Vorsteuer-Vergütungsverfahren: Systematische Zurückweisung unvollständiger Erstattungsanträge unionsrechtswidrig

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 18.11.2020, C-371/19, Kommission/Deutschland

Praxisproblem

Bei der Klage der EU-Kommission gegen Deutschland ging es um das Vorsteuer-Vergütungsverfahren. Die Kommission hatte beantragt, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 170 und 171 MwStSystRL sowie aus Art. 5 der RL 2008/9/EG verstoßen hat, dass sie sich systematisch geweigert hat, in einem Antrag auf Mehrwertsteuer-Erstattung fehlende Angaben nachzufordern und stattdessen den Erstattungsantrag in diesen Fällen unmittelbar abgewiesen hat, wenn solche Angaben nur noch nach der Ausschlussfrist des 30. September nachgereicht werden konnten.

Sachverhalt

Die Kommission begründete ihre Klage wie folgt:

1. Erster Klagegrund — Verstoß gegen den Grundsatz der Mehrwertsteuerneutralität

Deutschland habe gegen den in den Art. 170 und 171 MwStSystRL und Art. 5 RL 2008/9/EG verankerten Grundsatz der Mehrwertsteuerneutralität verstoßen, wonach beim Erwerb von Gegenständen und beim Empfang von Dienstleistungen eine Bereinigung der auf den vorausgegangenen Umsatzstufen entrichteten Mehrwertsteuer zugunsten des Steuerpflichtigen zu erfolgen hat.

Der Grundsatz der umsatzsteuerrechtlichen Neutralität gebiete es, jedem Erstattungsanspruch stattzugeben, dessen materielle Anforderungen erfüllt sind. Bei Zweifeln am Vorliegen der materiellen Erstattungsvoraussetzungen könnten Erstattungsanträge nach Artikel 5 i. V. m. Art. 21 Unterabsatz 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/9 nur abgewiesen werden, wenn Auskunftsersuchen des Erstattungsmitgliedstaates nach Art. 20 dieser Richtlinie erfolglos geblieben sind.

2. Zweiter Klagegrund — Verstoß gegen den Grundsatz der praktischen Wirksamkeit des Mehrwertsteuer-Erstattungsanspruchs

Die von der Bundesrepublik Deutschland vertretene Auslegung des Art. 20 Absatz 1 der Richtlinie 2008/9 behindere die wirksame Ausübung des Mehrwertsteuer-Erstattungs-Anspruchs durch die nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässigen Steuerpflichtigen. Die Verwaltungspraxis der deutschen Steuerbehörden beeinträchtige diese Steuerpflichtigen dadurch in ihren Rechten aus den Art. 170, 171 der Richtlinie 2006/112 und Art. 5 der Richtlinie 2008/9.

Die praktische Wirksamkeit der MwStSystRL und der RL 2008/9/EG erfordere die Durchsetzung materiell bestehender Mehrwertsteuer-Erstattungsansprüche, um dem Neutralitätsgrundsatz weitestgehend gerecht zu werden.

Die Regelungen zielten beim Erwerb von Gegenständen und beim Empfang von Dienstleistungen auf eine vollständige Bereinigung der in den vorausgegangenen Umsatzstufen entrichteten Mehrwertsteuer ab und bezweckten damit auch in Fällen grenzüberschreitender Umsätze, weitgehend gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Steuerpflichtigen zu schaffen. Dabei seien alle in der Richtlinie vorgesehenen und angemessenen Verwaltungsmaßnahmen zu ergreifen, die der Durchsetzung von Mehrwertsteuer-Erstattungsansprüchen dienen.

3. Dritter Klagegrund — Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes

Die systematische Weigerung der Bundesrepublik Deutschland, nach Art. 20 Absatz 1 RL 2008/9/EG zusätzliche Informationen und Belege anzufordern, verstoße gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes. Nach Erhalt der Empfangsbestätigung hinsichtl. des Erstattungsantrags dürfe jeder Steuerpflichtige darauf vertrauen, dass sein Antrag entsprechend der Vorschriften jener Richtlinie bearbeitet werden würde. Geschehe dies nicht, werde sein Vertrauen in eine gesetzmäßige Bearbeitung verletzt.

Entscheidung

Der EuGH hat entschieden, dass Deutschland dadurch gegen Art. 5 der RL 2008/9/EG verstoßen habe, dass Vergütungsanträge abgelehnt wurden, die vor dem 30. September des auf den Erstattungszeitraum folgenden Kalenderjahrs gestellt wurden, denen aber nicht die Kopien der Rechnungen oder der Einfuhrdokumente, die gem. Art. 10 der RL 2008/9 von den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats der Erstattung verlangt werden, beigefügt sind, ohne die Antragsteller zuvor aufzufordern, ihre Anträge durch die – erforderlichenfalls nach diesem Zeitpunkt erfolgende – Vorlage dieser Kopien zu ergänzen oder sachdienliche Informationen vorzulegen, die die Bearbeitung dieser Anträge ermöglichen. Im übrigen (dritter Klagegrund) hat der EuGH die Klage abgewiesen.

Praxishinweis

Nach § 61 Abs. 2 UStDV ist die Vorsteuer-Vergütung binnen neun Monaten nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Vergütungsanspruch entstanden ist, zu beantragen. Der Unternehmer hat die Vergütung selbst zu berechnen. Dem Vergütungsantrag sind die Rechnungen und Einfuhrbelege als eingescannte Originale vollständig beizufügen, wenn das Entgelt für den Umsatz oder die Einfuhr mindestens 1.000,00 EUR, bei Rechnungen über den Bezug von Kraftstoffen mindestens 250,00 EUR beträgt. Bei begründeten Zweifeln an dem Recht auf Vorsteuerabzug in der beantragten Höhe kann das BZSt verlangen, dass die Vorsteuerbeträge durch Vorlage von Rechnungen und Einfuhrbelegen im Original nachgewiesen werden.

Seit November 2014 werden Erstattungsanträge vom BZSt bei fehlenden Belegen oder fehlenden Informationen nicht mehr unmittelbar abgewiesen, sondern die Antragsteller aufgefordert, die Angaben/Belege vor Ablauf der Antragsfrist zu übermitteln. Die bisherige Verwaltungspraxis schloss eine Aufforderung zur Vorlage der zur Vervollständigung der bei den Vorsteuer-Vergütungsanträgen fehlenden Belege oder Informationen in zwei Fällen aus: Wenn der Antragsteller bereits in vorangegangenen Antragsverfahren ausdrücklich auf die Pflicht, bei Überschreitung der v. g. Schwellenwerte zusammen mit dem Antrag die Belege einzureichen, hingewiesen worden ist, und wenn zum Zeitpunkt der Bearbeitung des Erstattungsantrags die Antragsfrist bereits abgelaufen war, weil zu diesem Zeitpunkt die Übermittlung der erforderlichen Informationen oder Belege als verspätet angesehen wurde. Diese Verwaltungspraxis muss nach dem Urteil geändert werden. Anträge auf Vorsteuer-Vergütung, die fristgerecht gestellt wurden, müssen auch dann noch bearbeitet werden, wenn fehlende Belege oder Informationen (auf zuvor ergangene Aufforderung diese nachzureichen) erst nach Ablauf der Antragsfrist eingehen.

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