EuGH zur Versagung der Umsatzsteuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen bei Steuerhinterziehung

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 18.12.2014, verb. Rs. C-131/13, C-163/13 und C-164/13, V.o.f. Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti, Turbu.com BV und Turbu.com Mobile Phone’s BV

Praxisproblem

Spätestens seit der Entscheidung des EuGH v. 07.12.2010, C-285/09, Rs. R, nach der es nicht möglich ist, die Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung auch bei Vorliegen der materiellen Voraussetzungen in Anspruch zu nehmen, wenn der Lieferer an einem Steuerbetrug im Bestimmungsland mitwirkt, stellte sich die Frage, wie weit die Sanktion in solchen Fällen reicht. Der EuGH hatte in der Sache R nur entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung versagen können. In dem vorliegenden Verfahren ging es um die weitergehende Frage, ob in solchen Fällen zusätzlich der Vorsteuerabzug auf den Warenbezug versagt werden kann, bzw. ob es eine Rolle spielt, dass der Steuerbetrug nicht im Lieferstaat der innergemeinschaftlichen Lieferung stattfindet, sondern im Bestimmungsstaat.

Sachverhalt

Bei den verbundenen niederländischen Verfahren ging es um die Auslegung von Art. 28c Teil A Buchst. a und Art. 17 Abs. 3 Buchst. b der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 138 Abs. 1 und Art. 169 Buchst. b MwStSystRL). Streitig waren die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen sowie für den Vorsteuerabzug für hierfür bezogene Eingangsumsätze in Fällen, in denen der Steuerpflichtige vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt war.

Im Ausgangsfall in der Rechtssache C-131/13 ging es um ein niederländisches Unternehmen, das EDV-Material an in Italien ansässige Unternehmer lieferte, welches es zuvor in Deutschland und den Niederlanden gekauft hatte. Die in Deutschland gekauften Gegenstände ließ das niederländische Unternehmen direkt nach Italien befördern, wobei es gegenüber den deutschen Lieferanten seine niederländische USt.-Identifikationsnummer verwendete. Die deshalb gem. Art. 28b Teil A Abs. 2 Unterabs. 1 der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 41 Abs. 1 MwStSystRL) in den Niederlanden zu versteuernden innergemeinschaftlichen Erwerbe meldete das niederländische Unternehmen bei den dortigen Steuerbehörden jedoch nicht an. Ebenso wenig wurden in Deutschland die entsprechenden innergemeinschaftlichen Lieferungen angemeldet. Hinsichtlich der in den Niederlanden gekauften Gegenstände nahm das niederländische Unternehmen alle erforderlichen Anmeldungen vor und machte den Vorsteuerabzug geltend. Die italienischen Käufer meldeten in Italien keinen der innergemeinschaftlichen Erwerbe an und entrichteten entsprechend keine Mehrwertsteuer. Die italienischen Steuerbehörden versagten den Erwerbern das Recht auf Vorsteuerabzug und zogen die geschuldete Steuer ein.

Die niederländischen Steuerbehörden vertraten die Ansicht, dass das niederländische Unternehmen wissentlich an einem Steuerbetrug teilgenommen hatte, aufgrund dessen in Italien Mehrwertsteuer hinterzogen werden sollte, und versagten deshalb die Steuerbefreiung für die innergemeinschaftlichen Lieferungen nach Italien sowie den Vorsteuerabzug und die Erstattung bezüglich der für die Waren aus Deutschland gezahlten Erwerbsteuer und erließen entsprechende Nacherhebungsbescheide, gegen die das niederländische Unternehmen Klage einreichte.

Im Streit um die Gewährung der Steuerbefreiung bzw. den Vorsteuerabzug hielt es das vorlegende Gericht – ungeachtet der teilweise offenbar fehlenden Nachweise für die Lieferungen und Leistungsbezüge – für bedeutsam, dass sich aus der EuGH-Rechtsprechung (Urteile in den Sachen C-439/04 u. C-440/04, C-285/09, C-395/02, C-285/11) ergebe, dass sich an einem Betrug oder Missbrauch Beteiligte nicht auf das EU-Recht berufen können und die etwaige Anwendung einer im nationalen Recht verankerten Betrugsbekämpfungsvorschrift durch einen Mitgliedstaat nicht gegen Unionsrecht verstößt.

Vor diesem Hintergrund wollte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die nationalen Behörden und Gerichte die Anwendung der Steuerbefreiung oder das Recht auf Vorsteuerabzug auch dann zu versagen haben, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass ein Betrug oder Missbrauch vorliegt, der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er daran beteiligt war und das nationale Recht eine Versagung der Befreiung oder des Vorsteuerabzugs nicht vorsieht. Der EuGH musste somit entscheiden, ob der in den vorgenannten Urteilen des EuGH niedergelegte unionsrechtliche Grundsatz, wonach sich ein an einer Mehrwertsteuerhinterziehung oder an einem Missbrauch beteiligter Steuerpflichtiger nicht auf die Befreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen von der Steuer und auf das Recht auf Vorsteuerabzug berufen kann, unmittelbare Wirkung hat oder ob es für die Anwendung dieses Grundsatzes eine Grundlage in den nationalen Rechtsvorschriften geben muss.

Entscheidung

In seinem Urteil wiederholt der EuGH zunächst detailliert seine bisherige Rechtsprechung, wonach die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der 6. EG-Richtlinie anerkannt und gefördert wird, eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist und demzufolge die nationalen Behörden und Gerichte das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen haben, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass es in betrügerischer Weise geltend gemacht wird und die Versagung auch eintreten muss hinsichtlich der Mehrwertsteuerbefreiung für eine innergemeinschaftliche Lieferung. Der EuGH verweist insbesondere auf sein Urteil v. 13.02.2014, C-18/13, Maks Pen, nach dem die nationalen Behörden und Gerichte den Vorsteuerabzug zu versagen haben, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird, was bedeutet, dass der Steuerpflichtige selbst eine Steuerhinterziehung begeht oder wusste bzw. hätte wissen müssen, dass er an einem Umsatz teilnahm, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war.

Der EuGH führt weiter aus, dass die Versagung eines auf betrügerische oder missbräuchliche Weise erlangten Rechts nicht etwa die Auferlegung einer Verpflichtung nach der 6. EG-Richtlinie darstellt, sondern schlichte Folge der tatsächlichen Nichterfüllung der objektiven Voraussetzungen für die Erlangung des angestrebten Vorteils ist. Demzufolge bedürfen die nationalen Behörden und Gerichte nach Ansicht des EuGH auch keiner ausdrücklichen Erlaubnis für die Versagung eines solchen, sich aus dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem ergebenden Vorteils, da diese Konsequenz dem System inhärent ist.

Darüber hinaus stellt der EuGH klar, dass sich ein Steuerpflichtiger auch nicht auf die Grundsätze des Vertrauensschutzes oder der Rechtssicherheit berufen kann, um sich gegen die Versagung der Gewährung des betreffenden Rechts zu wenden, wenn er die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Rechts nur dadurch geschaffen hat, dass er sich an betrügerischen Handlungen beteiligt hat. Die Versagung eines solchen Rechts trägt auch nicht den Charakter einer Strafe oder Sanktion im Sinne der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Im Ergebnis stellt der EuGH fest, dass die nationalen Behörden und Gerichte einem Steuerpflichtigen im Rahmen einer innergemeinschaftlichen Lieferung das Recht auf Vorsteuerabzug, auf Mehrwertsteuerbefreiung oder auf Mehrwertsteuererstattung versagen müssen, auch wenn das nationale Recht keine Bestimmungen enthält, die eine solche Versagung vorsehen, sofern anhand objektiver Umstände nachgewiesen ist, dass dieser Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich durch den Umsatz, auf den er sich zur Begründung des betreffenden Rechts beruft, an einer im Rahmen einer Lieferkette begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt hat.

Die zweite Vorlagefrage beantwortet der EuGH dahingehend, dass es für die o.g. Versagung der Rechte keine Rolle spielt, dass die Steuerhinterziehung in einem anderen Mitgliedstaat als dem begangen wurde, in dem diese Rechte beansprucht werden, und dass der Steuerpflichtige in letzterem Mitgliedstaat die in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen formalen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme dieser Rechte erfüllt hat.

Praxishinweis

Nach Ansicht des EuGH hat (für den Bereich der Mehrwertsteuer) die Versagung eines betrügerisch oder missbräuchlich erlangten Rechts unabhängig davon zu erfolgen, welches Recht aus dem Bereich der Mehrwertsteuer von der betrügerischen Handlung betroffen ist. Dies gilt somit auch für das Recht auf Mehrwertsteuererstattung im Mitgliedstaat der Erteilung der USt-Identifikationsnummer, wenn der Unternehmer den Nachweis der Erwerbsbesteuerung im Mitgliedstaat der Beendigung der Versendung oder Beförderung erbringt (Art. 28b Teil A Abs. 2 Unterabs. 2 der 6. EG-Richtlinie, jetzt Art. 41 Abs. 2 MwStSystRL). Bemerkenswert ist, dass der EuGH explizit das Argument der EU-Kommission nicht gelten lässt , wonach das Recht der Mehrwertsteuererstattung besonderer Natur sei, weil es einen Korrekturmechanismus darstelle, der es in bestimmten Fällen innergemeinschaftlicher Lieferungen erlaube, die Neutralität der Mehrwertsteuer sicherzustellen.

Bemerkenswert ist weiterhin, dass der EuGH hier nicht nur für die nationalen Gerichte, sondern auch für die Steuerbehörden die Verpflichtung zu sehen scheint, sich in bestimmten Fällen wie denen des Ausgangsfalls zum Nachteil des Steuerpflichtigen über das nationale Recht hinwegzusetzen, um die unionsrechtlich gebotenen Rechtsfolgen eintreten zu lassen.

Mithin ist im Fall einer innergemeinschaftlichen Lieferung, die mit Wissen des Lieferanten zu einem Mehrwertsteuerbetrug im Bestimmungsland führt, nicht nur der Vorsteuerabzug auf den Warenbezug für die innergemeinschaftliche Lieferung, sondern zusätzlich auch die Steuerbefreiung der innergemeinschaftlichen Lieferung zu versagen, so dass der liefernde Unternehmer insoweit doppelt belastet ist. Kommt dann noch die Versagung der Rückerstattung einer Steuer i.S.v. § 3d Satz 2 UStG hinzu, ergibt sich eine Dreifachbelastung. Darüber hinaus, so die Klarstellung des jetzigen Urteils, die man in dem Urteil des EuGH v. 07.12.2010, C-285/09, Rs. R noch vermissen konnte, gilt dieses Ergebnis unabhängig davon, in welchem Mitgliedstaat der Steuerbetrug stattfindet, ob im Lieferstaat oder im Bestimmungsstaat.

Das Urteil hat erhebliche Auswirkungen auf das deutsche Recht, das bisher keine ausdrückliche Regelung zur Versagung der Steuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung oder des Rechts auf Vorsteuerabzug im Zusammenhang mit einer solchen Lieferung enthält, wenn der Steuerpflichtige vorsätzlich an einer MwSt-Umgehung oder -hinterziehung beteiligt war.