EuGH zum Pro-rata-Satz des Vorsteuerabzugs

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 16.06.2016, C-186/15, Kreissparkasse Wiedenbrück

Praxisproblem

Für umsatzsteuerfreie Finanzdienstleistungen ist der Vorsteuerabzug gem. § 15 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 UStG grundsätzlich ausgeschlossen. Da die meisten Finanzdienstleistungsunternehmen aber daneben auch zum Vorsteuerabzug berechtigende Umsätze tätigen, sind die Eingangsumsätze dieser Unternehmen in einen zum Vorsteuerabzug zugelassenen und einen nicht abzugsberechtigten Teil aufzuteilen (§ 15 Abs. 4 UStG). Für die spezifischen Verhältnisse der Kreditinstitute wurde mit dem BMF-Schreiben v. 12.04.2005, IV A 5 – S 7306 – 5/05 (UR 2005, 574) eine i.S.d. § 15 Abs. 4 Satz 3 UStG dem gemeinschaftlichen Neutralitätsprinzip und dem Prinzip der wirtschaftlichen Zuordnung Rechnung tragende Aufteilungsmethode (Margenschlüssel) entwickelt. Diese sieht aber grundsätzlich keine Auf- oder Abrundung des Pro-Rata-Satzes des Vorsteuerabzugs vor.

Sachverhalt

Bei dem Vorabentscheidungsersuchen des FG Münster ging es um die Rundungsregel bei der Ermittlung des Pro-Rata-Satzes des Vorsteuerabzugs gem. Art. 175 Abs. 1 MwStSystRL. Nach der Vorschrift wird der Pro-Rata-Satz auf Jahresbasis in Prozent festgesetzt und auf einen vollen Prozentpunkt aufgerundet. Das FG Münster wollte im Wesentlichen wissen, ob die Rundungsregel des Art. 175 Abs. 1 MwStSystRL auch dann anzuwenden ist, wenn der Pro-Rata-Satz nach einer der besonderen Methoden des Art. 173 Abs. 2 Buchst. a, b, c oder d MwStSystRL berechnet wird. Der EuGH sollte auch die Frage beantworten, ob die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, eine Berichtigung des Vorsteuerabzugs nach den Art. 184 ff. MwStSystRL unter Anwendung der Rundungsregel dergestalt durchzuführen, dass der zu berichtigende Vorsteuerbetrag zu Gunsten des Steuerpflichtigen auf einen vollen Prozentsatz auf- oder abgerundet wird.

Die Klägerin, eine Sparkasse, optierte bei ihren Umsätzen im gewerblichen Kundengeschäft (Darlehen, Kontoführung, Avale usw.) seit dem 01.01.2008 zur Steuerpflicht (§ 9 Abs. 1 UStG) und führte in den Streitjahren 2009 und 2010 in diesem Geschäftsbereich steuerpflichtige Umsätze und zusätzlich andere steuerpflichtige, aber auch steuerfreie Umsätze aus. Auf der Basis von Margen ermittelte die Klägerin die abzugsfähigen Vorsteuerbeträge für 2009 mit 13,55 % und für 2010 mit 13,18 %, die sie in den USt-Erklärungen für 2009 und 2010 jeweils auf 14 % aufrundete. Die durch den Verzicht auf die Steuerfreiheit ihrer Umsätze an gewerbliche Kunden nach § 15a UStG ausgeführten Korrekturen der in den Vorjahren zu den Umsätzen an gewerbliche Kunden erklärten Vorsteuerbeträge rundete die Klägerin zu ihren Gunsten ebenfalls auf 14 % auf.

Das FA war der Auffassung, nach dem Urteil des FG Berlin-Brandenburg v. 24.09.2009, 2 K 1061/06, EFG 2010, 89 bestehe kein Anspruch auf Aufrundung des für den Vorsteuerabzug errechneten Pro-Rata-Satzes auf einen vollen Prozentsatz. Auch für die Vorsteuerkorrektur nach § 15a UStG sei der von der Klägerin angewandte gerundete Schlüssel nicht zu berücksichtigen.

Das FG Berlin-Brandenburg hatte mit Urteil vom 24.09.2009, 2 K 1061/06, EFG 2010, 89 entschieden, dass bei Aufteilung der Vorsteuern aus Eingangsumsätzen für banktypische Geschäfte nach § 15 Abs. 4 UStG unter Zugrundelegung von Margen gem. dem BMF-Schreiben v. 12.04.2004, IV A 5 - S 7306 - 5/05 (Neues Konzept für die Vorsteueraufteilung bei Kreditinstituten, UR 2005, 574) und somit nach einer anderen Schätzungsmethode als nach dem Verhältnis der zum Vorsteuerabzug berechtigenden Umsätze zu den Gesamtumsätzen ein Kreditinstitut nicht beanspruchen könne, dass der errechnete Pro-Rata-Satz gem. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 der 6. EG-Richtlinie auf einen vollen Prozentsatz aufzurunden sei, sofern dies gegenüber der Rundung auf zwei Dezimalstellen nach dem Komma zu erheblichen steuerlichen Auswirkungen führe.

§ 15 Abs. 4 Satz 1 UStG regelt für die Streitjahre 2009 und 2010, dass zur Ermittlung der abziehbaren Vorsteuerbeträge in der Regel eine Aufteilung nach dem Grundsatz der „wirtschaftlichen Zurechnung“ erfolgt. Nur dann, wenn keine „wirtschaftliche Zurechnung“ möglich ist, erlaubt § 15 Abs. 4 Satz 3 UStG ausnahmsweise die Vorsteueraufteilung nach dem Umsatzsatzschlüssel. Das FG Münster ging davon aus, dass der von der Klägerin für die Vorsteueraufteilung verwendete, an den Margen orientierte Aufteilungsschlüssel eine den Umsatzschlüssel verdrängende Aufteilungsmethode der „wirtschaftlichen Zuordnung“ i.S.d. § 15 Abs. 4 Satz 3 UStG darstellt. Das UStG enthalte aber für die Bildung des Pro-Rata-Satzes keine ausdrückliche Rundungsvorschrift. Vielmehr sei der Pro-Rata-Satz, wie vom FG Berlin-Brandenburg entschieden, im Schätzwege unter Berücksichtigung von zwei Ziffern nach dem Komma zu ermitteln.

Das FG Münster meinte, auch bei Verwendung eines in unionsrechtskonformer Weise den Umsatzschlüssel verdrängenden Aufteilungsschlüssels der wirtschaftlichen Zurechnung, im Streitfall bei Anwendung des Margenschlüssels, erscheine es fraglich, ob nicht trotzdem möglicherweise die Rundungsvorschrift des Art. 175 Abs. 1 der MwStSystRL zu Gunsten des Steuerpflichtigen anzuwenden ist. Auch wollte das FG nicht ausschließen, dass die Anwendung der Rundungsregel des Art. 175 Abs. 1 der MwStSystRL jedenfalls für den Fall, dass die zu korrigierenden Vorsteuerbeträge nach Methoden ermittelt wurden, bei denen die Mitgliedstaaten die Rundungsregel des Art. 175 der MwStSystRL anwenden müssen, auf die Vorsteuerkorrektur nach den Vorschriften der Art. 184 bis 192 der MwStSystRL stattzufinden hat. Die Regelung des Art. 175 Abs. 1 der MwStSystRL könne es nahelegen, dass nur dann eine Aufrundung auf einen vollen Prozentsatz zu Gunsten des Steuerpflichtigen durchzuführen ist, wenn die Vorsteuer zu seinen Gunsten zu korrigieren ist.

Der EuGH musste entscheiden, ob die Rundungsregelung nach Art. 175 Abs. 1 MwStSystRL für die in Art. 173 MwStSystRL geregelten verschiedenen Möglichkeiten des Vorsteuerabzugs generell oder nur bezogen auf den Pro-Rata-Satz nach Art. 173 Abs. 1 MwStSystRL zur Anwendung kommt. Der Wortlaut von Art. 175 Abs. 1 MwStSystRL ist insoweit nicht eindeutig. Dort heißt es lediglich, dass der Pro-Rata-Satz des Vorsteuerabzugs aufgerundet werden kann; nicht bestimmt ist, welcher Pro-Rata-Satz nach Art. 173 MwStSystRL gemeint ist.

Entscheidung

Der EuGH hat entschieden, dass Art. 175 Abs. 1 nicht dazu zwingt, die Rundungsregel anzuwenden, wenn ein Mitgliedstaat die Vorsteueraufteilung nach eine der besonderen Methoden gem. Art. 173 Abs. 2 MwStSystRL vornimmt. Andernfalls ergebe sich ein Widerspruch zu der Option für die Mitgliedstaaten, über die Möglichkeiten nach Art. 173 Abs. 2 zu präziseren Ergebnissen bei der Berechnung der Vorsteueraufteilung zu gelangen.

Zu der Frage, ob die Mitgliedstaaten nach Art. 184 ff. MwStSystRL die Rundungsregel des Art. 175 Abs. 1 MwStSystRL im Fall der Vorsteuerberichtigung anwenden, wenn der Pro-Rata-Satz nach einer der Methoden des Art. 173 Abs. 2 (bzw. Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 der 6. EG-RL) berechnet wird, hat der EuGH entschieden, dass die Anwendung der Rundungsregel nach Art. 175 Abs. 1 im Fall der Vorsteuerberichtigung nur dann zwingend anzuwenden ist, wenn sie bereits zur Berechnung des ursprünglichen Vorsteuerabzugsbetrags angewandt wurde.

Die Frage des FG, ob die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, eine Berichtigung des Vorsteuerabzugs nach den Art. 184 ff MwStSystRL unter Anwendung der Rundungsregel dergestalt durchzuführen, dass der zu berichtigende Vorsteuerbetrag zu Gunsten des Steuerpflichtigen auf einen vollen Prozentsatz auf- oder abgerundet wird, hat der EuGH nicht beantwortet. Insofern verweist er auf die deutsche Rechtslage, die eine Rundungsregel nicht kennt.

Praxishinweis

Im Prinzip hatte sich der EuGH schon früher zu dieser Thematik geäußert. Bei der Auslegung von Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 und Art. 19 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie war er zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Im Urteil v. 18.12.2008, C-488/07, Royal Bank of Scotland hatte der EuGH entschieden, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, die Rundungsregel des Art. 19 Abs. 1 der 6. EG-Richtlinie anzuwenden, wenn sie von den Berechnungsmethoden nach Art. 17 Abs. 5 Unterabs. 3 Buchst. a, b, c oder d der 6. EG-RL Gebrauch machen, sondern eigene Rundungsregeln aufstellen können, wobei sie die allgemeinen Grundsätze des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems zu beachten haben.

Deutschland wendet die Pro-Rata-Satz-Regelung für die Vorsteueraufteilung gem. Art. 173 Abs. 1 MwStSystRL nicht an. Nach Art. 173 Abs. MwStSystRL haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, von der Aufteilungsmethode des Art. 173 Abs. 1 MwStSystRL abzuweichen. Davon hat der deutsche Gesetzgeber in Ausschöpfung seines Ermessensspielraums nach Art. 173 Abs. 2 Buchst. c MwStSystRL in Form der Regelung des § 15 Abs. 4 Satz 1 und 2 UStG Gebrauch gemacht, wonach die nicht unmittelbar zum Vorsteuerabzug berechtigenden oder nicht berechtigenden Ausgangsumsätzen zuzuordnenden Vorsteuern nach dem Prinzip der „wirtschaftlichen Zuordnung" zu den einzelnen den Vorsteuerabzug tragenden oder ihn ausschließenden Umsatzgruppen im Wege sachgerechter Schätzung aufzuteilen sind. Eine Aufrundungsregelung wie in Art. 175 Abs. 1 MwStSystRL hat der deutsche Gesetzgeber dabei nicht vorgesehen.

Im Streitfall waren die Rundungen zugunsten der Klägerin im Ergebnis nach dem vorliegenden Urteil nicht gerechtfertigt und müssen von der Finanzverwaltung nicht akzeptiert werden.

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