EuGH zum Vorsteueranzug bei einem Verkauf, der von einer als nicht existent angesehenen Einrichtung durchgeführt wird

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 22.10.2015, C-277/14, PPUH Stehcemp sp. J. Florian Stefanek, Janina Stefanek, Jarosław Stefanek, Recht auf Vorsteuerabzug bzw. Versagung

Praxisproblem

Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG ist die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für das Unternehmen des Leistungsempfängers ausgeführt worden sind, als Vorsteuer abziehbar. In einem polnischen Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH war fraglich, ob von einer Lieferung von Gegenständen ausgegangen werden kann, wenn (bei ansonsten für den Vorsteuerabzug gegebenen Voraussetzungen d.h. tatsächlicher Eingangsumsatz, der für besteuerte Zwecke verwendet wird und Vorliegen einer Rechnung über den Eingangsumsatz) die liefernde Person nicht existent ist und ob dem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug aus Rechnungen eines nicht existenten Ausstellers verwehrt werden kann.

Sachverhalt

Im Jahr 2004 tätigte die Klägerin mehrere Einkäufe von Dieselkraftstoff, den sie im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit verwendete. Die Rechnungen über diese Kraftstoffeinkäufe wurden durch eine Firma F ausgestellt, aus denen die Klägerin den Vorsteuerabzug geltend machte. Die polnische Finanzbehörde versagte den Vorsteuerabzug, weil die Rechnungen über die Kraftstoffeinkäufe von einem nicht existenten Wirtschaftsteilnehmer ausgestellt worden seien.

Nach Ansicht des Vorlagegerichts kann der gute Glaube des Steuerpflichtigen das Recht zum Vorsteuerabzug nicht eröffnen, wenn die materiellen Voraussetzungen dafür nicht erfüllt sind. Insbesondere stellte sich das vorlegende Gericht die Frage, ob ein Erwerb von Gegenständen als Lieferung von Gegenständen eingestuft werden kann, wenn die Rechnungen über diesen Umsatz einen nicht existenten Wirtschaftsteilnehmer ausweisen und es unmöglich ist, die Identität des tatsächlichen Lieferers der in Rede stehenden Gegenstände zu bestimmen. Ein nicht existenter Wirtschaftsteilnehmer könne weder die Befugnis übertragen, über die Waren wie ein Eigentümer zu verfügen, noch eine Zahlung entgegennehmen. Unter diesen Umständen verfügten die Finanzbehörden auch nicht über eine fällige Steuerforderung, sodass keine geschuldete Steuer vorliege.

Entscheidung

Der EuGH hat, ausgehend von dem unstreitigen Sachverhalt, dass die Klägerin die Kraftstoffe, die auf den F ausgestellten Rechnungen ausgewiesen waren, tatsächlich erhalten und bezahlt hatte und dass sie diese Gegenstände auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für Zwecke ihrer besteuerten Umsätze verwendet wurden, entschieden, dass das Kriterium der Existenz des Lieferers oder seiner Berechtigung zur Ausstellung von Rechnungen nicht zu den materiell-rechtlichen Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug gehört. Der Lieferer müsse nur Unternehmer sein. Dies erscheine im Ausgangsfall nicht ausgeschlossen. Diese Schlussfolgerung sei auch durch den vom Vorlagegericht hervorgehobenen Umstand, wonach der heruntergekommene Zustand des Gebäudes, in dem sich der Gesellschaftssitz von F befinde, keinerlei wirtschaftliche Tätigkeit gestatte, nicht in Frage gestellt. Eine solche Feststellung schließe nicht aus, dass diese Tätigkeit an anderen Orten als dem Gesellschaftssitz ausgeführt wurde. Der EuGH verweist insofern auf seine frühere Rechtsprechung. Insbesondere wenn die wirtschaftliche Tätigkeit aus Lieferungen von Gegenständen besteht, die im Rahmen eines Reihengeschäfts bewirkt werden, kann sich der erste Erwerber und Weiterverkäufer dieser Gegenstände darauf beschränken, dem ersten Verkäufer die Anweisung zu geben, die betreffenden Gegenstände direkt zum zweiten Erwerber zu transportieren (vgl. EuGH-Beschlüsse V-563/11, Forvards V, C 563/11, und C-33/13, Jagiełło), ohne notwendigerweise selbst über die Mittel zur Lagerung und zum Transport zu verfügen, die unabdingbar sind, um die Lieferung zu bewirken.

Im Übrigen wiederholt der EuGH seine frühere Rechtsprechung zu den Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs im Zusammenhang mit möglichen Betrugs- oder Hinterziehungsfällen. Insbesondere verweist er nochmals auf folgende Grundsätze:

  • Der Vorsteuerabzug ist zu versagen, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird.
  • Das ist nicht nur der Fall, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Steuerhinterziehung begeht, sondern auch, wenn ein Steuerpflichtiger wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war. Unter solchen Umständen ist der betreffende Steuerpflichtige für die Zwecke der MwStSystRL als an der Hinterziehung Beteiligter anzusehen, und zwar unabhängig davon, ob er im Rahmen seiner besteuerten Ausgangsumsätze aus dem Weiterverkauf der Gegenstände oder der Verwendung der Dienstleistungen einen Gewinn erzielt.
  • Wenn jedoch materiellen und formellen Voraussetzungen für die Entstehung und die Ausübung des Vorsteuerabzugs erfüllt sind, ist es mit der MwStSystRL nicht vereinbar, einen Steuerpflichtigen, der weder wusste noch wissen konnte, dass der betreffende Umsatz in eine vom Lieferer begangene Steuerhinterziehung einbezogen war oder dass in der Lieferkette bei einem anderen Umsatz, der dem vom Steuerpflichtigen getätigten Umsatz vorausgeht oder nachfolgt, Mehrwertsteuer hinterzogen wurde, durch die Versagung des Vorsteuerabzugs zu sanktionieren.
  • Es ist Sache der nationalen Steuerverwaltung, die Steuerhinterziehungen oder Unregelmäßigkeiten seitens des Ausstellers der Rechnung festgestellt hat, aufgrund objektiver Anhaltspunkte und ohne vom Rechnungsempfänger ihm nicht obliegende Überprüfungen zu fordern, darzulegen, dass der Rechnungsempfänger wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Vorsteuerabzugs geltend gemachte Umsatz in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war.
  • Welche Maßnahmen im konkreten Fall vernünftigerweise von einem Steuerpflichtigen, der den Vorsteuerabzug ausüben möchte, verlangt werden können, um sicherzustellen, dass seine Umsätze nicht in einen von einem Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden Umsatzstufe begangenen Betrug einbezogen sind, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen ab.
  • Zwar kann der Unternehmer bei Vorliegen von Anhaltspunkten für Unregelmäßigkeiten oder Steuerhinterziehung dazu verpflichtet sein, über einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, von dem er Lieferungen oder Dienstleistungen zu beziehen beabsichtigt, Auskünfte einzuholen, um sich von dessen Zuverlässigkeit zu überzeugen. Die nationale Steuerverwaltung kann jedoch von dem Unternehmer nicht generell verlangen, zum einen zu prüfen, ob der Aussteller der Rechnung über eine Lieferung, für die der Vorsteuerabzug geltend gemacht wird, über die fraglichen Gegenstände verfügte und sie liefern konnte und seinen Verpflichtungen hinsichtlich der Erklärung und Abführung der Mehrwertsteuer nachgekommen ist, um sich zu vergewissern, dass auf der Ebene der Wirtschaftsteilnehmer einer vorhergehenden Umsatzstufe keine Unregelmäßigkeiten und Steuerhinterziehung vorliegen, oder zum anderen entsprechende Unterlagen vorzulegen.

Praxishinweis

Zu den für Zwecke des Vorsteuerabzugs zulässigen Nachweispflichten des Steuerpflichtigen in Fällen, in denen offenbar nicht ermittelt werden kann, ob bestimmte Leistungen tatsächlich erbracht wurden und von wem diese Leistungen erbracht wurden, sowie zur Frage der Versagung des Vorsteuerabzugs hatte sich der EuGH bereits mehrfach geäußert (vgl. insbesondere Urt. v. 13.02.2014, C-18/13, Maks Pen). Darin verweist der EuGH insbesondere auf die Zuständigkeit der nationalen Gerichte im Hinblick auf die Beweiswürdigung gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts und den Spielraum der Mitgliedsstaaten bei der Festlegung der Nachweispflichten des Steuerpflichtigen.

Der EuGH ist im vorliegenden Verfahren zwar nicht über seine bisherigen Rechtsprechungsgrundsätze hinausgegangen. Die umfangreiche Auflistung seiner bisherigen Entscheidungsgrundsätze legt aber nahe, dass er bekräftigen wollte, dass die Beweislast für die Versagung des Vorsteuerabzugs bei ansonsten gegebenen materiell-rechtlichen Voraussetzungen auf Seiten der Finanzverwaltung und grundsätzlich nicht auf Seiten des Steuerpflichtigen liegt. Die Finanzverwaltung muss ggf. beweisen, dass der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer wusste oder hätte wissen können, dass der Eingangsumsatz, aus dem der Vorsteuerabzug geltend gemacht wird, betrugsbehaftet ist. Der Umfang und die Verhältnismäßigkeit der Mitwirkungspflicht des Unternehmers, einen Steuerbetrugsverdacht zu entkräften, hängen von den jeweiligen Einzelumständen ab.