Versagung des Vorsteuerabzugs und der Steuerbefreiung bei Beteiligung an einer Steuerhinterziehung

Anmerkung zu dem BMF-Schreiben vom 15.6.2022

Praxisproblem

Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung haben die EU-Mitgliedstaaten die Möglichkeit, bei wissentlicher Einbindung eines Unternehmers in eine betrugsbehaftete Leistungskette, diesem sämtliche steuerlichen Vorteile, insbesondere den Vorsteuerabzug oder geltend gemachte Steuerbefreiungen für innergemeinschaftliche Lieferungen (nicht für Ausfuhrlieferungen), zu versagen. Zur Gewährleistung von mehr Rechtsicherheit für die Wirtschaft und die Verwaltung war hierzu zum 1.1.2020 mit § 25f UStG eine neue gesetzliche Regelung eingeführt worden.

Sachverhalt

In Anwendung der EuGH-Rechtsprechung wird in § 25f Abs. 1 UStG geregelt, dass einem Unternehmer, der wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Leistungsbezug oder dem erbrachten Umsatz an einem Umsatz beteiligt, bei dem ein Beteiligter auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe in eine begangene Umsatzsteuerhinterziehung oder Erlangung eines nicht gerechtfertigten Vorsteuerabzugs im Sinne von § 370 AO oder einer Schädigung des Umsatzsteueraufkommens im Sinne der §§ 26b und 26c UStG einbezogen war, der Vorsteuerabzug bzw. die Steuerbefreiung für den entsprechenden Umsatz verwehrt wird. Die Vorschrift dient der Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges insbesondere in Form von Ketten- oder Karussellgeschäften.

Durch die Regelung in § 25f Abs. 2 UStG wird die Anwendung von Sondertatbeständen im Rahmen von innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäften in den entsprechenden Fällen ausgeschlossen.

§ 25f UStG sieht somit vor, dass bei wissentlicher Beteiligung des Unternehmers an einer betrugsbehafteten Leistungskette die Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen nach §§ 4 Nr. 1 Buchst. b i. V. m. 6a UStG sowie der Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG (Vorsteuer aus Inlandseinkauf), § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG (Vorsteuer aus innergemeinschaftlichem Erwerb i.S.d. § 3d Satz 1 UStG) und § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 UStG (Vorsteuer aus § 13b-Erwerb) zu versagen sind.

Der Anwendungsbereich der Vorschrift ist damit auf nationale bzw. innergemeinschaftliche Sachverhalte reduziert. In der Praxis ebenfalls betrugsbehaftete Fälle mit Drittlandsbezug sind in der Vorschrift nicht angesprochen. D.h. es kann nicht versagt werden: die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 1 Buchst. a i . V. m. § 6 UStG (Ausfuhrlieferungen) und nicht der Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG (entstandene Einfuhrumsatzsteuer). Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die Missbrauchsrechtsprechung auf den Schutz der finanziellen Interessen der EU beschränkt.

Das BMF-Schreiben

Mit dem BMF-Schreiben vom 15.6.2022 hat die Verwaltung sich erstmals in Form der Einfügung der neuen Abschnitte 25f.1 und 25f.2 in den Umsatzsteueranwendungserlass (UStAE) zur Auslegung von § 25f UStG geäußert. Der § 25f UStG und dessen Reichweite ist nicht unumstritten.

Danach gilt aus Sicht der Finanzverwaltung nun insbesondere Folgendes:
Der den Vorsteuerabzug bzw. die Steuerbefreiung begehrende Unternehmer trägt grundsätzlich zunächst in tatsächlicher Hinsicht die Feststellungslast für das Vorliegen der Begünstigung (Vorsteuerabzug/Steuerbefreiung). Im Weiteren sind die objektiven Umstände, die für eine wissentliche Einbindung des Unternehmers in eine Steuerhinterziehung etc. (s.u.) sprechen, seitens der Finanzverwaltung darzulegen.

Weist das Finanzamt (FA) nach, dass der Unternehmer wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Eingangs- oder Ausgangsumsatz an einem Umsatz beteiligt, bei dem der Leistende oder ein anderer Beteiligter auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe

• in eine begangene Hinterziehung von Umsatzsteuer,
• an einer Erlangung eines nicht gerechtfertigten Vorsteuerabzugs im Sinne des § 370 AO oder
• in eine Schädigung des Umsatzsteueraufkommens im Sinne der §§ 26a und 26c UStG
einbezogen war, sind der geltend gemachte Vorsteuerabzug und die in Anspruch genommene Steuerbefreiung für die entsprechende innergemeinschaftliche Lieferung zu versagen.

Dabei ist dem Unternehmer auch das Wissen oder Wissen müssen seiner Angestellten in analoger Anwendung von § 166 BGB zuzurechnen, welches die Angestellten im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit erlangt haben oder hätten erlangen müssen.

Die Feststellung einer Steuerhinterziehung kann sowohl den unmittelbaren Eingangs- oder Ausgangsumsatz des Unternehmers, als auch einen Umsatz auf allen vor- und nachgelagerten Umsatzstufen innerhalb der Leistungskette umfassen.

Voraussetzung für die Anwendung der Regelung des § 25f UStG ist, dass der objektive und subjektive Tatbestand des § 370 AO bzw. der §§ 26a oder 26c UStG auf mindestens einer Umsatzstufe innerhalb der Leistungskette erfüllt sind. Eine strafgerichtliche Verurteilung oder bußgeldrechtliche Ahndung ist nicht erforderlich. An Entscheidungen im straf- oder bußgeldrechtlichen Verfahren ist das FA bei Anwendung des § 25f UStG nicht gebunden.

In den Fällen, in denen das FA das „Wissen oder hätte wissen müssen“ nachweisen kann, hat es nach BMF-Schreiben den geltend gemachten Vorsteuerabzug für den betreffenden Leistungsbezug sowie eine etwaige Steuerbefreiung für die entsprechende innergemeinschaftliche Lieferung jeweils in voller Höhe zu versagen. Liegen die Voraussetzungen des § 25f UStG bei mehreren Beteiligten vor, ist die vorgenannte Versagung bei diesen Beteiligten vorzunehmen. § 71 AO (Haftung des Steuerhinterziehers) bleibt unberührt. Liegen die Voraussetzungen des § 25f UStG vor, sind ein zunächst vorgenommener Vorsteuerabzug und eine gewährte Steuerbefreiung nach § 164 Abs. 2 Satz 1 oder § 173 Abs. 1 AO, ggf. auch nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO durch Änderung der ursprünglichen Steuerfestsetzung rückgängig zu machen.

Praxishinweise

Ein Unternehmer, der alle Maßnahmen getroffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass seine Umsätze nicht in eine Umsatzsteuerhinterziehung und nicht in eine Schädigung des Umsatzsteueraufkommens einbezogen sind, kann nach dem BMF-Schreiben grundsätzlich auf die zutreffende steuerrechtliche Behandlung dieser Umsätze vertrauen, ohne Gefahr zu laufen, sein Recht auf Vorsteuerabzug oder auf Steuerbefreiung zu verlieren.
Hier wird ein Vertrauenstatbestand durch die Verwaltung geschaffen.
Leider definiert die Verwaltung in diesem Zusammenhang nicht, wann dies genau der Fall ist.

Sofern Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten, insbesondere eine Steuerhinterziehung, entweder bei der Aufnahme neuer oder bei bestehenden Geschäftsbeziehungen erkennbar sind, muss der Unternehmer weitergehende geeignete Maßnahmen ergreifen (z.B. Auskünfte einholen) und dies auch geeignet dokumentieren. Kommt der Unternehmer dem nicht nach oder kann vorliegende Zweifel durch die ergriffenen Maßnahmen nicht ausräumen, und geht die Geschäftsbeziehung dennoch ein oder führt diese fort, ist nach dem BMF-Schreiben von einem „Wissen oder Wissen müssen“ des Unternehmers auszugehen.

Das BMF-Schreiben listet sodann (nicht abschließend) Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten im vorstehenden Sinne auf. Diese sollen z.B. vorliegen, wenn:

• der Unternehmer durch einen Dritten aufgefordert/gebeten wird, sich an Umsätzen zu beteiligen, bei denen der Dritte die Rahmenbedingungen für das Umsatzgeschäft vorgibt (z. B. Vermittlung von Beteiligten, Vorgabe von Einkaufs-/Verkaufspreisen, Zahlungsmodalitäten oder Liefer- bzw. Leistungswegen);
• die Finanzierung des Wareneinkaufs erst nach erfolgtem Warenverkauf möglich ist;
• (angebotene) Mehrfachdurchläufe von Waren festgestellt werden;
• dem Unternehmer Waren bzw. Leistungen angeboten werden, deren Preis unter dem Marktpreis liegt;
• branchenunübliche Barzahlungen oder eine ungewöhnliche Zahlungsabwicklung erfolgen;
• die Ansprechpartner in den Unternehmen oder die Ansprechpartner die Unternehmen häufig wechseln;
• bei den Beteiligten berufliche Erfahrung und Branchenkenntnis fehlen;
• die Beteiligten wiederholt ihren Unternehmenssitz verlegen;
• Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Beteiligten bestehen (z.B. aufgrund von Abweichungen des Gesellschaftszwecks oder der Geschäftsadressen zu den Angaben laut Handelsregister);
• der Gesellschaftszweck laut Handelsregister nicht dem tatsächlich ausgeübten Gesellschaftszweck entspricht;
• dem Unternehmer eine Warenmenge oder ein Leistungsumfang angeboten wird, die für die Größe des Unternehmens in der Branche unüblich ist (z. B. ungewöhnlich hohe Stückzahlen trotz Neugründung);
• die Beteiligten über keine ausreichenden Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme verfügen (z. B. Website ohne Impressum, Rufnummer oder E-Mail-Adresse);
• ungewöhnliche Leistungsbedingungen vorliegen (z. B. die Leistungen werden von einem oder an einen nicht an dem Umsatz beteiligten Unternehmen erbracht);
• durch den Unternehmer über zugängliche Informationsquellen (z.B. Internetrecherche) festgestellt werden kann, dass die Anlieferung der Waren an die vom Abnehmer angegebene Lieferadresse nicht möglich erscheint.

Hier wird nicht klar, ob bereits einer der v.g. Punkte ausreichend ist, den Unternehmer bösgläubig zu machen oder ob all die v.g. Punkte im Zusammenhang zu betrachten sind. So kommt es in der Geschäftspraxis auch zwischen seriösen Vertragspartnern vor, dass Einkaufs- oder Verkaufspreise vorgegeben werden, z.B. durch eine Konzernmutter einer Gesellschaft, die Vertragspartner des Unternehmers ist. Die Konzernmutter wäre dann wohl auch ein Dritter im obigen Sinne. Unklar bleibt z.B. auch, in welchen Fällen branchenunübliche Barzahlungen vorliegen, oder wann eine Zahlungsabwicklung ungewöhnlich ist. Unklar ist auch, was genau mit ungewöhnlichen Leistungsbedingungen gemeint ist. Hier nennt das BMF-Schreiben beispielhaft den Fall, dass die Leistungen von einem oder an einen nicht an dem Umsatz beteiligten Unternehmen erbracht werden. Umsatzsteuerlich können Leistungen immer nur an den jeweiligen Leistungsempfänger ausgeführt werden. Es ist nicht denkbar, dass dann ein Dritter Leistungsempfänger sein soll. In Fällen von Reihengeschäften ist es im Übrigen durchaus üblich, dass der den Warentransport verantwortende Unternehmer, den Liefergegenstand zu einem anderen als seinem unmittelbaren Vertragspartner befördert oder versendet.

Das FA muss nach dem BMF-Schreiben nachweisen, dass der Unternehmer zum Zeitpunkt des Leistungsbezugs beziehungsweise der Leistungserbringung nach dem Gesamtbild der Verhältnisse wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich an einem Umsatz beteiligt, der in eine Umsatzsteuerhinterziehung oder in eine Schädigung des Umsatzsteueraufkommens im Sinne des Absatzes 2 einbezogen ist. Die Beweislast für das „Wissen oder hätte wissen müssen“ liegt also beim Finanzamt. Der Unternehmer muss nicht beweisen, dass er nicht wusste oder hätte wissen müssen.

Zu § 25f (2) UStG, wonach die Rechtsfolgen eines innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäfts gemäß § 25b Abs. 3 und 5 UStG in den Fällen des § 25f Abs. 1 UStG nicht anzuwenden sind, führt das BMF-Schreiben aus:
Liegen die Voraussetzungen des § 25f Abs. 1 UStG vor, gilt in Fällen des innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäfts der innergemeinschaftliche Erwerb des ersten Abnehmers nicht als besteuert. Damit hat der erste Abnehmer den innergemeinschaftlichen Erwerb nach §3d Satz 1 UStG im Bestimmungsmitgliedstaat und nach § 3d Satz 2 UStG in dem Mitgliedstaat zu versteuern, der die USt-IdNr. erteilt hat, bis der Erwerber nachweist, dass der Erwerb durch den in § 3d Satz 1 UStG bezeichneten Mitgliedstaat besteuert worden ist. Der Vorsteuerabzug im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG ist nach § 25f Abs. 2 UStG zu versagen. Dennoch wird die Steuerschuld für die vom ersten Abnehmer ausgeführte (Inlands-) Lieferung auf den letzten Abnehmer übertragen (§ 25b Abs. 2 UStG). Der letzte Abnehmer kann diese von ihm geschuldete Umsatzsteuer entgegen § 25b Abs. 5 UStG jedoch nicht als Vorsteuer abziehen.
Hier bleibt insbesondere unklar, ob die Voraussetzungen des § 25f Abs. 1 UStG nur im Verhältnis der drei Unternehmer im Dreiecksgeschäft vorliegen müssen, oder ob die genannten Konsequenzen auch eintreten, wenn das Dreiecksgeschäft am Ende eines größeren Reihengeschäfts (wie z.B. nach dem Beispiel in Abschnitt 25b.1 Abs. 2 UStAE) steht.

Fazit

Aufgrund der Neuregelung des § 25f UStG zum 01.01.2020 und der nun vorgenommenen Präzisierungen in dem BMF-Schreiben vom 15.06.2022 ist in Zukunft verstärkt damit zu rechnen, dass die Finanzverwaltung, zum Beispiel im Rahmen von Betriebsprüfungen, in unklaren Leistungskonstellationen den Vorsteuerabzug oder die Steuerfreiheit von innergemeinschaftlichen Lieferungen in Frage stellen wird. Dieses mag zwar fiskalpolitisch, etwa zur Vermeidung von Steuerhinterziehung, nachvollziehbar sein, stellt den steuerpflichtigen Unternehmer jedoch vor die Frage, inwieweit umsatzsteuerlich relevante Geschäftsbeziehungen, auch mit Blick auf neue Geschäftsbeziehungen, zu prüfen sind.

Um ein „Wissen oder Wissen müssen“ des Unternehmers zu vermeiden, sollte hier besondere Sorgfalt bei der Auswahl und Prüfung der Geschäftspartner an den Tag gelegt werden. Eine Orientierung können hier sicherlich die im BMF-Schreiben aufgeführten Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten bieten, auch wenn deren Beachtung keine vollständige Garantie im Bereich des Vorsteuerabzuges und der Steuerbefreiungen bieten kann.

Aktuell sind zudem noch weitere Fragen zur Missbrauchsrechtsprechung an den EuGH herangetragen worden. So ist z.B. offen, ob es überhaupt zu einer Mehrfach-Kompensation des Umsatzsteuerausfalls kommen darf und wo die Grenzen der Missbrauchsrechtsprechung sind.

Das USt-Team der AWB hilft Ihnen gern weiter sich auf die Herausforderung einzustellen. Insbesondere TAX CMS und IKS Umsatzsteuer nehmen hier eine wichtige Funktion ein. Sprechen Sie uns gerne an.

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