Unternehmereigenschaft , Einrichtung des öffentlichen Rechts, Gesellschaft in vollständigem Besitz einer Gemeinde, die im Rahmen eines Aufgabenwahrnehmungs- und Vermögensnutzungsvertrags einzig gegenüber der Gemeinde tätig wird

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 22.02.2018, C-182/17, Nagyszénás Településszolgáltatási Nonprofit Kft.

Sachverhalt

Bei dem ungarischen Vorabentscheidungsersuchen ging es um die Besteuerung der öffentlichen Hand nach Art. 13 MwStSystRL. Die Klägerin ist eine zur Eintragung ins Firmenregister verpflichtete Wirtschaftsgesellschaft ohne Gewinnerzielungsabsicht (Non-Profit-Organisation), die zu 100 % im Eigentum einer Gemeinde steht. Sie schloss mit der Gemeinde einen Aufgabenwahrnehmungs- und Vermögensnutzungsvertrag ab, wonach sie gegen eine entsprechende Ausgleichszahlung die Wahrnehmung von Pflichtverwaltungsaufgaben der Gemeinde übernahm. Diese Aufgaben bestanden in der Wohnungs- und Immobilienbewirtschaftung, dem Betrieb kommunaler Straßen, der Beseitigung von Quarantäneschadenerregern, Mückenausdünnung, Parkinstandhaltung, dem Unterhalt öffentlicher Plätze und sonstiger Grünflächen, der Kadaverbeseitigung sowie der Abdeckerei und der Veranstaltung von Märkten. Außerdem war die Klägerin gegenüber der Gemeinde verpflichtet, Tagebücher über die Erledigung der einzelnen Aufgaben zu führen und bei Nichterledigung trotz Fristsetzung durch die Gemeinde einen Teil der Ausgleichszahlung zurück zu erstatten.

Die Klägerin stellte der Gemeinde keine Rechnungen aus und unterwarf die Ausgleichszahlungen nicht der Umsatzsteuer. Die ungarische Steuerbehörde ging bei der Ausgleichszahlung von einem steuerbaren Leistungsentgelt aus, da es sich um ein Entgelt für die Erbringung konkreter Dienstleistungen handele und die Klägerin kein zur Ausübung öffentlicher Gewalt berechtigtes Haushaltsorgan sei. Zudem stelle die Tätigkeit keine hoheitliche, sondern eine wirtschaftliche Tätigkeit dar, da die Klägerin an der Durchführung der Selbstverwaltungsaufgaben lediglich mitgewirkt und diese nicht unmittelbar durchgeführt habe. Zudem habe sie auch für Dritte Dienstleistungen erbracht und insoweit den Vorsteuerabzug ausgeübt.

Das Vorlagegericht wollte im Wesentlichen wissen, ob eine Wirtschaftsgesellschaft, die zu 100 % im Eigentum einer Gemeinde steht, eine „Einrichtung des öffentlichen Rechts“ gem. Art. 13 MwStSystRL darstellt und, falls diese Frage bejaht wird, ob die Wirtschaftsgesellschaft die übertragenen Aufgaben „im Rahmen der öffentlichen Gewalt“ wahrnimmt. Hilfsweise wollte das Vorlagegericht wissen, ob der an die Wirtschaftsgesellschaft für die Wahrnehmung der Aufgaben gezahlte Betrag als Entgelt angesehen werden kann.

Entscheidung

Der EuGH hat zunächst die Frage zum Leistungsaustausch bzw. zum Vorliegen einer wirtschaftlichen Tätigkeit bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben gegen Ausgleichszahlung beantwortet. Er kommt - vorbehaltlich der Prüfung des nationalen Gerichts - zum Ergebnis, dass auch eine Ausgleichszahlung, die ggf. nicht nach Maßgabe individueller Leistungen, sondern pauschal und auf jährlicher Basis zur Deckung der Betriebskosten der Gesellschaft festgesetzt wird, für sich allein nichts am unmittelbaren Zusammenhang zwischen der erbrachten Dienstleistung und der empfangenen Gegenleistung ändert. Auch wenn die Wahrnehmung der betreffenden öffentlichen Aufgaben für die Gemeinde eine gesetzliche Verpflichtung darstellt, kann dies weder die Beurteilung einer derartigen Tätigkeit als „Dienstleistung“ noch den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dieser Dienstleistung und ihrer Gegenleistung infrage stellen. Somit ist grds. in solchen Fällen von einem steuerbaren Leistungsaustausch bzw. von einer wirtschaftlichen Tätigkeit i. S. v. Art. 2 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL auszugehen.

Die ersten beiden Fragen hat der EuGH dahingehend beantwortet, dass nicht von einer Tätigkeit der Gesellschaft im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgegangen werden kann, und die Gesellschaft auch keine öffentliche Einrichtung ist, was zur Nichtunternehmereigenschaft der Gesellschaft führen würde.

Der EuGH bekräftigt seine frühere Rechtsprechung, dass der betreffenden Einrichtung hoheitliche Befugnisse zukommen müssen, was im Ausgangsfall nicht gegeben sei. Auch fehle es daran, dass die Gesellschaft als ausreichend in die Organisation der öffentlichen Verwaltung der Gemeinde integriert angesehen werden kann.

Der EuGH fordert für die Annahme einer öffentlichen Einrichtung eine Art organschaftliche Verbindung zwischen der Gesellschaft und der Gemeinde. Die Gesellschaft sei aber nicht durch eine von der Gemeinde erlassene Entscheidung errichtet worden, in der die Dienste festlegt würden, die für die Gemeinde zu erbringen sind. Die Eigenständigkeit der Gesellschaft sei zwar begrenzt, weil ihr Kapital, das Beteiligungen von Privatpersonen nicht offen steht, zu 100 % von der Gemeinde gehalten wird. Andere Faktoren deuteten aber darauf hin, dass die Gemeinde nicht in der Lage ist, einen bestimmenden Einfluss auf die Geschäftstätigkeit der Gesellschaft auszuüben.

Hier war für den EuGH entscheidend, dass Gemeinde nicht der einzige „Kunde“ der Gesellschaft war und dass die von der Gesellschaft Unternehmen an Dritte erbrachten Leistungen nicht nur marginale Bedeutung hatten, steuerbar waren und tatsächlich besteuert wurden.

Praxishinweis

Der Fall war vergleichbar mit dem Sachverhalt in der Rechtssache C-174/14. Der EuGH hat in dieser Sache mit Urteil v. 29.10.2015, C-174/14, Saudaçor, die Anwendbarkeit des Art. 13 MwStSystRL auf eine zu 100 % von der öffentlichen Hand gehaltene Aktiengesellschaft bei Vorliegen bestimmter Merkmale für nicht ausgeschlossen gehalten. Konsequenzen aus diesem Urteil hat die deutsche Finanzverwaltung bisher nicht gezogen.

Im vorliegenden Fall erschienen (und das war für den EuGH offensichtlich entscheidend) der privatrechtliche Status der Gesellschaft und die fehlende Einflussmöglichkeit der öffentlichen Einrichtung stärker ausgeprägt als in der Rechtssache Saudaçor.

Zum Begriff der Tätigkeit im Rahmen öffentlicher Gewalt entscheidet der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass darunter solche Tätigkeiten zu verstehen sind, die von den öffentlichen Einrichtungen im Rahmen der ihnen eigenen rechtlichen Regelung ausgeübt werden. Nicht dazu gehören Tätigkeiten, die sie unter den gleichen rechtlichen Bedingungen ausüben wie private Wirtschaftsteilnehmer. Der Gegenstand oder der Zweck der Tätigkeit sind insoweit unerheblich und die Tatsache, dass die Ausübung der in Rede stehenden Tätigkeit den Gebrauch von hoheitlichen Befugnissen umfasst, kann dazu führen, dass die Tätigkeit einer öffentlich-rechtlichen Regelung unterliegt (vgl. EuGH, Urt. v. 14.12.2000, C-446/98, Fazenda Pública). Die Tätigkeiten stehen regelmäßig eng mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse im Zusammenhang.

Entgegen dem Sachverhalt in der Rechtssache C-174/14 war im vorliegenden Fall die Gesellschaft nicht von vornherein als öffentliche Einrichtung zu behandeln, sodass die von ihr vereinnahmten Zahlungen auch nicht als nicht steuerbares Entgelt angesehen werden können.

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