EuGH zur Auslegung des Begriffs der wirtschaftlichen Tätigkeit in Art. 9 Abs. 2 MwStSystRL

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 02.06.2016, C-263/15, Lajvér Meliorációs Nonprofit Kft., Lajvér Csapadékvízrendezési Nonprofit Kft.

Praxisproblem

Unternehmer im Sinne des UStG ist jedes selbstständig tätige Wirtschaftsgebilde, das nachhaltig Leistungen gegen Entgelt ausführt oder die durch objektive Anhaltspunkte belegte Absicht hat, eine unternehmerische Tätigkeit gegen Entgelt und selbstständig auszuüben und erste Investitionsausgaben für diesen Zweck tätigt. Der Unternehmerbegriff ist damit insbesondere von dem Merkmal der nachhaltigen Tätigkeit geprägt.

Ob die Absicht zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen im Einzelfall vorhanden ist, ist nach der Rechtsprechung (vgl. z.B. EuGH, Urt. v. 26.09.1996, C-230/94, Enkler) unter Berücksichtigung aller Umstände zu treffen, die für den Einzelfall charakteristisch sind. Dazu gehört insbesondere die Art des betreffenden Gegenstands. Wird ein Gegenstand üblicherweise ausschließlich wirtschaftlich genutzt, so ist dies im Allgemeinen ein ausreichendes Indiz dafür, dass sein Eigentümer ihn für Zwecke wirtschaftlicher Tätigkeiten und folglich zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen nutzt. Kann ein Gegenstand dagegen seiner Art nach sowohl zu wirtschaftlichen als auch zu privaten Zwecken verwendet werden, sind alle Umstände seiner Nutzung zu prüfen, um festzustellen, ob er tatsächlich zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen verwendet wird. Im letztgenannten Fall kann der Vergleich zwischen den Umständen, unter denen der Betreffende den Gegenstand tatsächlich nutzt, und den Umständen, unter denen die entsprechende wirtschaftliche Tätigkeit gewöhnlich ausgeübt wird, eine der Methoden darstellen, mit denen geprüft werden kann, ob die betreffende Tätigkeit zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen ausgeübt wird.

Sachverhalt

Bei dem ungarischen Vorabentscheidungsersuchen ging es um die Frage der Auslegung des Begriffs der wirtschaftlichen Tätigkeit in Art. 9 Abs. 2 MwStSystRL in Bezug auf die Tätigkeit einer nicht gewinnorientierten Handelsgesellschaft.

Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens sind nicht gewinnorientierte Handelsgesellschaften. Eine Gesellschaft kann in dieser Form nach ungarischem Recht zur gemeinsamen Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ohne Gewinnerzielungsabsicht gegründet werden und darf dann einer gewerblichen wirtschaftlichen Tätigkeit nur ergänzend nachgehen. Die Klägerinnen wurden zu dem Zweck gegründet, auf Grundstücken, die im Eigentum ihrer Gesellschafter stehen, Landwirtschaftsbauten, nämlich ein Abwasserentsorgungssystem, einen Wassertank und einen Regenwasserbrunnen, unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel und EU-Subventionen zu errichten und diese anschließend gegen eine vergleichsweise geringe Gebühr zu betreiben. Sie verfügten über sämtliche behördlichen Genehmigungen sowie die Erlaubnis der Gesellschafter für die Durchführung der Investition, wobei die genannte Erlaubnis unter der Bedingung stand, dass die Durchführung der Arbeiten keine Änderungen des Eigentumsrechts an den Grundstücken zur Folge haben durfte (Investition in ein fremdes Grundstück).

Die Klägerinnen beauftragten einen Dritten mit der Vorbereitung und der Ausführung der Arbeiten. Diese Gesellschaft stellte für die erbrachten Arbeiten Rechnungen aus, in denen sie die Mehrwertsteuer auswies, für die die Klägerinnen ihr Recht auf Vorsteuerabzug ausüben wollten. Die Finanzverwaltung versagte den Klägerinnen jedoch das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung, dass die geplante Tätigkeit keine „wirtschaftliche Tätigkeit“ i.S.v. § 6 HU-UStG sei, und zwar weder in Bezug auf die Straßenabschnitte, die Teil des Straßennetzes seien und als solche von jedermann benutzt werden könnten, noch in Bezug auf die Abschnitte, die in privatem Eigentum stünden. Folglich seien die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens wegen dieser Tätigkeit nicht steuerpflichtig. Sie übten keine Tätigkeit aus, die als eine „Dienstleistung“ angesehen werden könne, und zwar weder zugunsten ihrer Gesellschafter noch zugunsten Dritter. Die gewöhnliche Bewirtschaftung von Landwirtschaftsbauten, d.h. die Sauberhaltung der Betonpiste und ihres Umfelds sowie die Instandhaltung eines ungehinderten Wasserabflusses, gehöre zum öffentlichen Straßenbau und stelle eine gesetzliche Verpflichtung dar, nicht aber eine Dienstleistung. Die geringfügigen Einnahmen, die die Klägerinnen im Rahmen der Bewirtschaftung der Landwirtschaftsbauten erzielen wollten, fielen nicht unter den Begriff der Gegenleistung nach dem HU-UStG.

Die Klägerinnen waren hingegen der Auffassung, Steuerpflichtiger zu sein und zum Vorsteuerabzug berechtigt zu sein. Für die Zwecke der in § 6 Abs. 1 HU-UStG definierten „wirtschaftlichen Tätigkeit“ genüge es, dauerhaft oder regelmäßig einer entgeltlichen Tätigkeit nachzugehen, die zum Erhalt einer Gegenleistung führe. Für die Annahme einer „wirtschaftlichen Tätigkeit“ sei die Erzielung eines Gewinns nicht erforderlich. Die Klägerinnen beriefen sich auf die EuGH-Rechtsprechung in der Rechtssache C-280/10 zum Anwendungsbereich des Begriffs der wirtschaftlichen Tätigkeit und der vorbereitenden Tätigkeiten.

Entscheidung

Der EuGH hat in Auslegung von Art. 9 MwStSystRL entschieden, dass die Bewirtschaftung von Gebäuden wie denen im Ausgangsverfahren durch eine nicht gewinnorientierte Handelsgesellschaft, die eine gewerbliche wirtschaftliche Tätigkeit nur ergänzend ausübt, eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt. Unerheblich ist, dass die Bauten in erheblichem Maße mit staatlichen Beihilfen finanziert wurden und ihre Bewirtschaftung lediglich Einnahmen aus einer geringfügigen Gebühr erbringt. Allerdings müssen diese Einnahmen aufgrund der vorgesehenen Dauer der Gebührenerhebung nachhaltig sein.

In Auslegung des Dienstleistungsbegriffs in Art. 24 MwStSystRL hat der EuGH entschieden, dass die Bewirtschaftung von Landwirtschaftsbauten wie denen im Ausgangsverfahren eine Dienstleistung gegen Entgelt darstellt, weil diese mit der erhaltenen oder zu erhaltenden Gebühr in einem unmittelbaren Zusammenhang steht, sofern diese geringfügige Gebühr den Gegenwert für die erbrachte Dienstleistung darstellt. Unerheblich ist, dass es sich bei diesen Leistungen um die Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung handelt.

Das Vorlagegericht muss jedoch prüfen, ob die Höhe der als Gegenleistung erhaltenen oder zu erhaltenden Gebühr auf das Vorliegen eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen den erbrachten oder zu erbringenden Dienstleistungen und der Gebühr und demzufolge auf die Entgeltlichkeit der Dienstleistungen schließen lässt. Insbesondere muss das Gericht erkennen können, dass die von den Klägerinnen vorgesehene Gebühr die Dienstleistungen nicht nur teilweise vergütet und dass die Höhe der Gebühr nicht nach anderen Kriterien bestimmt wurde, die den unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Dienstleistungen und deren Gegenleistung ggf. in Frage stellen können.

Praxishinweis

Der EuGH hat im vorliegenden Fall die Unternehmereigenschaft und folglich die Berechtigung zum Vorsteuerabzug erwartungsgemäß grundsätzlich bejaht. Die relativ weite Definition des Steuerpflichtigen in der MwStSystRL geht auf die Besonderheiten der Mehrwertsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer zurück. Die Begriffsbestimmung bezieht sich auf jede Person, die irgendeine selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Der EuGH hat diesen Begriff bisher weit ausgelegt. In seiner Rechtsprechung hat er wiederholt festgestellt, dass es sich bei dem Begriff „wirtschaftliche Tätigkeit“ um einen objektiv festgelegten Begriff handelt und dass die Tätigkeit als solche, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, zu betrachten ist. Für die Zwecke der Steuerbarkeit muss die „wirtschaftliche Tätigkeit“ nicht notwendig auf die Erzielung eines Gewinns gerichtet sein. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass nach der MwStSystRL auch Einrichtungen ohne Gewinnstreben zu den Steuerpflichtigen zählen. Geht man von dem Ausdruck „unabhängig von ihrem […] Zweck und Ergebnis“ in Art. 9 Abs. 1 MwStSystRL aus, wird deutlich, dass der Erwerbszweck keine Voraussetzung für die Steuerpflicht ist. Eine bestimmte wirtschaftliche Tätigkeit verliert diesen Charakter nicht, nur weil das Unternehmen, das sie ausübt, keine Gewinne erzielt oder dies nicht einmal beabsichtigt, weil es einer gemeinnützigen Tätigkeit nachgeht. Es ist im Ausgangsfall auch unerheblich, dass die Klägerinnen den größten Teil der Investitionen durch staatliche Beihilfen finanzierten.

Entscheidend für den EuGH war offensichtlich, dass die Bewirtschaftung der Bauten ausgeführt wurde, um damit Einnahmen zu erzielen (der Begriff der Einnahmen nach Art. 9 MwStSystRL ist nach dem Urteil im Sinne eines als Gegenleistung für die ausgeübte Tätigkeit erhaltenen Entgelts zu verstehen).

Das Urteil bestätigt die deutsche Rechtslage. Bereits mit Urteil v. 18.12.2008 (BFH, Urt. v. 12.12.2008, V R 80/07, BStBl. II 2011, 292) hatte der BFH in dem Fall eines in ein Einfamilienhaus eingebauten Blockheizkraftwerks, mit dem neben Wärme auch Strom erzeugt wird, der ganz oder teilweise, regelmäßig und nicht nur gelegentlich gegen Entgelt in das allgemeine Stromnetz eingespeist wird, entschieden, dass das Blockheizkraftwerk der nachhaltigen Erzielung von Einnahmen aus der Stromerzeugung dient. Eine solche Tätigkeit begründet nach der BFH-Rechtsprechung – unabhängig von der Höhe der erzielten Einnahmen – die Unternehmereigenschaft des Betreibers, auch wenn dieser daneben nicht anderweitig unternehmerisch tätig ist. Die Finanzverwaltung folgt dieser BFH-Rechtsprechung auch für PV-Anlagen (vgl. Abschn. 2.5 Abs. 1 UStAE).

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