BFH zu den Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug

Anmerkung zu: BFH, Urt. v. 22.07.2015, V R 23/14; kein Gutglaubensschutz an das Vorliegen der Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs im Festsetzungsverfahren

Praxisproblem

Das Recht auf Vorsteuerabzug setzt neben den sonstigen Anforderungen als formelle Ausübungsvoraussetzung gem. § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG den Besitz einer Rechnung voraus, die alle erforderlichen Angaben enthält. Der Unternehmer, der die Lieferung oder sonstige Leistung ausgeführt hat, muss in der Rechnung (Abrechnungspapier) grundsätzlich mit seinem wirklichen Namen bzw. mit der wirklichen Firma angegeben sein (vgl. auch § 31 Abs. 2 UStDV). Bei der Verwendung eines unzutreffenden und ungenauen Namens (z.B. Scheinname oder Scheinfirma) kann der Vorsteuerabzug bisher ausnahmsweise zugelassen werden, wenn der tatsächlich leistende Unternehmer eindeutig und leicht nachprüfbar aus dem Abrechnungspapier ersichtlich ist. Diese Ausnahmekriterien sind eng auszulegen (vgl. Abschn. 15.2a Abs. 2 UStAE).

Der BFH hat in seinem Urteil v. 22.07.2015, V R 23/14 die Anforderungen an eine zutreffende Bezeichnung des leistenden Unternehmers in der Rechnung (vollständiger Name und Anschrift) verschärft und sich zu den Voraussetzungen eines etwaigen Gutglaubensschutzes des Leistungsempfängers geäußert (u.a. auch zu der Frage, ob Gutglaubensschutz im Festsetzungsverfahren oder Billigkeitsverfahren in Betracht kommt).

Sachverhalt

Das Finanzamt hatte einer GmbH, die Fahrzeuge innergemeinschaftlich lieferte, den Vorsteuerabzug in den Streitjahren 2007 und 2008 aus einigen Eingangsrechnungen versagt. Bei dem Rechnungsaussteller habe es sich um eine „Scheinfirma“ gehandelt habe, die unter ihrer Rechnungsanschrift keinen Sitz gehabt habe.

Das FG hatte die Klage abgewiesen; der Vorsteuerabzug aus den Rechnungen des Ausstellers sei zu versagen, weil die Rechnungen nicht die nach § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG erforderliche zutreffende vollständige Anschrift des leistenden Unternehmers enthalten hätten. Bei der in den Rechnungen angegebenen Anschrift habe es sich um einen Briefkastensitz gehandelt, dessen Angabe die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG nicht erfülle. Unter der betreffenden Anschrift sei der Rechnungsaussteller lediglich postalisch erreichbar gewesen. Es komme auch nicht darauf an, ob die GmbH auf die Richtigkeit der in den Rechnungen angegebenen Anschrift habe vertrauen dürfen. § 15 UStG sehe den Vertrauensschutz an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nicht vor, weshalb Vertrauensschutzgesichtspunkte nicht bei der Steuerfestsetzung, sondern ggf. nur im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme gem. §§ 163, 227 AO berücksichtigt werden könnten.

Entscheidung

Der BFH hat die Revision zurückgewiesen. Fehlen die für den Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG erforderlichen Rechnungsangaben oder sind sie unzutreffend, besteht für den Leistungsempfänger kein Anspruch auf Vorsteuerabzug. Der BFH führt seine ständige Rechtsprechung auch in folgendem Punkt fort: Das Merkmal „vollständige Anschrift“ (des leistenden Unternehmers) in § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG erfüllt nur die Angabe der zutreffenden Anschrift des leistenden Unternehmers, unter der er seine wirtschaftlichen Aktivitäten entfaltet. Denn sowohl Sinn und Zweck der Regelung in § 15 Abs. 1, § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG als auch das Prinzip des Sofortabzugs der Vorsteuer gebieten es, dass der Finanzverwaltung anhand der Rechnung eine eindeutige und leichte Nachprüfbarkeit des Tatbestandsmerkmals der Leistung eines anderen Unternehmers ermöglicht wird. Deshalb ist der Abzug der in der Rechnung einer GmbH ausgewiesenen Umsatzsteuer nur möglich, wenn der in der Rechnung angegebene Sitz der GmbH bei Ausführung der Leistung und bei Rechnungsstellung tatsächlich bestanden hat. Der den Vorsteuerabzug begehrende Leistungsempfänger trägt hierfür die Feststellungslast, denn es besteht eine Obliegenheit des Leistungsempfängers, sich über die Richtigkeit der Angaben in der Rechnung zu vergewissern.

Die Angabe einer Anschrift, an der im Zeitpunkt der Rechnungsstellung keinerlei geschäftliche Aktivitäten stattfinden, reicht als zutreffende Anschrift nicht aus. Soweit der BFH im Urteil v. 19.04.2007, V R 48/04, BStBl. II 2009, 315 geäußert hat, ein „Briefkastensitz“ mit nur postalischer Erreichbarkeit könne ausreichen, hält er hieran nicht mehr fest.

Nach den weiteren Entscheidungsgründen sieht § 15 UStG den Schutz des guten Glaubens an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen im Festsetzungsverfahren nicht vor. Vertrauensschutz kann aufgrund besonderer Verhältnisse des Einzelfalls nach nationalem Recht nicht im Rahmen der Steuerfestsetzung nach §§ 16, 18 UStG, sondern nur im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme gem. §§ 163, 227 AO gewährt werden. Insoweit bestätigt der BFH seine ständige Rechtsprechung. Macht der Steuerpflichtige Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes im Festsetzungsverfahren geltend, wird die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme gem. § 163 Satz 3 AO regelmäßig mit der Steuerfestsetzung zu verbinden sein. Hieran hält der BFH fest.

Weiter führt der BFH aus (und dies sind neue Entscheidungsgrundsätze), dass die EuGH-Urteile Mahagebén und Dávid v. 21.06.2012, C-80/11 und C-141/11, Maks Pen v. 13.02.2014, C-18/13 und Bonik v. 06.12.2012, C-285/11 keinen Anlass geben, den Vorsteuerabzug trotz des Fehlens einzelner materieller oder formeller Merkmale wegen des guten Glaubens des Leistungsempfängers an deren Vorliegen zu gewähren. Die EuGH-Urteile begrenzen nach Auffassung des BFH  die Verfahrensautonomie Deutschlands nicht und zwingen nicht dazu, Gutglaubensschutzgesichtspunkte im Festsetzungsverfahren zu berücksichtigen.

Die genannten EuGH-Urteile zielen nach Auffassung des BFH nicht darauf ab, ein nicht vorliegendes Tatbestandsmerkmal des Vorsteuerabzugs durch den guten Glauben des Leistungsempfängers an dessen Vorliegen zu ersetzen. Denn in den vom EuGH in den Entscheidungen Mahagebén und Dávid, Maks Pen und Bonik beurteilten Sachverhalten habe aufgrund der Vorlageentscheidungen festgestanden, dass die nach der MwStSystRL vorgesehenen materiellen und formellen Voraussetzungen für die Entstehung und die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt gewesen seien. Liegen die materiellen und formellen Voraussetzungen der Berechtigung zum Vorsteuerabzug aber vor, gibt es für Vertrauensschutzgesichtspunkte keinen Anwendungsbereich. Diese können nach der vorliegenden BFH-Entscheidung erst zum Tragen kommen, wenn eine oder mehrere Voraussetzungen des Rechts auf Vorsteuerabzug fehlen, der Steuerpflichtige aber gutgläubig von deren Vorliegen ausging und ausgehen konnte.

Praxishinweis

Das Merkmal „vollständige Anschrift“ in einer Rechnung gem. § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG erfüllt nur die Angabe der zutreffenden Anschrift des leistenden Unternehmers, unter der er seine wirtschaftlichen Aktivitäten entfaltet. Die Angabe einer Wohnanschrift, unter der der leistende Unternehmer nicht tätig ist, reicht somit nicht aus. Der BFH gewährt auch keinen Gutglaubensschutz in Rechnungsangaben.

Sind Tatbestandsmerkmale des Vorsteuerabzugs nicht erfüllt, kann dieser im Festsetzungsverfahren auch dann nicht gewährt werden, wenn der Leistungsempfänger hinsichtlich des Vorliegens dieser Merkmale gutgläubig war. Die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme nach §§ 163, 227 AO ist vom Finanzamt dann regelmäßig mit der Steuerfestsetzung zu verbinden, wenn der Steuerpflichtige bereits im Festsetzungsverfahren Vertrauensgesichtspunkte geltend macht und den Vorsteuerabzug auch im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme begehrt. Wird ein auf Vertrauensgesichtspunkte gestützter Billigkeitsantrag zur Gewährung eines Vorsteuerabzugs erst in der Einspruchsbegründung und damit nach Bekanntgabe der Steuerfestsetzung gestellt, kann das Finanzamt beide Verfahren nicht verbinden. Somit sollten etwaige Vertrauensschutzgesichtspunkte in jedem Fall bereits im Steuerfestsetzungsverfahren geltend gemacht werden und nicht ein Billigkeitsverfahren abgewartet werden.

Abweichend dazu hat kürzlich das FG Köln entschieden und angesichts der globalisierten und technisierten Welt den Schwerpunkt für die Rechnungsangabe in der postalischen Erreichbarkeit gesehen. Die Revision gegen dieses Verfahren ist beim BFH anhängig.