EuGH zum Ort der Dienstleistung

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 16.10.2014, C-605/12, Welmory sp. zo.o.; zwischenunternehmerische Dienstleistungen, Sitz des Leistungsempfängers in einem anderen Mitgliedstaat, Reverse-Charge-Verfahren, Auslegung von Art. 44 MwStSystRL

Praxisproblem

Bei zwischenunternehmerischen Dienstleistungen (B2B) bestimmt sich der Ort der Dienstleistung seit dem 01.01.2010 gem. Art. 44 MwStSystRL (= § 3a Abs. 2 UStG) nach dem Sitz des Leistungsempfängers. Wird die Dienstleistung jedoch an eine feste Niederlassung (Betriebsstätte) des Empfängers erbracht, ist der Sitz der festen Niederlassung (Betriebsstätte) maßgeblich. Befindet sich die feste Niederlassung des Leistungsempfängers im Mitgliedstaat der Ansässigkeit des leistenden Unternehmers, der Sitz des Leistungsempfängers in einem anderen Mitgliedstaat und wird die Leistung an die feste Niederlassung des Leistungsempfängers erbracht, handelt es sich um eine inländische und nicht um eine grenzüberschreitende Dienstleistung, für die das Reverse-Charge-Verfahren nach Art. 196 MwStSystRL somit nicht zur Anwendung kommt.

Bei dem vorliegenden polnischen Verfahren ging es gerade um den Begriff der festen Niederlassung in Zusammenhang mit der Ortsregel für Dienstleistungen im B2B-Bereich nach Art. 44 MwStSystRL. Die Parteien stritten über den Ort von Dienstleistungen, die aufgrund eines Kooperationsvertrages von der in Polen ansässigen Klägerin an eine in Zypern ansässige Limited-Gesellschaft (LG) erbracht wurden.

Sachverhalt

Im Rahmen des Kooperationsvertrages betrieb die LG in Polen unter einer bestimmten Internetdomäne eine elektronische Handelsplattform, welche von der Klägerin zum Verkauf ihrer Produkte verwendet wurde. Für die Bereitstellung der Plattform zahlte die Klägerin der LG eine Vergütung. Die LG unterhielt in Polen weder eigenes Personal noch eigene Geschäftsräume. Bei den streitgegenständlichen Dienstleistungen, die die Klägerin an die LG erbrachte, handelte es sich um Werbung, Service, Informationsbeschaffung und Datenverarbeitung. Die LG hielt im Streitjahr 2010 eine 100%ige Kapitalbeteiligung an der Klägerin.

Die Klägerin war der Auffassung, dass die streitgegenständlichen Dienstleistungen der Mehrwertsteuerpflicht am Sitz der Leistungsempfängerin LG in Zypern und nicht in Polen der Besteuerung unterliegen.

Die polnischen Steuerbehörden und das vorinstanzliche Gericht vertraten dagegen die Auffassung, dass die LG in Polen eine feste Niederlassung habe und die von der Klägerin erbrachten Dienstleistungen demzufolge in Polen steuerbar seien. Es sei zu berücksichtigen, dass die LG in Polen (als Mitgliedstaat des Verbrauchs) Dienstleistungen an polnische Abnehmer erbringe und die von der Klägerin gestellte technische und personelle Ausstattung verwende (gemeint war hier anscheinend die im Rahmen der streitgegenständlichen Dienstleistungen bereitgestellte Ausstattung). Die Tätigkeitsbereiche der beiden Gesellschaften stellten eine unauflösbare ökonomische Einheit dar. Die Bereithaltung einer personell-sachlichen Infrastruktur im klassischen Sinne sei daher für die Tätigkeit der LG nicht notwendig.

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts war der spezifische Charakter der von der LG in Polen erbrachten Leistungen und die Zusammenarbeit aufgrund des Kooperationsvertrages zu berücksichtigen. Da sich die Tätigkeit der LG auf den Betrieb einer elektronischen Handelsplattform beschränkte, bedürfe es für das Vorliegen einer festen Niederlassung keiner festen personell-sachlichen Infrastruktur im herkömmlichen Sinne. Das Gericht hatte jedoch Zweifel und bat den EuGH um Klärung der Frage, ob für die Besteuerung von Dienstleistungen, die durch eine Gesellschaft A mit Sitz in Polen an eine Gesellschaft B mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat erbracht werden, wenn B bei ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit die Infrastruktur von A nutzt, B am Sitz von A eine feste Niederlassung i.S.d. Art. 44 MwStSystRL habe.

Entscheidung

Der EuGH hat einleitend ausgeführt, dass entgegen der Auffassung einiger Verfahrensbeteiligter allein auf die von dem vorlegenden Gericht gestellte Frage zu antworten sei, die auf die Bestimmung des Ortes der Dienstleistungen abzielte, die von der Klägerin an LG erbracht worden sind. Es gehe um die Auslegung von Art. 44 MwStSystRL, wonach bei der Bestimmung des Ortes einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen nicht mehr auf den Dienstleistungserbringer, sondern auf den Empfänger der Dienstleistung abgestellt wird. Daher stelle sich die Frage, ob die Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung von Art. 9 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie angesichts der durch Art. 44 MwStSystRL eingeführten Änderungen auf diesem Gebiet weiterhin einschlägig sei.

Der EuGH stellt fest, dass der Wortlaut von Art. 44 MwStSystRL dem von Art. 9 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie ähnlich sei. Zudem handele es sich sowohl bei Art. 44 MwStSystRL als auch bei Art. 9 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie um Vorschriften, die den Ort der steuerlichen Anknüpfung bei Dienstleistungen bestimmen und dasselbe Ziel verfolgen, so dass die EuGH-Rechtsprechung zur Auslegung von Art. 9 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie mit den nötigen Abänderungen grundsätzlich auf die Auslegung von Art. 44 MwStSystRL übertragen werden könne.

Sodann wiederholt der EuGH seine ständige Rechtsprechung, die auch für Art. 44 MwStSystRL gelte, zum vorrangigen Anknüpfungspunkt für die Ortsbestimmung einer Dienstleistung. Für Zwecke des Art. 44 MwStSystRL sei dies nach dem Urteil der Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit des Leistungsempfängers. Die feste Niederlassung als Anknüpfungspunkt könne nur als Ausnahme von der allgemeinen Regelung, die auf den Sitzort abstellt, verstanden werden. Nach dem Urteil müsse eine feste Niederlassung auch für Zwecke des Art. 44 MwStSystRL einen hinreichenden Grad an Beständigkeit sowie eine Struktur aufweisen, die es ihr von der personellen und technischen Ausstattung her erlaube, Dienstleistungen, die für den eigenen Bedarf dieser Niederlassung erbracht werden, zu empfangen und dort zu verwenden. Somit müsse die zyprische Gesellschaft LG in Polen zumindest eine Struktur mit einem hinreichenden Grad an Beständigkeit aufweisen, die ihrer personellen und technischen Ausstattung nach in der Lage ist, Dienstleistungen, die von der Klägerin an sie erbracht werden, in Polen für ihre wirtschaftliche Tätigkeit, d.h. den Betrieb des in Rede stehenden elektronischen Auktionssystems sowie die Ausgabe und den Verkauf von „Bids“, zu empfangen und zu verwenden.

Dabei sei nicht der Umstand entscheidend, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit wie die von LG und im Ausgangsverfahren streitige Tätigkeit des Betriebs eines elektronischen Auktionssystems, in dessen Rahmen zum einen der Klägerin eine Internet-Auktionsseite zur Verfügung gestellt wird und zum anderen an die Kunden in Polen „Bids“ ausgegeben und verkauft werden, ausgeübt werden könne, ohne dass eine tatsächliche personelle und sachliche Struktur in Polen erforderlich wäre. Trotz ihres besonderen Charakters erfordere eine solche wirtschaftliche Tätigkeit zumindest eine geeignete Struktur namentlich im Hinblick auf ihre personelle und technische Ausstattung, wie z.B. eine Computerausstattung, Server und entsprechende Computerprogramme. Ob dies der Fall ist, muss das Vorlagegericht entscheiden. Wenn die personelle und technische Ausstattung für die von LG ausgeübte wirtschaftliche Tätigkeit, wie z.B. Server, Software, IT-Dienste sowie das System zum Abschluss von Verträgen mit den Verbrauchern und zum Empfang von deren Zahlungen, sich außerhalb Polens befinden, hätte LG nach dem EuGH-Urteil in Polen keine feste Niederlassung.

Der Umstand, dass die wirtschaftlichen Tätigkeiten der beiden durch einen Kooperationsvertrag verbundenen Gesellschaften eine ökonomische Einheit darstellen und dass ihre Ergebnisse im Wesentlichen Verbrauchern in Polen zugute kommen, ist nach dem Urteil für die Beurteilung der Frage, ob LG über eine feste Niederlassung in Polen verfügt, ohne Belang.

Praxishinweis

Das EuGH-Urteil enthält keine Überraschungen. Nach der bisherigen EuGH-Rechtsprechung setzt eine feste Niederlassung einen zureichenden Mindestbestand an Personal- und Sachmitteln voraus. Daran hat der EuGH auch für Zwecke des Art. 44 MwStSystRL festgehalten. In seinem Urteil vom 20.02.1997, C-260/95, DFDS, in welchem es um die Frage des Orts der Leistung eines Reiseveranstalters ging, der seine Zentrale in Dänemark hatte und Pauschalreisen über eine hundertprozentige Tochtergesellschaft mit Sitz in Großbritannien verkaufte, hatte der EuGH entschieden, dass die Reiseleistungen der dänischen Muttergesellschaft nicht am Ort ihres Sitzes in Dänemark, sondern am Ort der Betriebsstätte in Großbritannien zu versteuern seien. Diese Betrachtungsweise setzte nach dem Urteil voraus, dass die britische Tochtergesellschaft als bloße Hilfsperson der dänischen Muttergesellschaft handelte, die über Personal- und Sachmittel verfügt, die eine feste Niederlassung (Betriebsstätte) i.S.d. Art. 9 Abs. 1 bzw. Art. 26 der 6. EG-Richtlinie kennzeichnen. Damit hatte der EuGH zwar auch eine 100%ige Tochtergesellschaft als feste Niederlassung anerkannt. Dies betraf jedoch einen Fall, in dem die Tochtergesellschaft im Namen und für Rechnung der Muttergesellschaft Leistungen an Endverbraucher erbrachte und selbst über die erforderlichen Personal- und Sachmittel verfügte.

Es erschien im vorliegenden Verfahren – unter Berücksichtigung der bisherigen EuGH-Rechtsprechung – grundsätzlich abwegig, dass ein Dienstleistungsempfänger dadurch eine feste Niederlassung am Sitz des Leistungserbringers begründet, dass er die Infrastruktur des Leistungserbringers nutzt, wenn die Zurverfügungstellung der Infrastruktur gerade Gegenstand der zu beurteilenden Dienstleistungen ist. Aus dem Urteil kann der Schluss gezogen werden, dass auch im Bereich der IT-Branche gilt, dass für das Vorhandensein einer festen Niederlassung in dem betreffenden Mitgliedstaat eine personelle und technische Ausstattung, wie z.B. Server, Software, IT-Dienste usw. vorgehalten werden müssen.

Die Würdigung des konkreten Einzelfalles – unter Nichtbeachtung der kapitalmäßigen Verflechtungen – ist eine Frage der Beweiswürdigung, die der EuGH dem Vorlagegericht überlassen hat.

Für die Definition der festen Niederlassung in Art. 44 MwStSystRL ist die Regelung des Art. 11 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 vom 15.3.2011 (MwStVO) zu beachten. Danach gilt als „feste Niederlassung“ jede Niederlassung mit Ausnahme des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit nach Art. 11 MwStVO, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit sowie eine Struktur aufweist, die es ihr von der personellen und technischen Ausstattung her erlaubt, Dienstleistungen, die für den eigenen Bedarf dieser Niederlassung erbracht werden, zu empfangen und dort zu verwenden. Mit BMF-Schreiben vom 10.06.2011 wurde der UStAE mit Wirkung zum 01.07.2011 an die unmittelbar anzuwendenden Regelungen der Durchführungsverordnung angepasst. Einer inhaltlichen Änderung des Betriebsstätten-Begriffs in Abschn. 3a.1. Abs. 3 UStAE, der dem Begriff der festen Niederlassung entspricht, bedurfte es nicht.

In der Praxis bedarf es jedoch bei grenzüberschreitenden B2B-Dienstleistungen stets der Prüfung, ob die Leistung an den Sitz des Leistungsempfängers oder an eine feste Niederlassung, die sich ggf. in einem anderen Mitgliedstaat als dem Sitzstaat befindet, erbracht wird. Daran können sich unterschiedliche Folgen für die Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens ergeben. Dieses ist zwingend nur dann anzuwenden, wenn der leistende Unternehmer nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem sein Umsatz steuerbar ist.