EuGH zu Steuersätzen auf Personenbeförderungen im Nahverkehr

Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 27.02.2014, C-454/12 und C-455/12, Pro Med Logistik

Praxisproblem

Der deutsche Gesetzgeber hat von der Möglichkeit eines ermäßigten Steuersatzes für die Beförderung von Personen und des mitgeführten Gepäcks in selektiver Weise dadurch Gebrauch gemacht, dass der ermäßigte Steuersatz nur Anwendung findet bei einer Beförderung durch Verkehrsmittel des öffentlichen Nahverkehrs in dem vorgesehenen örtlichen Umfang. Zweck der Regelung des § 12 Abs. 2 Nr. 10 Buchst. b UStG ist die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs, nicht jedoch die Begünstigung jeder Form der Personenbeförderung im allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr. Der ermäßigte Steuersatz findet daher nur Anwendung bei besonders regulierten Beförderungsleistungen mit bestimmten Verkehrsmitteln auf bestimmten Beförderungsstrecken (Fahrten innerhalb einer Gemeinde oder auf einer Beförderungsstrecke von nicht mehr als 50 km). Zum öffentlichen Nahverkehr zählt neben dem Schienenbahnverkehr, dem Verkehr mit Oberleitungsomnibussen und dem genehmigten Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen vor allem auch der besonderen Anforderungen unterliegende Verkehr mit Taxen. Personenbeförderungen mit Mietwagen unterliegen demgegenüber dem Regelsteuersatz. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat bislang eine unterschiedliche Behandlung des Taxi- und Mietwagenverkehrs in Bezug auf den Umsatzsteuersatz verfassungskonform eingestuft, da beide Formen der Personenbeförderung durch das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) eindeutig voneinander abgegrenzt werden. Insbesondere bestehe kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und auch nicht gegen das in Art. 12 Abs. 1 GG verankerte Grundrecht der Berufsfreiheit (BVerfG, Beschl. v. 11.02.1992, BVerfGE 85, 238, NJW 1992, 1815). Der BFH hatte in seinen Vorabentscheidungsersuchen v. 10.07.2012, XI R 22/10 und XI R 39/10, Zweifel daran geäußert, ob die unterschiedliche Behandlung von Personenbeförderungen mit Taxen und Mietwagen dem Neutralitätsgrundsatz entspricht.

Sachverhalt

In dem Ausgangsverfahren betreiben die Kläger Unternehmen mit sog. Funkmietwagen. In einem Verfahren betreibt der Kläger ein Mietwagenunternehmen mit Fahrergestellung, verfügt jedoch über keine sog. Taxilizenz. Aus diesem Grund darf er (u.a. nach § 49 Abs. 4 Satz 1 PBefG) Fahrgäste nicht während einer Fahrt aufnehmen, sondern Beförderungsaufträge nur an ihrem Betriebssitz oder ihrer Wohnung entgegennehmen. Anders als beim Verkehr mit Taxen gibt es aber auch keine Beförderungspflicht, keine Betriebspflicht nach § 21 PBefG und keine Tarifvorschriften. Das Entgelt wird jeweils frei vereinbart.

In dem anderen Fall betreibt der Kläger ebenfalls ein Mietwagenunternehmen ohne Taxierlaubnis nach § 47 PBefG. Er führt Krankenfahrten mit hierfür nicht besonders eingerichteten Fahrzeugen im Auftrag einer Krankenkasse durch. Dazu erkannte er gegenüber der Krankenkasse A den zwischen dieser und dem Taxi- und Mietwagenunternehmerverband V geschlossenen Vertrag zur Durchführung von Krankenfahrten für Versicherte der Krankenkasse A mittels Taxiunternehmen an. Er verpflichtete sich, alle in diesem Vertrag vereinbarten Bedingungen zu erfüllen. Gegenstand des Vertrages ist nach dessen § 1 Abs. 1 Satz 1 die Beteiligung der im Verband organisierten Taxiunternehmen an der Durchführung von planbaren Krankenfahrten, die für die Versicherten der Krankenkasse A im Zusammenhang mit einer Leistung der Krankenkasse notwendig werden.

In beiden Fällen beantragten die Kläger die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes von 7 % nach § 12 Abs. 2 Nr. 10 UStG.

Entscheidung

Der EuGH hat seine frühere Rechtsprechung bestätigt, dass der ermäßigte Steuersatz nicht nur dann angewendet werden kann, wenn er sich auf alle Aspekte einer in Anhang III MwStSystRL aufgeführten Kategorie von Leistungen bezieht. Vielmehr ist eine selektive Anwendung eines ermäßigten Satzes möglich, sofern sie keine Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung nach sich zieht (vgl. EuGH, Urt. v. 06.05.2010, C-94/09, Kommission/Frankreich, EuGHE I 2010, 4261). Eine solche selektive Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes setzt jedoch zwei Bedingungen voraus: Zum einen dürfen nur konkrete und spezifische Aspekte der in Rede stehenden Kategorie von Leistungen herausgelöst werden. Zum anderen muss der Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachtet werden. Diese Bedingungen sollen sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten von dieser Möglichkeit nur unter Umständen Gebrauch machen, die die einfache und korrekte Anwendung des gewählten ermäßigten Steuersatzes gewährleisten und Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch verhindern.

Der EuGH hat entschieden, dass der Neutralitätsgrundsatz die Anwendung unterschiedlicher Steuersätze auf Personenbeförderungen im Nahverkehr zum einen per Taxi und zum anderen per Mietwagen mit Fahrergestellung nicht grundsätzlich verbietet. Dafür müssen jedoch folgende Bedingungen erfüllt sein:

  • Aufgrund der unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen, denen diese beiden Beförderungsarten unterliegen, muss die Beförderung per Taxi einen konkreten und spezifischen Aspekt der fraglichen Dienstleistungskategorie (Beförderung von Personen und des mitgeführten Gepäcks) darstellen. Ob die Beförderung von Personen im Nahverkehr per Taxi einen konkreten und spezifischen Aspekt der Personenbeförderung von Personen und des mitgeführten Gepäcks darstellt, hängt davon ab, ob es sich um eine Dienstleistung handelt, die getrennt von den übrigen Leistungen der Kategorie III Nr. 5 MwStSystRL (danach können die EU-Mitgliedstaaten „Dienstleistungen der Beförderung von Personen und des mitgeführten Gepäcks“ ermäßigt besteuern) als solche bestimmbar ist.
  • Diese Unterschiede müssen einen maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung des durchschnittlichen Nutzers für eine dieser Beförderungsarten haben.

Es ist Sache des BFH zu prüfen, ob diese Voraussetzungen in den Ausgangsverfahren erfüllt sind.

Nach den weiteren Entscheidungsgründen ist die Anwendung unterschiedlicher Steuersätze auf die Beförderung von Personen im Nahverkehr zum einen per Taxi und zum anderen per Mietwagen mit Fahrergestellung jedoch unzulässig, wenn aufgrund einer Sondervereinbarung, die auf die Taxiunternehmen und die Mietwagenunternehmen mit Fahrergestellung unterschiedslos angewandt wird,

  • die Beförderung von Personen per Taxi keinen konkreten und spezifischen Aspekt der Beförderung von Personen und des mitgeführten Gepäcks darstellt und
  • die im Rahmen dieser Vereinbarung durchgeführte Tätigkeit, aus der Sicht des durchschnittlichen Nutzers, als der Tätigkeit der Beförderung von Personen im Nahverkehr per Mietwagen mit Fahrergestellung gleichartig anzusehen ist.

Ob dies der Fall ist, muss der BFH ebenfalls prüfen. Der EuGH hält die Anwendung eines unterschiedlichen Steuersatzes für ausgeschlossen, wenn das Beförderungsentgelt in einer solchen Vereinbarung festgelegt ist und in gleicher Weise für die Taxiunternehmen und die Mietwagenunternehmen mit Fahrergestellung gilt, wenn die Vereinbarung für beide Beförderungsarten lediglich die Pflicht zur tatsächlichen Durchführung des Transports vorsieht und wenn die Taxiunternehmen somit im Rahmen der Vereinbarung nicht den außerhalb dieser Vereinbarung für sie geltenden besonderen rechtlichen Anforderungen unterliegen.

Praxishinweis

Die abschließenden Urteile des BFH in den Verfahren müssen zunächst abgewartet werden. Der BFH muss entscheiden, ob die besonderen rechtlichen Rahmenbedingungen für Taxibeförderungen diese zu einer Sonderform von Personenbeförderungen machen, die mit dem ermäßigten Steuersatz belegt werden darf und ob der Durchschnittsverbraucher sich maßgeblich von den unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen für Taxiunternehmen und Mietwagenunternehmen leiten lässt, sich für eine der beiden Beförderungsarten zu entscheiden.

Die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes auf den Verkehr mit Taxen, nicht hingegen auf den Mietwagenverkehr, darf nach dem EuGH-Urteil den Neutralitätsgrundsatz nicht verletzen. Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung ist es zum einen unzulässig, gleichartige und infolgedessen miteinander in Wettbewerb stehende, Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln, und zum anderen Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln. Für die Beurteilung der Gleichartigkeit von Personenbeförderungen ist nach dem vorliegenden EuGH-Urteil in erster Linie auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen. Zwei Dienstleistungen sind gleichartig, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen. Wenn die zwischen Taxibeförderungen und Mietwagenbeförderungen bestehenden Unterschiede in den rechtlichen Rahmenbedingungen die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers zur Auswahl einer dieser Dienstleistungen nicht unerheblich beeinflussen, dürfen nach dem Urteil auf die beiden Beförderungsarten unterschiedliche Steuersätze angewendet werden.

Die Sonderform von Krankenbeförderungen in hierfür nicht besonders eingerichteten Fahrzeugen auf der Basis eines besonderen Rahmenvertrags, der für Taxi- und Mietwagenunternehmen gleichermaßen gilt, kann nach dem EuGH-Urteil grundsätzlich nicht unterschiedlich hoch besteuert werden.