EuGH zum Tatbestandsmerkmal der Selbstständigkeit

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 29.09.2015, C-276/14, Gmina Wroclaw; Wirtschaftliche Tätigkeiten einer Organisationseinheit der Gemeinde, die ihr nicht im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen

Praxisproblem

Die Gebietskörperschaften Bund und Länder können für einzelne Organisationseinheiten (z.B. Ressorts, Behörden und Ämter) eine USt-IdNr. erhalten (vgl. Abschnitt 1a.1 Abs. 3 UStAE). Ist eine solche Organisationseinheit insgesamt nur hoheitlich tätig und hat sie bislang keine USt-IdNr. erhalten, weil sie keinen innergemeinschaftlichen Erwerb nach § 1a UStG zu besteuern hat, erhält sie – auf Antrag – eine USt-IdNr., wenn sie diese für die Besteuerung der von ihr bezogenen sonstigen Leistungen benötigt, für die der Leistungsort nach § 3a Abs. 2 UStG im Inland liegt (vgl. Abschn. 27a.1 Abs. 3 UStAE). Haben die Gebietskörperschaften Bund und Länder für einzelne Organisationseinheiten (z.B. Ressorts, Behörden und Ämter) von der Vereinfachungsregelung in Abschnitt 27a.1 Abs. 3 Sätze 4 und 5 UStAE Gebrauch gemacht, ist für den einzelnen Leistungsbezug stets die jeweilige der einzelnen Organisationseinheit erteilte USt-IdNr. zu verwenden, unabhängig davon, ob dieser Leistungsbezug für den unternehmerischen Bereich, für den hoheitlichen Bereich oder sowohl für den unternehmerischen als auch für den hoheitlichen Bereich erfolgt. Dies gilt auch dann, wenn die einzelne Organisationseinheit ausschließlich hoheitlich tätig ist und ihr eine USt-IdNr. nur für Zwecke der Umsatzbesteuerung innergemeinschaftlicher Erwerbe erteilt wurde (vgl. Abschn. 3a.2 Abs. 14 UStAE). Diese Verwaltungsregelungen stellen jedoch nicht in Frage, dass unselbstständige Organisationseinheiten öffentlicher Einrichtungen selbst nicht Unternehmer sind.

Das polnische Vorabentscheidungsersuchen betraf eben diese Frage der Auslegung der Art. 9 und 13 MwStSystRL. Streitig war, ob eine Organisationseinheit einer Gemeinde – wobei die Gemeinde selbst (als Klägerin) Steuerpflichtiger i.S.d. Art. 9 MwStSystRL ist – das Tatbestandsmerkmal der „Selbstständigkeit“ erfüllt und somit – neben der Gemeinde – als eigenständiger Steuerpflichtiger anzusehen ist, obwohl sie nicht die in Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL aufgestellte Voraussetzung der Selbstständigkeit (Unabhängigkeit) erfüllt.

Sachverhalt

Die Klägerin war der Auffassung, dass nur die Gemeinde das Kriterium von Art. 15 Abs. 1 und 2 des PL-MwStG hinsichtlich der selbstständigen Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit erfülle, so dass nur die Gemeinde insgesamt für ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten mehrwertsteuerpflichtig sein kann. Die polnische Finanzbehörde meinte in einer Einzelfallauslegung, dass aus der Struktur der Klägerin herausgelöste haushaltsgebundene Einrichtungen, wenn sie nach objektiven Kriterien eine wirtschaftliche Tätigkeit selbstständig ausübten und dabei mehrwertsteuerpflichtige Tätigkeiten bewirken, selbst als Unternehmer anzusehen seien.

Entscheidung

Der EuGH hat seine ständige Rechtsprechung zur Unternehmereigenschaft bestätigt. Die MwStSystRL erkennt der Mehrwertsteuer einen sehr weiten Anwendungsbereich zu. Zum Zweck einer einheitlichen Anwendung der Richtlinie müssen die Begriffe, die diesen Anwendungsbereich definieren, wie die der steuerbaren Umsätze, der Steuerpflichtigen und der wirtschaftlichen Tätigkeiten, unabhängig von Zweck und Ergebnis der betreffenden Umsätze eine autonome und einheitliche Auslegung erfahren. Die MwStSystRL verleiht dem Begriff des Steuerpflichtigen eine weite Definition mit dem Schwerpunkt auf der Selbstständigkeit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in dem Sinne, dass alle natürlichen und juristischen Personen, sowohl öffentliche als auch private, selbst Einrichtungen ohne Rechtspersönlichkeit, die objektiv die Kriterien dieser Bestimmung erfüllen, als Unternehmer gelten. Somit muss eine Einrichtung des öffentlichen Rechts nach Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL eine wirtschaftliche Tätigkeit selbstständig ausüben, damit sie als Unternehmer im Sinne der Richtlinie angesehen werden kann.

Für den vorliegenden Fall war nach den weiteren Entscheidungsgründen bezogen auf eine haushaltsgebundene Einrichtung der Klägerin zu prüfen, ob diese sich bei der Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten in einem Unterordnungsverhältnis zu der Gemeinde, mit der sie verbunden ist, befindet. Dafür musste untersucht werden (insoweit bestätigt der EuGH ebenfalls frühere Rechtsprechung), ob der Betroffene seine Tätigkeiten im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung ausübt, und ob er das mit der Ausübung dieser Tätigkeiten einhergehende wirtschaftliche Risiko trägt. Zur Feststellung der Selbstständigkeit der in Rede stehenden Tätigkeiten hat der EuGH bisher das Fehlen jeglichen hierarchischen Unterordnungsverhältnisses zum Staat der Wirtschaftsteilnehmer, die nicht in die öffentliche Verwaltung eingegliedert waren, berücksichtigt sowie den Umstand, dass sie für eigene Rechnung und in eigener Verantwortung handeln, dass sie die Modalitäten der Ausübung ihrer Arbeit frei regeln und dass sie das Entgelt, das ihr Einkommen darstellt, selbst vereinnahmen. Darüber hinaus stellt der EuGH nunmehr fest, dass für die Beurteilung der Voraussetzung der Selbstständigkeit bei der Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeiten auf Einrichtungen des öffentlichen Rechts und Private dieselben Kriterien anwendbar sein können.

Im vorliegenden Fall führen die haushaltsgebundenen Einheiten die ihnen übertragenen wirtschaftlichen Tätigkeiten im Namen und für Rechnung der Klägerin durch und haften nicht für die durch die Tätigkeiten hervorgerufenen Schäden, da die Klägerin hierfür allein die Verantwortung übernimmt. Die Einrichtungen sind deshalb nicht selbstständig tätig. Somit sind die Klägerin und die ihr angehörenden Einrichtungen zusammen ein Unternehmer.

Praxishinweis

Die deutsche Rechtslage wird von dem Urteil bestätigt. Wirtschaftlich unselbstständige Einheiten einer Gesamteinrichtung sind für sich genommen nicht Unternehmer. Ein Sonderfall ist in Abschn. 2.2 Abs. 7 UStAE geregelt, was im Ergebnis jedoch mit der vorliegenden Entscheidung übereinstimmt. Danach sind regionale Untergliederungen (Landes-, Bezirks-, Ortsverbände) von Großvereinen neben dem Hauptverein selbstständige Unternehmer (mit den entsprechenden sich daraus ergebenden eigenen Verpflichtungen wie z.B. die Abgabe von USt-Erklärungen), wenn sie über eigene satzungsgemäße Organe (Vorstand, Mitgliederversammlung) verfügen und über diese auf Dauer nach außen im eigenen Namen auftreten sowie eine eigene Kassenführung haben. Es ist nicht erforderlich, dass die regionalen Untergliederungen – neben der Satzung des Hauptvereins – noch eine eigene Satzung haben. Zweck, Aufgabe und Organisation der Untergliederungen können sich aus der Satzung des Hauptvereins ergeben.