umsätze an den Fiskus abgeführt wird oder nicht. Der Vorsteuerabzug kann aber versagt werden, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass er in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht werde. Seine Geltendmachung ist wiederum betrügerisch oder missbräuchlich, wenn der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er bei einem Kauf an einem Mehrwertsteuerbetrug beteiligt ist. Hingegen darf dem Unternehmer, der dies weder wusste noch hätte wissen müssen, nicht sanktioniert werden, indem ihm das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird. Schließt die Steuerverwaltung aus dem Vorliegen von Steuerhinterziehungen oder Unregelmäßigkeiten seitens des Ausstellers der Rechnung, dass  der abgerechnete Umsatz, der als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dient, in Wirklichkeit nicht bewirkt worden ist, muss sie, um dieses Recht versagen zu können, anhand objektiver Umstände nachweisen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der Umsatz in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist. Die Finanzbehörde muss dartun, dass ein ungerechtfertigter Steuervorteil vorliegt, von dem der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer oder andere Personen in einer Lieferkette profitiert haben.

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