EuGH zum ermäßigten Steuersatz bei Umsätzen aus Lieferung, Bau, Renovierung und Umbau von Wohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 04.06.2015, C-161/14, Kommission/Vereinigtes Königreich; Lieferung, Bau, Renovierung und Umbau von Wohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus

Praxisproblem

Nach Anhang III Nr. 10 MwStSystRL können die Mitgliedstaaten auf folgende Umsätze einen ermäßigten Steuersatz anwenden: Lieferung, Bau, Renovierung und Umbau von Wohnungen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus. Gleiches gilt nach Nummer 10a für die Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen, mit Ausnahme von Materialien, die einen bedeutenden Teil des Wertes der Dienstleistung ausmachen. Deutschland macht von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch, wohl aber eine Reihe anderer Mitgliedstaaten. Der EuGH hatte sich zum ersten Mal mit der Reichweite der Steuerermäßigung in diesem Bereich auseinanderzusetzen.

Sachverhalt

Die Kommission hatte dem Vereinigten Königreich vorgeworfen, einen ermäßigten Steuersatz auf Dienstleistungen zur Anbringung von „energiesparenden Materialen“ und auf die Lieferung von „energiesparenden Materialen“ anzuwenden, was über den Anwendungsbereich der Nr. 10 und 10a des Anhangs III der MwStSystRL hinausgehe.

Die Kommission war der Ansicht, dass die Regelung über ermäßigte Steuersätze für die Lieferung von energiesparenden Materialien und deren Anbringung, die im „VAT Act 1994“ in Section 29A in Anhang 7A enthalten ist, die Grenzen dessen überschreite, was den Mitgliedstaaten nach den Nrn. 10 und 10a des Anhangs III MwStSystRL gestattet sei.

Die Regelung des Vereinigten Königreichs über ermäßigte Steuersätze in Anhang 7A, Teil 2, Gruppe 2 des VAT Act 1994 stehe nicht im direkten Zusammenhang mit sozialem Wohnungsbau und gehe deshalb über das hinaus, was nach Nr. 10 des Anhangs III MwStSystRL zulässig sei. Die Kommission vertrat die Auffassung, dass ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz nur auf die in Anhang III MwStSystRL genannten Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen angewandt werden könne. Nach Ansicht der Kommission fallen die Lieferung und der Einbau von „energieeffizienten Materialien“ im Rahmen des Wohnungsbaus nicht in diese beiden Kategorien. Selbst wenn eine solche Lieferung oder ein solcher Einbau zur zweiten Kategorie („Renovierung und Reparatur von Privatwohnungen“) gehören sollte, könne gemäß den Bestimmungen der MwStSystRL kein ermäßigter Steuersatz auf diese Kategorie angewandt werden, wenn die Materialien einen bedeutenden Teil des Wertes der erbrachten Dienstleistung ausmachten. Zu den von der britischen Regelung erfassten energieeffizienten Materialien gehörten aber auch solche, die dieses Kriterium erfüllten.

Entscheidung

Der EuGH hat der Klage vollumfänglich stattgegeben und das Vereinigte Königreich verurteilt (das Urteil liegt nur in Englisch vor). Das Vereinigte Königreich darf nicht bei allen Wohnungen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz für die Lieferung und den Einbau von energieeffizienten Materialien anwenden. Dieser ermäßigte Satz ist allein Umsätzen im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus vorbehalten.

Nationale Maßnahmen, die darauf hinauslaufen, dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz unabhängig vom sozialen Kontext, in dem die Maßnahmen ergriffen werden, auf die Lieferung, den Bau, die Renovierung und den Umbau sämtlicher Wohnungen angewandt wird, verstoßen gegen die MwStSystRL.

Der EuGH führt aus, dass eine Politik zur Verbesserung der Wohnungssituation zwar, wie das Vereinigte Königreich geltend macht, soziale Auswirkungen haben kann, doch ist eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf sämtliche Wohnhäuser nicht in erster Linie eine soziale Maßnahme. Da die britischen Regelungen für die Lieferung und den Einbau energieeffizienter Materialien in alle Wohnhäuser die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes vorsehen, ohne nach den Personengruppen zu unterscheiden, die darin wohnen, kann nach dem Urteil nicht davon ausgegangen werden, dass diese Bestimmungen allein oder auch nur hauptsächlich aus sozialen Gründen erlassen wurden.

Praxishinweis

Deutschland macht von der Möglichkeit eines ermäßigten Steuersatzes nach Art. 98 MwStSystRL i.V.m. Anhang III Nr. 10 und 10a der Richtlinie keinen Gebrauch und ist daher von dem Urteil nicht betroffen. Nach Art. 96 MwStSystRL ist der Mehrwertsteuer-Normalsatz, den jeder Mitgliedstaat festsetzt und der mindestens 15 % betragen muss, auf alle Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen anwendbar. Ein anderer Satz als der Normalsatz kann nur angewandt werden, soweit dies nach anderen Vorschriften der MwStSystRL zulässig ist. Art. 98 der Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten (ausschließlich) einen oder zwei ermäßigte Steuersätze auf die in Anhang III der Richtlinie genannten Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen anwenden können.