EuGH zur Entstehung der Zollschuld und der Einfuhrumsatzsteuer in Bezug auf wiederausgeführte Nichtgemeinschaftsware bei Pflichtverletzungen im Zollverfahren

Anmerkung zu: EuGH, Urt. v. 02.06.2016, verb. Rs. C-226/14 und C-228/14, Eurogate Distribution GmbH, DHL Hub Leipzig GmbH

Praxisproblem

Das FG Hamburg hatte mit Beschlüssen v. 18.02.2014 zwei Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet, in denen streitig war, ob Einfuhrumsatzsteuer in Bezug auf wiederausgeführte Nichtgemeinschaftsware entstehen kann, wenn im Rahmen der betreffenden Zollverfahren Pflichtverletzungen begangen werden, die zur Entstehung einer Zollschuld führen.

Sachverhalt

In der Sache C-226/14 ging es um die Frage, ob nach der 6. EG-Richtlinie Einfuhrumsatzsteuer für Gegenstände erhoben werden kann, die als Nichtgemeinschaftsware wiederausgeführt worden sind, für die jedoch wegen einer Pflichtverletzung nach Art. 204 ZK – hier: nicht rechtzeitige Erfüllung der Pflicht, die Entnahme der Ware aus einem Zolllager spätestens zum Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Entnahme in den dafür vorgesehenen Bestandsaufzeichnungen anzuschreiben – eine Zollschuld entstanden ist (zur Zollschuld in derselben Sache vgl. EuGH, Urt. v. 06.09.2012, C-28/11). Weiter wollte das FG Hamburg wissen, ob ein Zolllagerhalter, der einen Gegenstand aus einem Drittstaat aufgrund eines Dienstleistungsverhältnisses in sein Zolllager einlagert, ohne über diesen verfügen zu können, Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer wird, die infolge seiner Pflichtverletzung gem. Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2 der 6. EG-Richtlinie i.V.m. Art. 204 Abs. 1 ZK entstanden ist, auch wenn der Gegenstand nicht i.S.v. Art. 17 Abs. 2 Buchst a der 6. EG-Richtlinie für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet wird.

In dem Verfahren C-228/14 war fraglich, ob Einfuhrumsatzsteuer für Gegenstände, die als Nichtgemeinschaftsware unter zollamtlicher Überwachung wiederausgeführt worden sind, für die jedoch wegen einer Pflichtverletzung nach Art. 204 ZK – hier: Unterlassen der fristgerechten Erledigung des externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens durch Gestellung bei der zuständigen Zollstelle vor der Verbringung ins Drittland – eine Zollschuld entstanden ist, als i.S.v. Art. 236 Abs. 1 ZK i.V.m. der 6. EG-Richtlinie nicht als gesetzlich geschuldet gilt, jedenfalls wenn als Schuldner derjenige in Anspruch genommen wird, dem die verletzte Pflicht oblag, ohne dass er über die Gegenstände verfügungsberechtigt war.

Die Fragen schienen bereits durch das EuGH-Urteil v. 05.06.2014, C-480/12 beantwortet zu sein. Danach ist Art. 7 Abs. 3 Unterabs. 1 der 6. EG-Richtlinie dahin auszulegen, dass Mehrwertsteuer geschuldet wird, wenn die betreffenden Waren nicht mehr den in diesem Artikel genannten Regelungen unterliegen, und zwar auch dann, wenn eine Zollschuld ausschließlich auf der Grundlage von Art. 204 ZK entstanden ist.

Fraglich auch nach Ergehen dieses EuGH-Urteils konnte aber sein, ob eine Ware den in Art. 7 Abs. 3 Unterabs. 1 der 6. EG-Richtlinie genannten Regelungen bereits bzw. auch dann nicht mehr unterliegt und damit als im Sinne des Mehrwertsteuerrechts eingeführt anzusehen ist, wenn eine Zollschuld nach Art. 204 ZK entstanden ist. Das Normengefüge der 6. EG-Richtlinie könnte auch in der Weise zu verstehen sein, dass eine Ware so lange nicht Gegenstand einer Einfuhr i.S.d. Art. 2 Nr. 2 der 6. EG-Richtlinie sein kann, wie diese Ware einem Zollverfahren unter vollständiger Befreiung von Einfuhrabgaben unterliegt. Auch könnte davon auszugehen sein, dass eine Ware, die – wie in den Ausgangsverfahren – nicht der zollamtlichen Überwachung entzogen worden ist, auch dann noch diesem Zollverfahren unterliegen kann, wenn zwischenzeitlich eine Zollschuld nach Art. 204 ZK wegen Nichtbeachtung einer der Pflichten dieses Zollverfahrens entstanden ist.

Auch der Generalanwalt Jääskinen hatte in seinem Schlussantrag vom 13.02.2014 in der Rs. C-480/12 hervorgehoben, dass die dortige Ware trotz des Entstehens einer Zollschuld nach Art. 204 ZK noch dem Verfahren des externen Versandverfahrens und dem Verfahren der aktiven Veredelung nach Art. 7 Abs. 3 Unterabs. 1 und Art. 16 Abs. 1 Teil B Buchst. c der 6. EG-Richtlinie weiterhin unterlag und deshalb nicht als i.S.d. Art. 2 Nr. 2 der 6. EG-Richtlinie eingeführt zu betrachten sei (vgl. Rz. 66 der Schlussanträge).

Entscheidung

Der EuGH hat entschieden, dass nach Art. 7 Abs. 3 der 6. EG-Richtlinie für Waren, die als Nichtgemeinschaftswaren wieder ausgeführt werden und den in dieser Vorschrift genannten Zollverfahren zum Zeitpunkt ihrer Wiederausfuhr noch unterliegen, ihnen danach aber wegen der Wiederausfuhr nicht mehr unterliegen, keine Einfuhrumsatzsteuer geschuldet wird, und zwar auch dann nicht, wenn eine Zollschuld ausschließlich auf der Grundlage von Art. 204 ZK entstanden ist.

Weiter hat der EuGH entschieden, dass es nach Art. 236 Abs. 1 des Zollkodex i.V.m. der MwStSystRL in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens keinen EUSt-Schuldner gibt, da für Waren, die als Nichtgemeinschaftswaren wieder ausgeführt werden, keine Mehrwertsteuer geschuldet wird, sofern sie noch den in Art. 61 MwStSystRL vorgesehenen Zollverfahren unterliegen, und zwar auch dann, wenn eine Zollschuld ausschließlich auf der Grundlage von Art. 204 ZK entstanden ist. Art. 236 ZK (Erstattung/Erlass von Einfuhr- und Ausfuhrabgaben) ist dahin auszulegen, dass er in Fällen, die die Erstattung lediglich der Einfuhrumsatzsteuer betreffen, nicht zur Anwendung kommen kann.

Praxishinweis

Nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl. EuGH, Urt. v. 06.09.2012, C-28/11, Eurogate Distribution) führt bei Nichtgemeinschaftswaren die Nichterfüllung der Pflicht, die Entnahme der Ware aus dem Zolllager spätestens zum Zeitpunkt ihrer Entnahme in den dafür vorgesehenen Bestandsaufzeichnungen anzuschreiben, auch dann zur Entstehung einer Zollschuld für diese Ware gem. Art. 204 Abs. 1 Buchst. a ZK, wenn sie wieder ausgeführt wurden. Im Ausgangsfall unterlagen die Waren bis zu ihrer Wiederausfuhr dem Zolllagerverfahren und es bestand aufgrund ununterbrochener zollamtlicher Überwachung unstreitig keine Gefahr, dass sie in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangten.

Zwar kann neben der Zollschuld eine Mehrwertsteuerpflicht bestehen, wenn aufgrund des Fehlverhaltens, das zur Entstehung der Zollschuld führte, angenommen werden kann, dass die fraglichen Waren in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt sind und damit einem Verbrauch, d.h. dem mit Mehrwertsteuer belasteten Vorgang, zugeführt werden konnten. Da die Waren im Ausgangsverfahren aber dem Zolllagerverfahren zum Zeitpunkt ihrer Wiederausfuhr nach wie vor unterlagen, kann bei ihnen, obwohl sie sich physisch im Gebiet der Union befanden, nicht von einer „Einfuhr“ i.S.v. Art. 2 Nr. 2 der 6. EG-Richtlinie Richtlinie ausgegangen werden. Insbesondere soll die Regelung des Art. 866 ZK-DVO mit der Fiktion des Statuswechsels zur Gemeinschaftsware hier nicht zur Anwendung kommen, da diese für wiederausgeführte Waren nicht anwendbar sei.

In der Sache C-228/14 unterlag die Drittlandsware dem externen Versandverfahren, bevor sie wieder aus dem Zollgebiet ausgeführt wurde. Demnach unterlagen diese Waren vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die Union an einem der in Art. 61 Abs. 1 MwStSystRL genannten Verfahren. Da die Drittlandsware aber auch noch zum Zeitpunkt ihrer Wiederausfuhr dem externen versandverfahren unterlag, konnte bei ihr nach dem vorliegenden Urteil, obwohl sie sich physisch im Gebiet der Union befand, ebenfalls nicht von einer „Einfuhr“ i.S.v. Art. 2 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL ausgegangen werden. Da somit keine Einfuhrumsatzsteuer entstehen konnte, stellte sich die Frage nach dem Steuerschuldner nicht.

Außerdem hatte der EuGH bereits entschieden, dass nach Art. 4 Nr. 10 ZK der Begriff „Einfuhrabgaben“ nicht die Einfuhrumsatzsteuer umfasst (vgl. EuGH, Urt. v. 29.07.2010, C-248/09, Pakora Pluss). Folglich könne Art. 236 Abs. 1 ZK, der vorsieht, dass Einfuhrabgaben insoweit erstattet werden, als nachgewiesen wird, dass ihr Betrag im Zeitpunkt der Zahlung nicht gesetzlich geschuldet war, die Erstattung der Einfuhrumsatzsteuer nicht mit einschließen.

Das vorliegende Urteil liegt auf der Linie der bisherigen EuGH-Rechtsprechung. Bereits mit Urteil v. 08.11.2012, C-165/11, Profitube hatte der EuGH entschieden, dass in den Fällen, in denen Drittlandswaren zunächst in das Zolllagerverfahren in einem Mitgliedstaat, dann in das Verfahren der aktiven Veredelung übergeführt und anschließend verkauft werden, bevor sie in demselben Mitgliedstaat wieder in das Zolllagerverfahren übergeführt wurden, die Waren vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die Gemeinschaft an den beiden Regelungen nach Art. 16 Abs. 1 Teil B Buchst. c der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 156 Abs. 1 Buchst. c und d MwStSystRL) unterliegen. Somit lag, obwohl die Waren physisch in die Union gelangten, keine Einfuhr vor. Der Umstand, dass die Waren die Zollverfahren gewechselt hatten, lässt sie nicht zu eingeführten Waren werden, denn beide Zollverfahren werden von Art. 7 Abs. 3 (jetzt Art. 61 MwStSystRL) der 6. EG-Richtlinie erfasst. Somit war eine steuerbare Einfuhr i.S.v. Art. 2 Nr. 2 der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 2 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL) nicht anzunehmen.

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