Vorsteuerabzug in Fällen vermuteter Steuerhinterziehung

Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 9.12.2021, C-154/20 (Kemwater ProChemie s.r.o.)

Praxisproblem

Bei dem tschechischen Vorabentscheidungsersuchen ging es ähnlich wie in der Rechtssache C-281/20 um die Vorsteuerabzugsberechtigung in Fällen von vermuteter Steuerhinterziehung oder Steuermissbrauch.

Sachverhalt


Das Vorlagegericht wollte wissen, ob es mit der MwStSystRL vereinbar ist, wenn die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug davon abhängig gemacht wird, dass der Unternehmer seiner Verpflichtung nachkommt, nachzuweisen, dass der von ihm erhaltene steuerpflichtige Umsatz von einem bestimmten anderen Unternehmer bewirkt worden ist. Falls diese Frage zu bejahen ist und der Unternehmer dieser Nachweispflicht nicht nachkommt, wollte das Vorlagegericht weiter wissen, ob dann das Recht auf Vorsteuerabzug versagt werden kann, ohne dass nachgewiesen wird, dass der Unternehmer wusste oder hätte wissen können, dass er sich durch den Erwerb von Gegenständen oder Dienstleistungen an einer Steuerhinterziehung beteiligt.

Entscheidung


Der EuGH hat entschieden, dass die MwStSystRL dahin auszulegen ist, dass die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug zu versagen ist, ohne dass die Steuerverwaltung nachweisen müsste, dass der Unternehmer eine Mehrwertsteuerhinterziehung begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in eine Hinterziehung einbezogen war, wenn dieser Unternehmer in dem Fall, dass der wahre Lieferer der betreffenden Gegenstände oder der wahre Erbringer der betreffenden Dienstleistungen nicht namhaft gemacht worden ist, nicht nachweist, dass dieser selbst Unternehmer war, sofern unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände und der von dem Unternehmer vorgelegten Informationen die für die Prüfung, ob der wahre Lieferer bzw. Leistungserbringer Unternehmer war, erforderlichen Angaben fehlen.

Praxishinweis


Der EuGH hat seine bisherige Rechtsprechung bestätigt. Die Steuerverwaltung darf sich zum einen nicht auf die Prüfung der Rechnung selbst beschränken. Sie hat auch die vom Unternehmer beigebrachten zusätzlichen Informationen zu berücksichtigen. Zum anderen muss ein Unternehmer, der einen Vorsteuerabzug vornehmen möchte, nachweisen, dass er die hierfür vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt. Die Steuerbehörden können somit vom Unternehmer selbst die Belege verlangen, die ihnen für die Beurteilung der Frage notwendig erscheinen, ob der verlangte Abzug gewährt werden kann. Folglich hat der das Recht auf Vorsteuerabzug ausübende Unternehmer grundsätzlich nachzuweisen, dass der Lieferer der Gegenstände bzw. der Erbringer der Dienstleistungen, für die dieses Recht ausgeübt wird, selbst Unternehmer war. Der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer muss also durch objektive Nachweise belegen, dass ihm Unternehmer auf einer vorausgehenden Umsatzstufe tatsächlich Gegenstände geliefert oder Dienstleistungen erbracht haben, die seinen der MwSt unterliegenden Umsätzen dienten und für die er tatsächlich MwSt entrichtet hat. Diese Nachweise können u. a. Unterlagen im Besitz der Lieferer oder Dienstleistungserbringer umfassen, von denen der Unternehmer die Eingangsumsätze, für die er die MwSt entrichtet hat, bezogen hat. Allerdings kann die Steuerverwaltung bei der Bekämpfung der Mehrwertsteuerhinterziehung von dem Steuerpflichtigen, der sein Recht auf Vorsteuerabzug ausüben möchte, nicht generell verlangen, u. a. zu prüfen, ob der Lieferer der Gegenstände bzw. der Erbringer der Dienstleistungen, für die dieses Recht geltend gemacht wird, Unternehmer ist. Bei der Beweislast hinsichtlich der Frage, ob der Leistende Unternehmer ist, ist zwischen der Feststellung einer materiellen Voraussetzung des Rechts auf Vorsteuerabzug einerseits und der Feststellung einer Hinterziehung der MwSt andererseits zu unterscheiden.

Die Versagung des Vorsteuerabzugs bei einer Beteiligung an einer Steuerhinterziehung entspricht der ständigen Rechtsprechung der nationalen Gerichte und des EuGH. Die Finanzbehörde hat die Beweislast für die Versagung des Vorsteuerabzugs, wenn diese geltend macht, der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer habe die Ware nicht von seinem unmittelbaren Lieferanten (dem Rechnungsaussteller) erhalten.

Der Vorsteuerabzug kann versagt werden, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass er in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht werde. Seine Geltendmachung ist wiederum betrügerisch oder missbräuchlich, wenn der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er bei einem Kauf an einem Mehrwertsteuerbetrug beteiligt ist. Hingegen darf der Unternehmer, der dies weder wusste noch hätte wissen müssen, nicht dahingehend sanktioniert werden, indem ihm das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird. Schließt die Steuerverwaltung aus dem Vorliegen von Steuerhinterziehungen oder Unregelmäßigkeiten seitens des Ausstellers der Rechnung, dass der abgerechnete Umsatz, der als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dient, in Wirklichkeit nicht bewirkt worden ist, muss sie, um dieses Recht versagen zu können, anhand objektiver Umstände nachweisen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der Umsatz in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen ist. Die Finanzbehörde muss dartun, dass ein ungerechtfertigter Steuervorteil vorliegt, von dem der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer oder andere Personen in einer Lieferkette profitiert haben.

Andererseits muss grundsätzlich der Leistungsempfänger nachweisen, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs vorlagen. Danach muss der Unternehmer durch objektive Nachweise belegen, dass ihm andere Unternehmer auf einer vorausgehenden Umsatzstufe tatsächlich Gegenstände geliefert oder Dienstleistungen erbracht haben, die seinen der MwSt unterliegenden Umsätzen dienten und für die er die MwSt tatsächlich entrichtet hat (vgl. EuGH v. 21.11.2018, C-664/16, Vădan). Gelingt dieser Nachweis nicht, kann die Finanzbehörde den Vorsteuerabzug aus materiell-rechtlichen Gründen versagen.

Diese Rechtsprechung reiht sich in die aktuellen Entscheidungen der Fortführung der sog. Missbrauchsrechtsprechung ein und gibt nochmals Anlass über die Frage nachzudenken, wie ein Nichtwissen bewiesen werden kann. Hier hilft ein gutes Umsatzsteuer-Risikomanagement.

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