Vorsteuerabzug, Zeitpunkt der Entstehung des Vorsteuerabzugs bei Leistungen durch einen Ist-Versteuerer an einen anderen Ist-Versteuerer

Anmerkung zu EuGH, Urteil vom 10.2.2022, C-9/20 (Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136)

Praxisproblem

Bei dem Vorabentscheidungsersuchen des FG Hamburg v. 10.12.2019, 1 K 337/17 ging es um den Zeitpunkt des Vorsteuerabzugs bei Leistungen durch einen Ist-Versteuerer. Das FG hatte dem EuGH u.a. folgende Frage gestellt: Steht Art. 167 MwStSysRL einer nationalen Regelung entgegen, nach der das Recht zum Vorsteuerabzug auch dann bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entsteht, wenn der Steueranspruch gegen den Leistenden nach nationalem Recht erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht?

Sachverhalt


Die Beteiligten streiten darum, ob der Vorsteuerabzugsanspruch des Leistungsempfängers nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG bereits mit der Ausführung der Leistung oder erst mit der Entrichtung des Entgelts entsteht, wenn der Leistungserbringer die Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten berechnet (sogenannter Istversteuerer).

Die Klägerin erzielte in den Streitjahren Umsätze mit der Vermietung eines Gewerbegrund-stücks. Die Klägerin hatte dieses Grundstück ihrerseits gemietet. Sowohl die Klägerin als auch ihre Vermieterin hatten wirksam auf die Steuerbefreiung für derartige Vermietungsumsätze verzichtet und somit zur USt optiert. Beiden war von der Finanzverwaltung gemäß § 20 UStG gestattet worden, die Steuer nicht nach vereinbarten Entgelten, sondern nach den vereinnahmten Entgelten zu berechnen.

Ab dem Jahr 2004 wurden die Mietzahlungen der Klägerin teilweise gestundet. Dies hatte zur Folge, dass die Klägerin in den Streitjahren 2013 bis 2016 Zahlungen für die Grundstücksüberlassung in den Jahren 2009 bis 2012 leistete. In den Zahlungen waren jeweils 19 % USt enthalten. Die Klägerin machte ihren Vorsteuerabzugsanspruch – unabhängig von dem Mietzeitraum, für den die Zahlungen bestimmt waren – immer in dem Voranmeldezeitraum bzw. Kalenderjahr geltend, in dem die Zahlung erfolgte.

Das beklagte FA beanstandete dieses Vorgehen und erließ im Anschluss an eine Um-satzsteuer-Sonderprüfung geänderte Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2013 bis 2016. Nach Auffassung des FA war der Vorsteuerabzug bereits mit der Ausführung des Umsatzes – hier der monatsweisen Überlassung des Grundstücks – entstanden und hätte daher jeweils für den entsprechenden Zeitraum geltend gemacht werden müssen.

Nach erfolglosem Einspruch gegen die geänderten Umsatzsteuerfestsetzungen hatte die Klägerin Klage beim FG Hamburg erhoben. Sie machte geltend, dass die angegriffenen Bescheide gegen die MwStSystRL verstießen und die Auffassung des FA, wonach das Vorsteuerabzugsrecht immer schon mit der Ausführung des Umsatzes entstehe, nicht zutreffend sei. Wenn der Leistende seine Steuer nach vereinnahmten Entgelten berechne, entstehe der Vorsteueranspruch des Leistungsempfängers vielmehr erst dann, wenn der Leistungsempfänger das Entgelt entrichtet habe.

Im Hinblick auf das nationale Recht folgte das FG Hamburg der Rechtsauffassung des FA. Das FG hatte jedoch Zweifel, ob die nationale Rechtslage vereinbar mit Art. 167 der MwStSystRL ist. Nach dem Wortlaut dieser Norm entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, „wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht“.

In seiner Vorlage beschäftigte das FG sich mit der Frage, welchen Spielraum die Mitglied-staaten bei der Umsetzung des Art. 167 MwStSystRL haben und ob hinsichtlich der Bedeutung des Vorsteuerabzugs im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem in Fällen der Festsetzungsverjährung der Vorsteuerabzug verwehrt werden kann.

Nach nationalem Recht erwies sich die Auffassung des FA als zutreffend. Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG entsteht das Recht zum Vorsteuerabzug, wenn die Lieferung oder sonstige Leistung ausgeführt worden ist. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, wann der Steueranspruch gegen den Leistungserbringer entsteht. Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob der Leistungserbringer die Umsatzsteuer gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 UStG nach vereinbarten Entgelten berechnet (Soll-Versteuerer) oder ob er sie gemäß § 20 UStG nach vereinnahmten Entgelten berechnet (Ist-Versteuerer). Zwar entsteht der Steueranspruch gegen den Leistungserbringer in den Fällen des § 20 UStG (Ist-Versteuerer) gemäß § 13 Abs. 1 lit. b UStG erst, wenn der Leistungserbringer das Entgelt vereinnahmt. Die Vorschrift des § 20 UStG hat aber keine Auswirkungen auf den Zeitpunkt des Vorsteuerabzugs des Leistungsempfängers.

Von der in Art. 167a MwStSysRL vorgesehenen Möglichkeit, den Vorsteuerabzug bei Ist-Versteuerern von der Entrichtung des Entgelts abhängig zu machen, hat der deutsche Gesetzgeber keinen Gebrauch gemacht. Nach nationalem Recht entsteht der Vorsteueranspruch des Leistungsempfängers somit auch dann schon mit der Ausführung des Umsatzes, wenn der Leistungserbringer ein Ist-Versteuerer ist und das Entgelt noch nicht erhalten hat. Der Leistungsempfänger erwirbt dann einen Vorsteueranspruch, obwohl der Leistungserbringer die entsprechende USt noch nicht schuldet.

Das FG war der Auffassung, aus Art. 167 MwStSysRL könne sich eine abweichende Bewertung ergeben. Nach dieser Vorschrift entsteht der Vorsteueranspruch des Leistungsempfängers erst, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.

Entscheidung


Der EuGH hat entschieden, Art. 167 MwStSystRL ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das Recht auf Vorsteuerabzug bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entsteht, wenn der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer nach einer nationalen Abweichung gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht und dieses noch nicht gezahlt worden ist.

Der EuGH führt zu der Auffassung des FG Hamburg, nach der es sich bei Art. 167 der MwStSystRL, wie sich aus der Protokollerklärung des Rates und der Kommission zu Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 77/388 ergebe, nicht um eine zwingende Vorgabe, sondern lediglich um eine Leitidee handele aus: Eine solche Erklärung kann nicht zur Auslegung abgeleiteten Rechts herangezogen werden, wenn der Inhalt der Erklärung, wie im Ausgangsverfahren, in der fraglichen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden und somit keine rechtliche Bedeutung hat. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden. Hierzu stellt der EuGH zunächst fest, dass der Wortlaut von Art. 167 MwStSystRL klar und unzweideutig ist. Die Vorschrift stellt die allgemeine Regel auf, dass das Recht des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer auf die entsprechende abziehbare Steuer entsteht.

Weiter stellt der EuGH fest, dass nach Art. 63 MwStSystRL Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt eintreten, zu dem die Leistung erbracht wird. Nach Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL können die Mitgliedstaaten jedoch abweichend u. a. von Art. 63 MwStSystRL vorsehen, dass der Steueranspruch für bestimmte Umsätze oder Gruppen von Steuerpflichtigen spätestens bei der Vereinnahmung des Preises entsteht. Da Art. 66 MwStSystRL eine Abweichung von Art. 63 MwStSystRL darstellt, ist Art 66 eng auszulegen. Um zu einer Auslegung zu gelangen, bei der Art. 66 Abs. 1 Buchst. b und Art. 167 MwStSystRL, nach dem das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht, miteinander in Einklang stehen, muss somit in Fällen, in denen der Steueranspruch gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL spätestens bei der Vereinnahmung des Preises entsteht, auch das Recht auf Vorsteuerabzug zum Zeitpunkt der Vereinnahmung des Preises entstehen.

Schließlich führt der EuGH aus, Art. 167a MwStSystRL ist eine fakultative Regelung, die die Mitgliedstaaten vorsehen können und deren Anwendung wiederum zu der Abweichung gehört, die bereits durch Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL vorgesehen ist. Der Zusammenhang zwischen dem Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer und dem Recht des Steuerpflichtigen auf sofortigen Vorsteuerabzug kann daher nur in Fällen des Art. 167a MwStSystRL aufgehoben werden.

Praxishinweis


Der EuGH hat mit seiner Entscheidung die jahrelange deutsche Praxis, dass der Vorsteuerabzug auch dann bereits im Zeitpunkt des Bezugs der Leistung möglich ist, auch wenn der Leistende als Ist-Versteuerer sein Entgelt noch nicht erhalten hat und damit seine Ausgangssteuer noch nicht entstanden ist, entkräftet. Im Vorlagefall waren die an dem Umsatz Beteiligten beide Ist-Versteuerer. Die Entscheidung des EuGH dürfte aber insbesondere auch dann gelten, wenn der Leistungsempfänger ein Soll-Versteuerer ist und die erhaltende Leistung noch nicht bezahlt hat. Sein Vorsteuerabzug entsteht nach der vorliegenden Entscheidung über Art. 167 MwStSystRL erst dann, wenn die Ausgangssteuer des Leistenden entsteht, nämlich zu dem Zeitpunkt, zu dem er seinerseits die Gegenleistung vereinnahmt hat.

Auf den umgekehrten Fall, dass ein Ist-Versteuerer eine Leistung von einem Soll-Versteuerer erhält, hat die EuGH-Entscheidung keinen Einfluss. Insoweit ist das nationale Recht über die fakultative Norm des Art. 167a MwStSystRL, von der Deutschland keinen Gebrauch gemacht hat, weiterhin unionsrechtlich zulässig

Aufgrund des Urteils muss die deutsche Rechtslage zum Vorsteuerabzug bei Leistungsbezügen von einem Ist-Versteuerer angepasst werden. Es besteht für betroffene Unternehmen bereits jetzt Handlungsbedarf. Es muss geprüft werden, wie mit der Änderung umzugehen ist und ob die Berufung auf das nationale Recht oder Vertrauensschutzgesichtspunkte (ggf. § 176 AO – welcher allerdings bei EuGH Urteilen grds. keine Anwendung findet) im nationalen Recht schützen. Im umgekehrten Fall kann auch die Berufung auf das Unionsrecht und die EuGH-Entscheidung dienlich sein.

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