FG Münster zum Vertrauensschutz bei Nichtanwendbarkeit des Reverse-Charge-Verfahrens bei Bauleistungen (§ 27 Abs. 19 UStG)

Anmerkung zu: FG Münster, Beschl. v. 12.08.2015 15 V 2153/15 U; es ist ernstlich zweifelhaft, ob nach § 176 Abs. 2 AO zu gewährender Vertrauensschutz für erbrachte Bauleistungen gem. § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG ausgeschlossen ist

Praxisproblem

Erbrachte ein Unternehmer Bauleistungen gegenüber einem Bauträger, der eigene Grundstücke zum Zweck des Verkaufs bebaute und außerdem auch selbst Bauleistungen erbrachte, so war nach damaliger Verwaltungsauffassung das Reverse-Charge-Verfahren für die an den Bauträger erbrachten Bauleistungen anzuwenden. Nachdem der BFH die frühere Erlasslage als nicht mit dem Gesetz vereinbar erklärt hatte (BFH, Urt. v. 22.08.2013, V R 37/10), begehren nunmehr zahlreiche Bauträger die im Rahmen des Reverse-Charge-Verfahrens entrichtete Umsatzsteuer vom Finanzamt zurück. Die Finanzverwaltung wendet sich sodann – zur Vermeidung von Steuerausfällen – an den Bauleistenden, der nun – nach Änderung der Rechtsprechung – die Umsatzsteuer nach § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG schuldet. Es stellt sich in diesen Fällen die Frage, ob sich der Bauleistende auf Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO berufen kann, oder ob Vertrauensschutz durch § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG ausgeschlossen ist.

Sachverhalt

Gegenstand des Unternehmens der Antragstellerin ist die Erbringung von Bauleistungen für die Errichtung von Gebäuden. Im Streitjahr 2011 erbrachte die Antragstellerin Bauleistungen an die X KG. Am Kapital der Antragstellerin waren im Streitzeitraum GN zu 75 % und ET zu 25 % als Kommanditisten beteiligt. An der X KG waren im Streitzeitraum GN zu 95 % und KC zu 5 % als Kommanditist beteiligt. In den durch die Antragstellerin gegenüber der X KG ausgestellten Rechnungen heißt es: „Die Rechnung wird ohne Umsatzsteuer erstellt, da die Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger nach § 13b Abs. 1 Nr. 4 UStG übergeht.“

Die Antragstellerin gab mit Eingang beim Antragsgegner am 28.12.2012 die eine Erstattung ausweisende Umsatzsteuererklärung für 2011 ab. In der Erklärung gab sie an, steuerpflichtige Umsätze i.S.d. § 13b Abs. 2 Nr. 2 bis Nr. 4 und Nr. 6 bis Nr. 9 des UStG im Umfang von 1.015.889 € getätigt zu haben, für die der Leistungsempfänger die Umsatzsteuer schulde. Der Antragsgegner stimmte der Umsatzsteuererklärung für 2011 am 13.02.2013 zu.

Beginnend im März 2015 führte der Antragsgegner bei der Antragstellerin eine Umsatzsteuersonderprüfung durch. Der Prüfer traf ausweislich des Berichts über die Umsatzsteuersonderprüfung im Wesentlichen die folgenden Feststellungen: Von den in 2011 erklärten Bauleistungen i.S.d. § 13b Abs. 2 Nr. 4 UStG i.H.v. 1.015.889 € würden 1.006.752,34 € auf Bauleistungen entfallen, die an die X KG erbracht worden seien. Bei der Erteilung der Rechnungen seien sowohl der Leistungsempfänger, die X KG, als auch die Antragstellerin unter Berücksichtigung der im Zeitpunkt der Leistungserbringung geltenden Verwaltungsanweisungen davon ausgegangen, dass der Leistungsempfänger die für die Bauleistung entstandene Umsatzsteuer nach § 13b UStG schulde. Der BFH habe mit Urteil v. 22.08.2013, V R 37/10 entschieden, dass es für die Verlagerung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger darauf ankomme, dass der Leistungsempfänger die an ihn erbrachten Bauleistungen seinerseits zur Erbringung einer derartigen Leistung verwende. Auf den Anteil der vom Leistungsempfänger ausgeführten Bauleistungen i.S.d. § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG an den insgesamt von ihm getätigten Umsätzen komme es entgegen der Ansicht der Finanzverwaltung (vgl. Abschn. 13b.3 Abs. 2 Satz 1 UStAE) nicht an. Der Leistungsempfänger sei dann nicht Steuerschuldner, wenn er Lieferungen erbringe, die unter das Grunderwerbsteuergesetz fallen würden. Bauträger, die eigene Grundstücke zum Zwecke des Verkaufs bebauen würden, würden bloße Grundstückslieferungen ausführen und seien daher für von Dritten bezogene Bauleistungen, die sie für derartige Veräußerungen verwenden würden, nicht Steuerschuldner. Unter Berufung auf das BFH-Urteil v. 22.08.2013, V R 37/10 habe die X KG die Erstattung der betreffend die Bauleistungen entrichteten Umsatzsteuer begehrt. Für die Antragstellerin als Bauleistende bedeute dies, dass sie Steuerschuldnerin gem. § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG sei.

Mit Bescheid vom 01.04.2015 setzte der Antragsgegner, entsprechend den Feststellungen der Umsatzsteuersonderprüfung, die Umsatzsteuer fest. Dagegen legte die Antragstellerin Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung. Zur Begründung führte sie aus, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes vorliege. Der Antragsgegner lehnte den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab. Dagegen begehrte die Antragstellerin gerichtlichen Rechtsschutz.

Entscheidung

Das FG Münster hat entschieden, dass die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Umsatzsteuerbescheids gegeben sind. Nach summarischer Prüfung kann sich die Antragstellerin für das Jahr 2011 auf Vertrauensschutz gem. § 176 Abs. 2 AO berufen. Nach summarischer Prüfung ist außerdem ernstlich zweifelhaft, ob die den Vertrauensschutz ausschließende Vorschrift des § 27 Abs. 19 UStG den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt.

§ 176 Abs. 2 AO bestimmt, dass bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden darf, dass eine allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung, einer obersten Bundes- oder Landesbehörde von einem obersten Gerichtshof des Bundes als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet worden ist. Die betreffende Beurteilung des obersten Gerichtshofs muss dabei zeitlich nach dem Erlass des ursprünglichen, aber vor dem Erlass des Änderungsbescheids erfolgt sein. Der Schutz des § 176 Abs. 2 AO beschränkt sich auf Fälle, in denen im Zeitpunkt der Entscheidung des obersten Gerichtshofs bereits ein Steuerbescheid vorliegt. Unerheblich ist indes, ob die Änderung des Steuerbescheids auf § 164 Abs. 2 AO oder einer anderen Änderungsnorm beruht, da § 176 AO für alle Fälle der Änderung von Steuerbescheiden zu berücksichtigen ist.

Die Finanzverwaltung legte § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG in der im Streitzeitraum 2011 geltenden Fassung zunächst dahingehend aus, dass es für den Wechsel der Steuerschuldnerschaft darauf ankomme, dass der Leistungsempfänger „nachhaltig“ bauwerksbezogene Werklieferungen und sonstige Leistungen erbringe und dabei die Summe dieser Leistungen mehr als 10 % seiner steuerbaren Umsätze betrage, wobei die Finanzverwaltung später präzisiert hat, dass dabei auf den „Weltumsatz“ des Leistungsempfängers abzustellen sei. Der BFH entschied hingegen mit Urteil vom 22.08.2013 V R 37/10, dass § 13b Abs. 2 Satz 2 UStG 2005 (im Wesentlichen gleichlautend zu § 13b Abs. 5 Satz 2 UStG in der im Streitjahr 2011 geltenden Fassung) dahingehend auszulegen sei, dass der Leistungsempfänger nur dann Steuerschuldner sei, wenn er die an ihn erbrachte Werklieferung oder sonstige Leistung mit Bauwerksbezug seinerseits zur Erbringung einer derartigen Leistung verwende. Dies treffe auf Bauträger, die steuerfreie Grundstückslieferungen ausführen würden, nicht zu, so dass diese Vorschrift auf sie nicht anzuwenden sei. Die Voraussetzungen des § 176 Abs. 2 AO liegen vor diesem Hintergrund nach summarischer Prüfung im Streitfall vor. Die Umsatzsteuerfestsetzung für 2011 datiert vom 13.02.2013 (Zustimmung des Antragsgegners zur Umsatzsteuererklärung 2011) und hat sich an der in diesem Zeitpunkt maßgeblichen Erlasslage der Finanzverwaltung orientiert. Im Anschluss, d.h. am 22.08.2013, hat der BFH die Auslegung der Finanzverwaltung als nicht mit geltendem Recht in Einklang stehend bezeichnet. Erst im Anschluss an diese Rechtsprechung ist der Änderungsbescheid, der auf den 01.04.2015 datiert, ergangen, so dass nach summarischer Prüfung § 176 Abs. 2 AO für die vorliegende in diesem einstweiligen Rechtsschutzverfahren allein streitige Umsatzsteuerfestsetzung 2011 eingreift.

Die Anwendung der Vertrauensschutzregelung ist nach summarischer Prüfung auch nicht durch § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG ausgeschlossen. Als Rechtsfolge sieht § 27 Abs. 19 UStG vor, dass dann, wenn Unternehmer und Leistungsempfänger davon ausgegangen sind, dass der Leistungsempfänger die Steuer nach § 13b UStG auf eine vor dem 15.02.2014 erbrachte steuerpflichtige Leistung schuldet, und sich diese Annahme als unrichtig herausstellt, die gegen den leistenden Unternehmer wirkende Steuerfestsetzung zu ändern ist, soweit der Leistungsempfänger die Erstattung der Steuer fordert, die er in der Annahme entrichtet hatte, Steuerschuldner zu sein. Nach Satz 2 der Norm steht § 176 AO der Änderung nicht entgegen.

Nach Auffassung des FG Münster ist ernstlich zweifelhaft, ob die rückwirkende Änderung der Steuerfestsetzung beim leistenden Unternehmer unter Suspendierung des aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz/GG) abgeleiteten Vertrauensschutzes gegen das Verbot der Rückwirkung von Gesetzen verstößt (so ausdrücklich auch FG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 03.06.2015, DStR 2015, 1438).

Eine Rechtsnorm entfaltet „echte Rückwirkung“, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll („Rückbewirkung von Rechtsfolgen“). Das ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig. Da eine Norm erst mit der Verkündung rechtlich existent ist, muss der von einem Gesetz Betroffene bis zu diesem Zeitpunkt, zumindest aber bis zum endgültigen Gesetzesbeschluss, grundsätzlich darauf vertrauen können, dass seine auf geltendes Recht gegründete Rechtsposition nicht durch eine zeitlich rückwirkende Änderung der gesetzlichen Rechtsfolgenanordnung nachteilig verändert wird. Die maßgebliche Rechtsfolge steuerrechtlicher Normen ist dabei das Entstehen der Steuerschuld. Im Sachbereich des Steuerrechts liegt eine echte Rückwirkung daher nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert.

Es spricht viel dafür, dass es sich auch im vorliegenden Fall so verhält. § 27 Abs. 19 UStG greift in die im Zeitpunkt seiner Verkündung bereits entstandene Steuerschuld für 2011 nachträglich ein, sodass eine unzulässige echte Rückwirkung jedenfalls nicht ausgeschlossen erscheint. Darüber hinaus scheint diese Gesetzeslage auch gegen den unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit zu verstoßen, der gebietet, dass Rechtsvorschriften klar und bestimmt sein müssen und dass ihre Anwendung für den Einzelnen voraussehbar sein muss.

Die Entscheidung, ob das Vertrauensschutzkonzept des § 27 Abs. 19 UStG im konkreten Einzelfall den verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben genügt, den Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO auszuschließen, wenn dem Bauleistenden kein Vermögensschaden droht, d.h. wenn er dem Leistungsempfänger die Umsatzsteuer nachberechnen und dem Finanzamt den zivilrechtlichen Anspruch abtreten kann, ist dem Hauptsachverfahren einer insoweit noch zu erhebenden Klage vorbehalten. Insoweit ist im Rahmen dieses einstweiligen Rechtsschutzverfahrens unerheblich, ob dem Leistenden tatsächlich ein Anspruch auf Nachforderung der Umsatzsteuer gegen die X KG zusteht und der Leistende gewillt ist, diesen abzutreten.

Praxishinweis

Mit dem FG Münster hat nun das zweite Finanzgericht (vgl. auch die Entscheidung des FG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 03.06.2015, 5 V 5026/15) im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens entschieden, dass § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG möglicherweise verfassungs- und europarechtlichen Anforderungen nicht genügt. Wichtige Erkenntnis aus dem Beschluss ist zunächst, dass der Vertrauensschutz gem. § 176 Abs. 2 AO nicht vorbehaltlos auf alle „Bauleistungs-Fälle“ anwendbar ist, sondern nur in den Fällen eingreift, in denen vor der Entscheidung des BFH Bescheide zugunsten der Bauleistenden ergangen sind. Mit anderen Worten: Hat der Rechtssuchende keinen ihn begünstigenden Bescheid vor dem 22.08.2013 bzw. dem Veröffentlichungsdatum der BFH-Entscheidung (vgl. Pressemitteilung des BFH v. 27.11.2013) erhalten, kommt es auf den Ausschluss von § 27 Abs. 19 Satz 2 UStG nicht an, da schon kein Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO gewährt wird. Eine weitere Erkenntnis aus der Entscheidung ist, dass die endgültige Entscheidung über die Verfassungsgemäßheit der Vorschrift erst in dem jeweiligen Hauptsacheverfahren getroffen wird. Insofern ist der Sieg des Steuerpflichtigen zunächst nur von möglicherweise vorübergehender Natur. Für das Hauptsacheverfahren wird nämlich noch Folgendes zu berücksichtigen sein: § 176 Abs. 2 AO ist Ausfluss des aus dem Rechtsstaatsprinzip resultierenden Vertrauensschutzkonzepts genauso wie das Verbot der Rückwirkung von Gesetzen. Mit § 27 Abs. 19 Sätze 3 und 4 UStG sollte ein § 176 Abs. 2 AO ersetzendes Vertrauensschutzkonzept zur Anwendung gelangen. Alle für den Fall relevanten Vorschriften bzw. Rechtsinstitute befassen sich also ausschließlich mit schützenswertem Vertrauen. Es sind durchaus Fälle denkbar, in denen Zweifel an schützenswertem Vertrauen aufkommen können. Dies gilt – folgt man dem aktuellen Diskurs in der Literatur – z.B. dann, wenn aufgrund gleichgerichteter wirtschaftlicher Interessen zwischen Bauleistenden und Bauträger (z.B. bei Beteiligungsidentität der Anteilseigner) der Bauleistende überhaupt kein Interesse daran hat, Umsatzsteuer gegenüber dem Bauträger nachzuberechnen. Vor diesem Hintergrund sollte bei der Beantragung der Aussetzung der Vollziehung – mit der einhergehenden Zinsfolge – gut bedacht werden, ob sich der Antragsteller/Kläger im späteren Klageverfahren tatsächlich auf Vertrauensschutz wird berufen können. Die Entscheidungen sind zunächst ein positiver Aspekt in der Frage der „Korrektur/Rückabwicklung“, da viele betroffene Bauleistende nun darauf hoffen dürfen, dass ihnen ggf. Vertrauensschutz nach § 176 AO zuteil wird. Angesichts der teilweise schwierigen Interessen- bzw. Meinungsunterschiede zwischen Bauleistenden und Bauträgern sollte diese Entwicklung Beachtung finden. Allerdings ist das Vorgehen tatsächlich in jedem Einzelfall genau zu beurteilen und abzuwägen. Die Entscheidung in der Hauptsache bleibt mit Spannung abzuwarten. Jeder Betroffene sollte nun seinen Handlungsbedarf und das weitere Vorgehen prüfen.