EuGH zur Strafverfolgungsverjährung

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 08.09.2015, C-105/14, Ivo Taricco u.a.

Praxisproblem

Das Vorabentscheidungsersuchen betraf eine italienische Regelung zur Strafverfolgungsverjährung (Verlängerung der Verjährungsfrist um höchstens ein Viertel nach Verjährungsunterbrechung), die zur Folge hat, dass in einer großen Zahl von Strafverfahren, insbesondere Wirtschaftsstraftaten betreffend, die Verjährung eintritt, bevor ein abschließendes Urteil ergeht. Das vorlegende Gericht wollte wissen, ob die italienischen Verjährungsregelungen im Einklang mit Regelungen des AEUV (Art. 101 - Wettbewerbsschutz, Art. 107 - verbotene Beihilfe, Art. 119 - Grundsatz der gesunden Finanzen) stehen. Im Hinblick auf das Mehrwertsteuerrecht wollte das vorlegende Gericht wissen, ob der italienische Staat durch die Schaffung einer Straffreiheit eine in der MwStSystRL nicht vorgesehene Steuerbefreiung gewährt.

Sachverhalt

Im Ausgangsverfahren ging es um ein betrügerisches sog. Mehrwertsteuer-Karussell mit Champagner-Flaschen. Hinsichtlich eines Teils der gegen die Angeschuldigten eingeleiteten Strafverfahren war bereits Verjährung eingetreten. Für den Rest kann bis Eintritt der Verjährung wegen der Komplexität der Ermittlungen und der Länge des Verfahrens kein endgültiges Urteil ergehen. In Italien ist eine solche Situation wegen der Ausgestaltung des innerstaatlichen Rechts nicht ungewöhnlich. Dieses erlaubte, als sich der Sachverhalt ereignete, eine Verlängerung der Verjährungsfrist um lediglich ein Viertel ihrer Dauer (im vorliegenden Fall insgesamt zwischen sieben und acht Jahre, was im Ausgangsverfahren nicht bis zu einem endgültigen Strafurteil ausreicht). Dies hätte zur Folge, dass die Verdächtigten, denen man vorwirft, einen Mehrwertsteuerbetrug in Höhe von mehreren Millionen Euro begangen zu haben, wegen des Ablaufs der Verjährungsfrist de facto straflos bleiben könnten.

Entscheidung

Der EuGH hat entschieden, dass die EU-Mitgliedstaaten nach Art. 325 AEUV rechtswidrige Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, mit abschreckenden und effektiven Maßnahmen bekämpfen und insbesondere die gleichen Maßnahmen ergreifen müssen wie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen eines Mitgliedstaates richtet. Zudem weist der EuGH darauf hin, dass der Haushalt der Union u.a. durch die Einnahmen finanziert wird, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben, so dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuer und den finanziellen Interessen der Union besteht.

Das Vorlagegericht muss nun prüfen, ob das einschlägige italienische Recht es erlaubt, schwere Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union wirksam und abschreckend zu ahnden. So stünde das italienische Recht nicht mit Art. 325 AEUV in Einklang, wenn das Vorlagegericht zu dem Ergebnis käme, dass eine beträchtliche Anzahl von schweren Betrugsfällen nicht strafrechtlich geahndet werden könnte, weil die italienischen Verjährungsregeln im Allgemeinen das Ergehen endgültiger Gerichtsurteile verhindern. Ebenso stünde das italienische Recht nicht mit Art. 325 AEUV in Einklang, wenn es für Betrugsfälle, die sich gegen die finanziellen Interessen Italiens richten, längere Verjährungsfristen vorsähe als für Betrugsfälle, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten. Dies scheint für den EuGH der Fall zu sein, da im italienischen Recht für Personenzusammenschlüsse zur Begehung von Delikten auf dem Gebiet der Verbrauchsteuern auf Tabakerzeugnisse keine absolute Verjährungsfrist vorgesehen ist.

Für den Fall, dass das italienische Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass ein Verstoß gegen Art. 325 AEUV vorliegt, muss es nach dem Urteil die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleisten, indem es ggf. die entsprechenden Verjährungsregeln des italienischen Rechts unangewendet lassen muss. Art. 325 AEUV hat nach der EuGH-Entscheidung nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zur Folge, dass allein durch sein Inkrafttreten jede entgegenstehende Bestimmung des geltenden nationalen Rechts ohne Weiteres unanwendbar wird.

Praxishinweis

Eine nähere Begründung des Vorlagegerichts zu der Mehrwertsteuer-Frage (ob der Eintritt einer Straffreiheit einer in der MwStSystRL nicht vorgesehenen Steuerbefreiung gleichzusetzen ist) lässt sich dem Urteil des EuGH in der Sachverhaltsdarstellung nicht entnehmen. Der EuGH hat diese Frage auch nicht unmittelbar beantwortet, sondern sie dahingehend interpretiert, dass das Vorlagegericht wissen wollte, ob die nationale Regelung, die nicht darauf hinausläuft, die wirksame Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug im betreffenden Mitgliedstaat in einer Art und Weise zu behindern, die mit der MwStSystRL sowie allgemeiner mit dem Unionsrecht unvereinbar ist. Hierzu jedoch anzumerken, dass bereits nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH das nationale Recht eine Wirksamkeit des Unionsrechts sicherstellen muss (Pflicht zur Erhebung der Mehrwertsteuer und wirksamer Sanktionen). Danach hindert der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgestellte Grundsatz ne bis in idem einen Mitgliedstaat nicht daran, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklärungspflichten im Bereich der Mehrwertsteuer eine steuerliche Sanktion und danach eine strafrechtliche Sanktion zu verhängen, sofern die erste Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter hat, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist (vgl. zu dieser Thematik EuGH, Urt. v. 05.04.2013, C-617/10, Hans Akerberg Fransson).

Der EuGH hat mit dem vorliegenden Urteil seine bisherige Rechtsprechung bestätigt, wonach zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuer durch die Mitgliedstaaten und den finanziellen Interessen der Union ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Folge hieraus ist, dass Mehrwertsteuerbetrug sowohl von Art. 325 AEUV als auch von Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens v. 26.07.1995 aufgrund von Art. K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. EG 1995 Nr. C 316/48 - SFI-Übereinkommen) erfasst wird. Nach Art. 325 AEUV sind die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, rechtswidrige Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, mit abschreckenden und effektiven Maßnahmen zu bekämpfen und insbesondere die gleichen Maßnahmen zu ergreifen wie bei der Bekämpfung von Betrug gegen die eigenen finanziellen Interessen. Gegebenenfalls können auch strafrechtliche Sanktionen erforderlich sein, um bestimmte Fälle von schwerem Mehrwertsteuerbetrug wirksam und abschreckend zu bekämpfen. Die Feststellung, ob eine nationale Vorschrift die Verhängung von wirksamen und abschreckenden Sanktionen auch bei gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteten schweren Betrugsfällen vorsieht, obliegt dem nationalen Gericht. Gegebenenfalls muss das nationale Gericht nationale Rechtsvorschriften unangewendet lassen, wenn diese dazu führen, dass der Mitgliedstaat den sich aus  Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV ergebenden Verpflichtungen andernfalls nicht nachkommt.

Die Vorlagefragen bezogen sich sehr speziell auf die italienische Regelung zur Strafverfolgungsverjährung. Die Verfolgungsverjährung von Steuerstraftaten ist in Deutschland so ausgestaltet, dass in Strafverfahren regelmäßig kein Verjährungseintritt vor Ergehen eines abschließenden Urteils droht.