Anmerkung zu BFH, Urteil vom 22.11.2023, XI R 22/23 (XI R 2/20)

Praxisproblem
Nach bisherigem nationalen Recht findet die Differenzbesteuerung keine Anwendung auf die Lieferungen eines Gegenstands, den der Wiederverkäufer innergemeinschaftlich erworben hat, wenn auf die Lieferung des Gegenstands an den Wiederverkäufer die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen im übrigen Gemeinschaftsgebiet angewendet worden ist (§ 25 a Abs. 7 Nr. 1 a UStG). Eine solche Einschränkung enthält Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL nicht. Nach dieser Vorschrift räumen die Mitgliedstaaten den steuerpflichtigen Wiederverkäufern das Recht ein, die Differenzbesteuerung bei der Lieferung von Kunstgegenständen anzuwenden, die ihnen vom Urheber oder von dessen Rechtsnachfolgern geliefert wurden. Mit Urteil v. 29.11.2018, C-264/17 (Mensing I) hatte der EuGH im Ergebnis entschieden, dass auch bei innergemeinschaftlichen Erwerben, die aus Lieferungen von Urhebern von Kunstwerken resultieren, die Differenzbesteuerung anwendbar ist. Diese Optionsmöglichkeit gilt nicht auch für Sammlungsstücke, weil diese in Art. 316 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL nicht aufgeführt sind.

Nach Ergehen des v.g. EuGH-Urteils ergab sich im gleichen Rechtsstreit die Frage nach der Bestimmung der Bemessungsgrundlage bei der Differenzbesteuerung nach § 25a UStG in Fällen innergemeinschaftlicher Erwerbe von Kunstgegenständen. Mit Urteil v. 13.7.2023, C-180/22 (Mensing II) hatte der EuGH auf Vorabentscheidungsersuchen des BFH im Ergebnis entschieden, dass die Umsatzsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb die zu besteuernde Handelsspanne (Marge) des die Differenzbesteuerung anwendenden Widerverkäufers nicht mindert.

Sachverhalt
Der Kläger ist Kunsthändler. Er betreibt Galerien in mehreren deutschen Städten. Im Laufe des Jahres 2014 (Streitjahr) bezog er auch Kunstgegenstände von Künstlern, die im übrigen Gemeinschaftsgebiet ansässig waren. Diese Lieferungen wurden von den Künstlern in ihren Ansässigkeitsstaaten jeweils als steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferungen behandelt.

Entscheidung
Der BFH hat mit Urteil v. 22.11.2023, XI R 22/23 (XI R 2/20) als Nachfolgentscheidung zu dem EuGH-Urteil 13.7.2023, C-180/22 (Mensing II) entschieden, dass bei der Differenzbesteuerung gemäß § 25a UStG die auf den innergemeinschaftlichen Erwerb entfallende Umsatzsteuer nicht die Bemessungsgrundlage mindert, obwohl dies der Systematik und dem Zweck der Regelung widerspricht. 

Praxishinweis
Der BFH hat noch einmal bestätigt, dass im Lichte des EuGH-Urteils v. 29.11.2018, C-264/17 (Mensing I) § 25a UStG in seiner derzeitigen Fassung nicht mit Unionsrecht vereinbar ist. Die Nichtanwendung der Differenzbesteuerung auf innergemeinschaftliche Lieferungen an einen inländischen Wiederverkäufer ist unionsrechtswidrig. Der Kläger im Ausgangsverfahren darf daher die Differenzbesteuerung in Anspruch nehmen, was die Finanzverwaltung inzwischen auch anerkannt hat.

Der BFH musste in seiner Entscheidung zur Bemessungsgrundlage dem EuGH-Urteil v. 13.7.2023, C-180/22 (Mensing II) folgen. Zunächst ist an diesem EuGH-Urteil erstaunlich, dass der Gerichtshof einfach (ohne nähere Begründung) davon ausgegangen ist, dass die 2. Vorlagefrage zuerst beantwortet werden müsse. Die 2. Vorlagefrage des BFH stand aber gerade unter dem Vorbehalt, dass der EuGH die 1. Vorlagefrage bejaht. Mit dieser 1. Vorlagefrage hat der EuGH sich aber überhaupt nicht mehr befasst.

Der EuGH hat sich bei seiner Entscheidung strikt an den Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen gehalten. Er hat seine ständige Rechtsprechung bestätigt, dass die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts im Licht ihres Zusammenhangs und ihres Zwecks nicht dazu führen darf, dem klaren und unmissverständlichen Wortlaut dieser Bestimmung jede praktische Wirksamkeit zu nehmen. Somit kann der EuGH, wenn sich der Sinn einer Bestimmung des Unionsrechts eindeutig aus ihrem Wortlaut ergibt, nicht von dieser Auslegung abweichen. So lag der Fall für den EuGH hier. 

Der EuGH räumt ein, dass die wörtliche Auslegung der Art. 312 und 315 sowie des Art. 317 Abs. 1 MwStSystRL, worauf im Kern auch die EU-Kommission hingewiesen hatte, zu einer unterschiedlichen steuerlichen Belastung der Lieferungen in einem Mitgliedstaat führt, je nachdem, ob der Kunstgegenstand innergemeinschaftlich erworben wurde, vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer im selben Mitgliedstaat erworben wurde oder aus einem Drittland eingeführt wurde. Diese Sachlage ergibt sich für den EuGH jedoch unmittelbar aus dem Wortlaut der anzuwendenden Vorschriften. Während die Steuer, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb eines später unter Anwendung der Differenzbesteuerung gelieferten Kunstgegenstands entrichtet hat, kein Bestandteil des Einkaufspreises dieses Gegenstands im Sinne von Art. 312 Nr. 2 MwStSystRL ist, wird die Steuer, die ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer in einem Mitgliedstaat anlässlich des Erwerbs eines Kunstgegenstands entrichtet, der später unter Anwendung der Differenzbesteuerung im selben Mitgliedstaat geliefert wird, vom Wiederverkäufer im Allgemeinen unmittelbar an seinen Lieferer gezahlt, der sie nach Art. 193 MwStSystRL grundsätzlich an den Fiskus abzuführen hat; damit fällt sie unter den Begriff „Kaufpreis“ im Sinne von Art. 312 Nr. 2 MwStSystRL. Außerdem sieht Art. 317 Abs. 2 MwStSystRL für die Lieferung von Kunstgegenständen, die der steuerpflichtige Wiederverkäufer selbst eingeführt hat, ausdrücklich vor, dass der für die Berechnung der Differenz zugrunde zu legende Einkaufspreis gleich der Steuerbemessungsgrundlage bei der Einfuhr zuzüglich der für die Einfuhr geschuldeten oder entrichteten Steuer ist. Der EuGH konnte vorliegend - das betont er ausdrücklich - nicht vom klaren und unmissverständlichen Wortlaut dieser Bestimmungen abweichen.

Zu dieser Thematik weist der BFH nunmehr (zutreffend) darauf hin, dass sowohl hinsichtlich der Systematik der Differenzbesteuerung als auch entsprechend dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität die Umsatzsteuer auf den innergemeinschaftlichen Erwerb aus der Bemessungsgrundlage herauszurechnen sein müsste und dadurch die Veräußerung quasi in dieser Höhe nicht zu besteuern wäre. Allerdings konnte der BFH insoweit nicht an dem eindeutigen Urteil des EuGH vorbei entscheiden. Gleichwohl gibt der BFH der Finanzverwaltung den Hinweis, im Streitfall könnte ein Teilerlass aus sachlichen Billigkeitsgründen zur Verhinderung einer Doppelbesteuerung im Sinne einer "Steuer auf die Erwerbsteuer" ermessensgerecht sein.

Der BFH hat die Sache zur erneuten Entscheidung an das Finanzgericht zurückverwiesen. In diesem Zusammenhang macht der BFH darauf aufmerksam, dass der Kläger nunmehr die Möglichkeit hat, bei jedem einzelnen Liefervorgang auf die Differenzbesteuerung zu verzichten (§ 25a Abs. 8 Satz 1 UStG). Dieser Verzicht kann nach herrschender Auffassung bis zur Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung erklärt werden. Auf die Bindungswirkung des § 25a Abs. 2 Satz 2 UStG hat der Verzicht dabei keine Auswirkung.

Es bleibt vorerst abzuwarten, welche Folgen die Finanzverwaltung aus dem vorliegenden BFH-Urteil zieht. Gesetzgeberisch muss § 25a UStG jedenfalls dahingehend angepasst werden, dass auch bei innergemeinschaftlichen Lieferungen von Kunstgegenständen an inländische Wiederverkäufer die Differenzbesteuerung anwendbar ist. In der Praxis dürfte dies jedoch die Ausnahme sein, weil die Erwerbsteuer die Marge nicht mindert und somit bei der Besteuerung nach der Marge Umsatzsteuer auch auf die vorangegangene Erwerbsteuer abzuführen wäre.


Links

BFH, Urteil vom 22.11.2023, XI R 22/23 (XI R 2/20)

EuGH, Urteil v. 29.11.2018, C-264/17 (Mensing I) 

EuGH, Urteil v. 13.7.2023, C-180/22 (Mensing II) 

 

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