EuGH zur unternehmerischen Mindestnutzung

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 15.09.2016, C-400/15, Landkreis Potsdam-Mittelmark

Praxisproblem

Wird eine Leistung ausschließlich für unternehmerische Tätigkeiten bezogen, ist sie vollständig dem Unternehmen zuzuordnen (Zuordnungsgebot). Bei einer Leistung, die ausschließlich für nichtunternehmerische Tätigkeiten bezogen wird, ist eine Zuordnung zum Unternehmen hingegen ausgeschlossen (Zuordnungsverbot). Erreicht der Umfang der unternehmerischen Verwendung eines einheitlichen Gegenstands nicht mindestens 10 % (unternehmerische Mindestnutzung), greift das Zuordnungsverbot nach § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG. Danach gilt eine Lieferung, die Einfuhr oder der innergemeinschaftliche Erwerb eines Gegenstands als nicht für das Unternehmen ausgeführt, wenn der Unternehmer den Gegenstand zu weniger als 10 % für seine unternehmerische Tätigkeit verwendet (unternehmerische Mindestnutzung).

Bei dem Vorabentscheidungsersuchen des BFH v. 16.06.2015, XI R 15/13 ging es um die Frage, ob eine Einrichtung des öffentlichen Rechts (im Ausgangsverfahren ein Landkreis), die mit einem sog. „Kreisstraßenbetrieb“ einen Betrieb gewerblicher Art unterhielt, für die Anschaffung von Geräten (Arbeitsmaschinen, Nutzfahrzeuge) den Vorsteuerabzug geltend machen konnte, obwohl die angeschafften Geräte zu weniger als 10 % (hier zu 2,65 %) für unternehmerische Zwecke (des Betriebs gewerblicher Art) und zu 97,35 % für die hoheitlichen Zwecke der Einrichtung verwendet wurden.

Sachverhalt

Die Klägerin war der Auffassung, die 10-Prozent-Regelung in § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG sei in den Fällen unionsrechtlich (Entscheidung des Rates 2004/817/EG vom 19.11.2004, ABl. EU 2004 Nr. L 357/33) ohne Rechtsgrundlage, in denen einen Gegenstand nicht zu mehr als 90 % für unternehmensfremde Tätigkeiten (also z.B. für den privaten Bedarf des Unternehmens, vgl. Abschn. 2.3 Abs. 1a Satz 2 UStAE), sondern – wie im Streitfall – zu mehr als 90 % für nichtwirtschaftliche Tätigkeiten im engeren Sinne (hier hoheitliche Tätigkeiten einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, vgl. Abschn. 2.3 Abs. 1a Satz 4 UStAE) verwendet wird. Deutschland sei zu der 10-Prozent-Regelung nur für die Fälle einer typisch gemischten (unternehmerischen und unternehmensfremden) Verwendung der Gegenstände ermächtigt worden, nicht aber in den Fällen, in denen ein Gegenstand sowohl für unternehmerische als auch für nichtwirtschaftliche Tätigkeiten im engeren Sinne genutzt werde. Die Klägerin war der Auffassung, ihr stünde der Vorsteuerabzug entsprechend dem unternehmerischen Nutzungsanteil zu, obwohl dieser kleiner als 10 % sei. Der EuGH muss entscheiden, ob die Ratsentscheidung entsprechend ihrem Wortlaut nur für die Fälle der typisch gemischten (teils unternehmerisch, teils unternehmensfremd) oder in allen Fällen einer Verwendung sowohl für unternehmerische als auch nichtunternehmerische Zwecke anwendbar war.

Entscheidung

Der EuGH hat unter Bezugnahme auf seine Entscheidung v. 12.09.2009, C-515/07, VNLTO wiederholt, dass mit Art. 6 Abs. 2 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie keine Regel eingeführt werden sollte, nach der Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich der MwSt fallen (nichtwirtschaftliche Tätigkeiten), als Tätigkeiten betrachtet werden können, die für „unternehmensfremde Zwecke“ im Sinne dieser Vorschrift ausgeführt werden. Eine solche Auslegung würde Art. 2 Nr. 1 der 6. EG-Richtlinie jeden Sinn nehmen. Demzufolge und weil das EuGH-Urteil v. 12.02.2009 (wie alle Urteile) mit Rückwirkung ergangen ist (d.h. das Urteil gilt vom Inkrafttreten der ausgelegten Bestimmung an), hat der EuGH weiter entschieden, dass es unzulässig ist, den Begriff „unternehmensfremde Zwecke“ für die Zeit vor dem EuGH-Urteil v. 12.02.2009, aus dem sich ergibt, dass dieser Begriff nicht die Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen und nicht wirtschaftlichen Tätigkeiten eines Unternehmers, sondern die Unterscheidung zwischen unternehmerischen und privaten Tätigkeiten betrifft, anders auszulegen.

Weil zusätzlich der Begriff „unternehmensfremde Zwecke“ i.S.v. Art. 1 der Ratsentscheidung 2004/817 genauso wie in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie ausgelegt werden muss, kommt der EuGH insgesamt zu dem Ergebnis, dass Art. 1 der Ratsentscheidung 2004/817 nicht für den Fall gilt, dass ein Unternehmen Gegenstände oder Dienstleistungen erwirbt, die es zu mehr als 90 % für nichtwirtschaftliche – nicht in den Anwendungsbereich der MwSt fallende – Tätigkeiten nutzt.

Praxishinweis

Der EuGH hatte mit Urteil 12.02.2009, C-515/07, VNLTO entschieden, dass die Tätigkeit einer Organisation im allgemeinen Interesse ihrer Mitglieder keine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt. Der Tatbestand einer unentgeltlichen Wertabgabe nach Art. 6 Abs. 2 Buchst. a der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 26 Abs. 1 MwStSystRL) sei jedoch nicht eröffnet. Voraussetzung hierfür sei die Verwendung eines Gegenstandes für „unternehmensfremde Zwecke“. Seit der VNLTO-Entscheidung des EuGH wird zwischen drei verschiedenen Möglichkeiten der Nutzung eines Gegenstands unterschieden: unternehmerische Tätigkeiten, d.h. entgeltliche und entweder steuerpflichtige oder steuerfreie oder ggf. auch (nach dem Territorialitätsprinzip) nicht steuerbare Umsätze, unternehmensfremde Tätigkeiten in dem Sinne, dass ein dem Unternehmen zugeordneter Gegenstand auch für unternehmensfremde, z.B. private Zwecke des Unternehmers genutzt wird, sowie eine weder unternehmerische noch unternehmensfremde Tätigkeit, also nichtwirtschaftliche Tätigkeit, die keine unternehmensfremde Tätigkeit darstellt, z.B. der Hoheitsbereich einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, der ideelle Bereich eines Vereins oder die Betätigung einer juristischen Person des Privatrechts als reine Holdinggesellschaft ohne Unternehmerstatus.

Sowohl der Wortlaut der Ratsermächtigung als auch die unterschiedlichen Rechtsfolgen für den Vorsteuerabzug im Falle einer Verwendung für nichtwirtschaftliche Tätigkeiten im engeren Sinne sprechen nach dem vorliegenden Urteil dafür, dass die streitige Ratsermächtigung nur die Fälle der typisch gemischten Verwendung abdeckt und der Klägerin im Ausgangsverfahren in unionsrechtskonformer Auslegung der begehrte Vorsteuerabzug zusteht. Im Zeitpunkt der Ratsermächtigung war die auf den EuGH zurückgehende Theorie von drei „Einsatzsphären“ noch nicht absehbar.

Hinzu kommt: Im Lichte von Art. 168a MwStSystRL bzw. von § 15 Abs. 1b UStG konnte die Ratsermächtigung auch so verstanden werden, dass bei einer nur geringfügigen unternehmerischen Nutzung (im Fall der typisch gemischten Verwendung) der Vorsteuerabzug, nicht aber die Möglichkeit der Zuordnung des Gegenstands zum Unternehmen, ausgeschlossen sein soll. Bei einer Verwendung für nichtwirtschaftliche Tätigkeiten im engeren Sinne wie im Ausgangsverfahren ist der Vorsteuerabzug jedoch von vornherein ausgeschlossen und eine entsprechende Zuordnung zum Unternehmensvermögen ist insoweit ebenfalls ausgeschlossen (vgl. Abschn. 15.2c Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a UStG, Aufteilungsgebot). Im Gegensatz dazu muss dann aber der Vorsteuerabzug entsprechend der – wenn auch noch so geringfügigen – unternehmerischen Verwendung aus Neutralitätsgründen erlaubt sein.

Die 10-Prozent-Grenze nach § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG auf Basis der Entscheidung des Rates 2004/817/EG vom 19.11.2004 (ABl. EU 2004 Nr. L 357/33) war in dieser Form zuletzt durch die Ratsentscheidung 2012/705/EU v. 13.11.2012 (ABL. EU Nr. L 319/8) mit Gültigkeit bis 31.12.2015 unionsrechtlich abgesichert worden. Zwischenzeitlich ist der Durchführungsbeschluss (EU) 2015/2428 des Rates vom 10.12.2015 (ABl. EU 2015 Nr. L 334/12) ergangen, mit dem die 10-Prozent-Grenze nach § 15 Abs. 1 Satz 2 UStG bis einschließlich 31.12.2018 unionsrechtlich abgesichert wurde. Nach Nr. 3 seiner Erwägungsgründe deckt der Ratsbeschluss nunmehr auch (wie im Ausgangsverfahren) die Fälle des Vorsteuerausschlusses beim Erwerb von Gegenständen und Dienstleistungen im Zusammenhang mit nichtwirtschaftlichen Tätigkeiten ab. Nach Art. 1 des Ratsbeschlusses ist Deutschland nunmehr ermächtigt, abweichend von den Artikeln 168 und 168a MwStSystRLa die anfallende Mehrwertsteuer auf Gegenstände und Dienstleistungen, die zu mehr als 90 % für private Zwecke des Steuerpflichtigen oder seines Personals oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke oder nichtwirtschaftliche Tätigkeiten genutzt werden, vollständig vom Recht auf Vorsteuerabzug auszuschließen.

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