Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 7.9.2023, C-453/22 (Schütte)

Vorsteuerabzug, sog. Direktanspruch in der Umsatzsteuer

Praxisproblem
Bei dem Vorabentscheidungsersuchen des FG Münster ging es um den Direktanspruch gegenüber dem Fiskus nach der sog. Reemtsma-Rechtsprechung des EuGH. Fraglich war, ob es unionsrechtlich geboten ist, dass einem Unternehmer ein Anspruch auf Erstattung der von ihm an seine Vorlieferanten zu viel gezahlten MwSt. einschließlich der Zinsen unmittelbar gegen die Finanzbehörde zusteht, auch wenn noch die Möglichkeit besteht, dass die Finanzbehörde durch die Vorlieferanten aufgrund einer Berichtigung der Rechnungen zu einem späteren Zeitpunkt in Anspruch genommen wird und dann möglicherweise keinen Rückgriff beim Unternehmer mehr nehmen kann.

Sachverhalt
Streitig war, ob das FA zu Recht einen Antrag des Klägers auf Erlass von Umsatzsteuernachforderungen und Zinsen zur USt. aus Billigkeitsgründen abgelehnt hatte.

Der Kläger, ein Land- und Forstwirt, betreibt (u.a.) einen gewerblichen Handel mit Holz. In den Jahren 2011 bis 2013 erwarb der Kläger von seinen Vorlieferanten, mit denen er jeweils Nettovereinbarungen getroffen hatte, Holz unter Ausweis der USt. in den jeweiligen Rechnungen in Höhe des Regelsteuersatzes von 19%. Der Kläger veräußerte und lieferte in der Folge das Holz an seine Kunden als Brennholz unter Ausweis des ermäßigten Steuersatzes von 7%. Die Vorlieferanten erklärten jeweils die Umsätze und führten die Steuer in Höhe von 19% an die Finanzbehörden ab. Der Kläger erklärte Ausgangsumsätze zu lediglich 7% und brachte seinerseits den Vorsteuerabzug aus den Lieferungen der Vorlieferanten in Höhe von 19% in Abzug. Die sich hieraus ergebene Steuerschuld wurde vom Kläger an die Finanzbehörde gezahlt. Anhaltspunkte für eine drohende Zahlungsunfähigkeit des Klägers waren zu keinem Zeitpunkt gegeben. Ein Betrugsverdacht lag nicht vor.

Im Rahmen einer Betriebsprüfung gelangte das FA zu der Auffassung, dass die Ausgangsumsätze des Klägers nicht dem ermäßigten Steuersatz, sondern dem Regelsteuersatz unterliegen würden. Im Rahmen eines sich hieran anschließenden Klageverfahrens bestätigte das FG Münster, dass die Ausgangsumsätze des Klägers dem ermäßigten Steuersatz unterliegen. Das FG vertrat indes auch die Auffassung, dass bereits die Eingangsumsätze des Klägers dem ermäßigten Steuersatz in Höhe von 7% unterlagen und der Kläger auch nur insoweit einen Vorsteuerabzug in Abzug bringen konnte, weil nur insoweit eine gesetzlich geschuldete Steuer vorlag. Daher wurde der Vorsteuerabzug des Klägers gekürzt. Das Urteil wurde rechtskräftig (FG Münster v. 2.7.2019, 15 K 2794/17 U, nicht veröffentlicht).

Zur Umsetzung des Urteils forderte das FA USt. für die Jahre 2011 bis 2013 nach und setzte Zinsen zur USt. für die Jahre 2011 bis 2013 fest. Der Kläger wandte sich in der Folge an seine Vorlieferanten mit der Bitte, die Rechnungen ihm gegenüber zu berichtigen und ihm den Differenzbetrag auszuzahlen. Bei sämtlichen Vorlieferanten war für die Veranlagungszeiträume 2011 bis 2013 in verfahrensrechtlicher Hinsicht bereits Festsetzungsverjährung eingetreten. Daher beriefen sich sämtliche Vorlieferanten hinsichtlich des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf Berichtigung der Rechnungen und Rückzahlung des Differenzbetrags auf die zivilrechtliche Einrede der Verjährung. Die Rechnungen wurden demnach nicht berichtigt und der Kläger erhielt auch den Differenzbetrag der geschuldeten USt. von seinen Vorlieferanten nicht zurück. Der Kläger hatte somit nach nationalem Zivilrecht auf Grund der erhobenen Einrede der Verjährung keine Möglichkeit, seinen Anspruch gegenüber den Vorlieferanten durchzusetzen.

Daraufhin stellte der Kläger im Oktober 2019 einen Antrag beim FA, ihm die nachgeforderte USt und die festgesetzten Zinsen im Wege der Billigkeit gem. §§ 163, 227 AO zu erlassen. Dabei nahm er ausdrücklich Bezug auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile vom 15.3.2007, C-35/05, Reemtsma Cigarettenfabriken; vom 26.4.2017, C-564/15, Farkas; vom 11.4.2019, C-691/17, PORR; vom 10.7.2019, C-273/18, Kursu zeme). Das FA lehnte die Anträge auf Erlass gem. § 163 AO und gem. § 227 AO ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen an, dass der Kläger für die Situation selbst verantwortlich sei. Er hätte bei gesetzestreuem Verhalten die unveränderte Ware nicht mit einem veränderten Steuersatz weiterveräußern dürfen.

Entscheidung
Der EuGH hat entschieden, dass die MwStSystRL sowie der Grundsatz der Neutralität der MwSt und der Effektivitätsgrundsatz verlangen, dass dem Empfänger von Lieferungen von Gegenständen ein Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten MwSt., die er an seine Lieferer gezahlt hat und die diese an die Staatskasse abgeführt haben, einschließlich der damit zusammenhängenden Zinsen, unmittelbar gegen die Steuerbehörde zusteht, wenn er zum einen, ohne dass ihm Betrug, Missbrauch oder Fahrlässigkeit vorgeworfen werden können, diese Erstattung aufgrund der im nationalen Recht vorgesehenen Verjährung nicht mehr von diesen Lieferern fordern kann und obwohl formal die Möglichkeit besteht, dass diese Lieferer, nachdem sie die ursprünglich an den Empfänger dieser Lieferungen gerichteten Rechnungen berichtigt haben, im Nachhinein von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen.

Weiter hat der EuGH entschieden, dass in den Fällen, in denen die von der Steuerbehörde zu Unrecht erhobene MwSt nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet wird, der Schaden, der dadurch entstanden ist, dass der Betrag, der dieser zu Unrecht erhobenen MwSt entspricht, nicht verfügbar ist, durch die Zahlung von Verzugszinsen auszugleichen ist.

Praxishinweis
Der EuGH hat seine bisherige Rechtsprechung zum Direktanspruch bestätigt und diese noch ausgeweitet. Der Direktanspruch kann weder durch das EuGH-Urteil v. 13.1.2022, C-156/20, Zipvit, noch durch eine fehlende Insolvenz der Vorlieferanten (an die zuviel MwSt. gezahlt wurde) noch durch die Gefahr einer doppelten Erstattung durch das FA, die vom FG Münster angeführt worden war, in Frage gestellt werden.

Die Tatsache, dass die Vorlieferanten im Ausgangsverfahren nicht insolvent sind, wirkt sich nicht auf den Direktanspruch aus. Insofern hat der EuGH klargestellt, dass die systematische Verwendung des Adverbs „insbesondere“ in seiner bisherigen Rechtsprechung belegt, dass die Insolvenz der Lieferer nur einen der Fälle darstellt, in denen es unmöglich oder übermäßig schwierig sein kann, die Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten und entrichteten MwSt. zu erhalten.

Schließlich stellt der EuGH in Bezug auf die vom FG Münster angeführte Gefahr, dass durch das FA eine doppelte Erstattung erfolgen könnte, weil die Vorlieferanten die ursprünglich an den Kläger ausgestellten Rechnungen berichtigen könnten, nachdem der Kläger von der Steuerbehörde eine Erstattung (Direktanspruch) erhalten hat, und anschließend von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen könnten, fest, dass eine solche Gefahr unter Umständen wie denen im Ausgangsverfahren grundsätzlich ausgeschlossen sei.

Der EuGH stuft ein solches Verhalten der Vorlieferanten als rechtsmissbräuchlich ein. Wenn also Vorlieferanten ihre an den Kläger ausgestellten Rechnungen berichtigen und Anträge auf Erstattung der zu viel gezahlten Beträge beim FA stellen sollten, nachdem dieses dem Kläger die zu viel an die Vorlieferanten gezahlten MwSt.-Beträge erstattet hat, obwohl sie gegenüber dem Kläger zunächst die Einrede der Verjährung erhoben und damit klar zu erkennen gegeben haben, dass sie an der Berichtigung der Situation kein Interesse haben, hätten, so der EuGH, diese Anträge keinen anderen Zweck als den, einen Steuervorteil zu erlangen, der gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstößt. Eine solche Praxis wäre daher missbräuchlich im Sinne der bisherigen EuGH-Rechtsprechung und könnte nicht zu einer Erstattung an die Vorlieferanten führen, so dass die Gefahr einer doppelten Erstattung ausgeschlossen ist.

Zu dem Verzinsungsanspruch des Klägers hat der EuGH unter Bezugnahme auf seine bisherige Rechtsprechung entschieden, dass der Einzelne, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht Steuern erhoben hat, Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge hat, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind. Darunter fallen auch die Einbußen aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen infolge der vorzeitigen Fälligkeit der Steuer. Vorliegend könnte, so der EuGH, nur die Durchführung des Urteils des FG Münster v. 2.7.2019, mit dem der Vorsteuerabzug des Klägers von 19 % auf 7 % herabgesetzt wurde, zu einer wirtschaftlichen Belastung des Klägers führen, deren Höhe der Differenz zwischen dem Regelsatz und dem ermäßigten Satz der MwSt. entspricht. Sollte der Kläger den Betrag, der der Verringerung seines ursprünglichen Abzugs entspricht, tatsächlich bereits an das FA gezahlt haben, ist ihm somit ein finanzieller Schaden entstanden, da er nicht über diesen Betrag verfügen kann. Wenn die vom FA zu Unrecht erhobene MwSt nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet wird, müsste dieser Schaden demnach, durch die Zahlung von Verzugszinsen ausgeglichen werden. Was die Angemessenheit der Frist betrifft, erklärt der EuGH nicht. Mangels einer entsprechenden Vorschrift in der MwStSystRL dürften die Verzinsungsmodalitäten (etwaige Karenzzeit, Zinssatz) nach wie vor Sache der EU-Mitgliedstaaten sein.

Das EuGH-Urteil legt nahe, dass Berichtigungen von Rechnungen mit unrichtigem Steuerausausweis nach § 14c Abs. 1 UStG unzulässig, weil rechtsmissbräuchlich, sind, wenn der Rechnungsempfänger zuvor einen Direktanspruch gegenüber dem Finanzamt geltend machen konnte. Zugleich bestätigt das EuGH-Urteil insbesondere die Entscheidung des BFH v. 16.5.2018, XI R 28/16, BStBl II 2022, 570. Danach erfordert die wirksame Berichtigung eines Steuerbetrags nach § 14c Abs. 1 Satz 2, § 17 Abs. 1 UStG grundsätzlich, dass der Unternehmer die vereinnahmte USt. an den Leistungsempfänger zurückgezahlt hat. Art. 203 MwStSystRL setzt bei der Rechnungsberichtigung zwar keine Rückzahlung des Umsatzsteuerbetrages an den Leistungsempfänger voraus. Es ist nach der BFH-Rechtsprechung einem Mitgliedstaat unionsrechtlich jedoch nicht verwehrt, die Berichtigung der MwSt auch davon abhängig zu machen, dass der Aussteller der fraglichen Rechnung dem Empfänger der Dienstleistungen die zu Unrecht gezahlte Steuer erstattet.

Nach Ergehen des vorliegenden EuGH-Urteils dürften nicht zuletzt insbesondere die o.g. Randziffern 10 bis 13 des BMF-Schreibens v. 12.4.2022, BStBl II 2022, 652, zu den Voraussetzungen des Direktanspruchs nicht mehr haltbar sein.

Link:

Rechtssache C‑453/22

Quelle:

Europäischer Gerichtshof

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