Steuerfreiheit der Umsätze eines ambulanten Pflegedienstes

BFH, Urt. v. 19.3.2013, XI R 47/07

Praxisproblem

Bis zum 31.12.2008 befreite § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG Umsätze eines ambulanten Pflegedienstes, wenn im vorangegangenen Kalenderjahr die Pflegekosten in mindestens zwei Drittel der Fälle von der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen wurden. Der XI. Senat des BFH hatte unionsrechtliche Zweifel an der Kompatibilität des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG mit der unionsrechtlichen Vorgabe in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL. Der EuGH hat mit Urteil v. 15.11.2012 (Rs. C-174/11 - Zimmermann, UR 2013, 35) zwar die Zwei-Drittel-Grenze in § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG ausdrücklich gebilligt, da dies ein zulässiger Ansatz sei, den sozialen Charakter der Einrichtung zu begründen. Allerdings verstößt nach Auffassung des EuGH die Anknüpfung an die Vorjahreskostenübernahme gegen die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 132 Abs. 1 MwStSystRL. Die Anerkennung des „sozialen Charakters“ der Einrichtung würde dadurch automatisch und zwangsläufig ausgeschlossen. Auf der Basis dieser Vorgaben musste der BFH den Vorlagefall für das deutsche Recht entscheiden.    

Sachverhalt

Die Klägerin, eine examinierte Krankenschwester pflegte ab Anfang 1993 einzelne Patienten selbständig ambulant. Ab 1.10.1993 wurde sie mit einem ambulanten Pflegedienst zu den Krankenkassen zugelassen. Von den Personen, die sie 1993 behandelte, waren 68% Privatzahler. Im Streit war die Steuerbefreiung ihrer ambulanten Pflegedienstleistung. Das Finanzamt versagte die Befreiung u.a. wegen der Verhältnisse im Vorjahr.

Entscheidung

Der BFH gewährte die Steuerbefreiung für die Umsätze der Behandlungspflege vom 1.1.1993 bis 30.9.1993 gem. § 4 Nr. 14 UStG (heute: § 4 Nr. 14 Buchst. a Satz 1 UStG). Die Umsätze ab 1.10.1993 – Umsätze des ambulanten Pflegdienstes – befreite der BFH wegen des direkt anwendbaren Unionsrechts in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL. Zwar lägen die Voraussetzungen des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG in den Streitjahren (1993 und 1994) wegen der vom deutschen Gesetz geforderten Kostentragung bezogen auf das Vorjahr nicht vor. Die Klägerin könne sich aber direkt und unmittelbar auf das für sie günstigere Unionsrecht berufen. Da das Unionsrecht keine dem deutschen Recht vergleichbare Einschränkung – Kostenübernahme im Vorjahr -  kennt, ergibt sich die Steuerbefreiung der in Rede stehenden Umsätze der Klägerin direkt und unmittelbar aus Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL.

Praxishinweis

Der deutsche Gesetzgeber hat § 4 Nr. 16 UStG mit Wirkung zum 1.1.2009 durch das JStG 2009 neu strukturiert. Auf der Basis der unionsrechtlichen Vorgabe des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL hat der Gesetzgeber in den Buchst. a bis j Fallgruppen gebildet, die mit einer Verknüpfung zum Sozialrecht Steuerbefreiungstatbestände kasuistisch regelt. In § 4 Nr. 16 Buchst. k UStG findet sich ein Auffangtatbestand, der wiederum – wie die Vorgängerregelung – an einen Kostenübernahmeprozentsatz (40%) anknüpft und wiederum auf das Vorjahr abstellt. Die Anknüpfung an das Vorjahr verstößt aber gegen das Unionsrecht, so dass insoweit der Unternehmer sich direkt und unmittelbar – soweit er die weiteren Voraussetzungen erfüllt – auf die unionsrechtliche Bestimmung berufen kann. Auch ist darauf hinzuweisen, dass Art. 134 MwStSystRL zwei mögliche Einschränkungen enthält, die vom deutschen Gesetzgeber nicht umgesetzt worden sind, aber demnächst an Bedeutung gewinnen könnten. Zum einen schließt Art. 134 Buchst. a MwStSystRL die Befreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL dann aus, wenn die in Rede stehenden Umsätze zur Ausübung der von der Steuer befreiten Umsätze nicht unerlässlich sind. Art. 134 Buchst. b MwStSystRL schließt die Steuerbefreiung weiterhin aus, wenn die in Rede stehenden Umsätze im wesentlichen dazu bestimmt sind, der Einrichtung zusätzliche Einnahmen durch Tätigkeiten zu verschaffen, die in unmittelbarem Wettbewerb mit Tätigkeiten von der Umsatzsteuer unterliegenden gewerblichen Unternehmen stehen. In dem vom BFH entschiedenen Fall wurde hierzu nichts vorgetragen und lagen für den BFH auch keine Erkenntnisse zur Annahme dieser Ausnahmen vor.